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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

vollkommen verdeckte. Sie flüsterte dem Kinde einige Worte zu und führte es dem Herrn des Schillingshofes um einen Schritt entgegen.

„Mein Papa läßt Dich grüßen, Onkel Arnold; er hat mir das immerfort gesagt, ehe er zum Großpapa in den Himmel gegangen ist,“ sagte der Knabe im reinsten Deutsch.

In tiefer Bewegung hob ihn Baron Schilling empor und küßte ihn wiederholt. Der Kleine, den er mit leidenschaftlicher Innigkeit an seine breite Brust drückte, glich auffallend dem blondlockigen Knaben im blauen Sammetröckchen, dem hartbehandelten armen „Colibri“, dem das rauhe Falkennest drüben nie zur Heimath geworden war – seinem Kinde sollte es besser werden....

„Du bist nun mein Junge, mein kleiner, braver José,“ sagte er.

„Ach ja, ich bitte sehr darum, cher Baron, nehmen Sie sich seiner an!“ rief Lucile. „Ich kann ihn nicht erziehen – unmöglich! Ich bin noch viel zu jung – eine so kleine, kindische Mama, wie Felix immer sagte.... Wir stehen wie Bruder und Schwester zusammen José und ich; er lacht mich geradezu aus, wenn ich einmal vernünftig sein will – bah, den Jahren nach könnten wir ja auch ganz gut Geschwister sein.... Da sehen Sie her! Paula paßt besser zu ihrem Mamachen – gelt, mein süßes Baby?“ Mit schmeichelnder Hand fuhr sie über die blonden Locken des kleinen Mädchens. „Das ist mein Abgott, müssen Sie wissen; sie soll mir Zug für Zug gleichen – finden Sie das nicht auch, Baron?“

Er antwortete nicht. Den Knaben neben sich auf den Boden stellend, trat er rasch zur Seite. Die schwarzgekleidete Dame hatte sich bis dahin vollkommen passiv verhalten, nun aber winkte sie, daß man den metallbeschlagenen Koffer, der erst jetzt aus der Säulenhalle hereingetragen wurde, zu ihren Füßen niedersetzen möchte – es war die heroische, kurzbefehlende Handbewegung einer echten Plantagenfürstin, die gewohnt ist, ein Heer von Sclaven zu commandiren. Vor dieser Geberde wich der Herr des Schillingshofes unwillkürlich zurück.

Lucile sah das und lächelte boshaft. Erst jetzt bequemte sie sich zu einigen vorstellenden Worten; fast zugleich kam auch Mamsell Birkner vom äußersten Ende des Corridors her. Durch offene Thüren hatte man das eilige Zurückschlagen der Fensterladen und das Zurechtrücken von Möbeln gehört – die Reisenden waren ja früher eingetroffen, als man erwartet – und nun meldete die Wirthschaftsmamsell, daß Alles bereit sei.

„Gottlob, daß wir unter Dach sind!“ rief Lucile und machte eine Geberde wie ein kleiner, matter Vogel, der von einem versagenden Beinchen auf das andere trippelt. „Ich bin todtmüde. Ah, ich lechze buchstäblich darnach, mich auszustrecken. Gehen wir, Mercedes!“

Mercedes bewegte sich nicht von der Stelle. „Ist die Dame des Hauses krank?“ fragte sie und richtete zum ersten Mal den Blick voll auf das Gesicht des Hausherrn.

Er kämpfte mit einer sichtlichen Verlegenheit. „Meine Frau ist augenblicklich in Rom,“ versetzte er zögernd.

Lucile lachte laut auf. „Ach, was Sie sagen! Gerade jetzt? Ja, ja, das ließ sich denken – sie ist immer so apart, Ihre Frau, cher Baron!“

Mercedes schwieg. Sie knöpfte den Handschuh an der Linken zu, zog den schützenden weißen Tüllstreifen wieder über das zarte Gesicht der kleinen Paula und ergriff José’s Hand.

„Wollen Sie die Güte haben, uns das nächste Hôtel zu bezeichnen, Herr Baron?“ fragte sie kalt höflich, aber aus ihren Augen flammte tiefverletzter, unbändiger Stolz. Schwebenden Schrittes, den Blick auf den Ausgang der Flurhalle richtend, wollte sie unverzüglich an ihm vorübergehen, aber er hob, als wolle er sie zurückhalten, unwillkürlich die Hand.

„In jeder anderen Lage würden Sie vollkommen Recht haben, die Gastfreundschaft eines Hauses zurückzuweisen, das keine Herrin hat,“ sagte er ernst und bestimmt in gedämpftem Tone. „Aber bedenken Sie wohl, gnädige Frau, daß Sie nicht als Besuch, sondern in einer Mission kommen, zu deren Ausführung gerade dieses Terrain unumgänglich nöthig ist.... Mein armer Freund hat sicher nicht gedacht, daß sein heißester Wunsch durch ein solches Bedenken in die Gefahr gebracht werden würde, zu scheitern.“ Diese letzte Bemerkung klang scharf. „Ich weiß nicht, wie lange meine Frau ausbleiben wird,“ setzte er hinzu; „aber bis zu ihrer Zurückkunft werden Sie, mit Ausnahme der nöthigen Dienerschaft, die einzigen Bewohner des Schillingshofes sein – ich selbst wohne weit drüben im Garten in meinem Atelier.“

Schon bei dem Hinweis auf ihre Mission hatte sich die Dame mit einem sprechenden Blicke auf die Kinder zurückgewendet, und nun neigte sie kurz entschlossen und zustimmend den Kopf.

Baron Schilling schritt voraus, und Lucile hing sich an seinen Arm; die Anderen folgten – auch die Kammerjungfer Minna, die den Inhalt des zertrümmerten Koffers in ihren Reisemantel zusammengerafft hatte – während Mamsell Birkner nach dem Souterrain eilte, um Erfrischungen zu beschaffen.

Draußen fuhr der Wagen fort, der die Reisenden gebracht hatte. Die Leute des Hauses – es war keiner mehr von denen dabei, die vor acht Jahren im Schillingshofe gedient hatten – standen in der Säulenhalle und blinzelten den im Corridor Verschwindenden nach.

„Der Kammerjungfer ist’s auch nicht eingefallen, den Wagen zu bezahlen; ich hab den Thaler aus meiner Tasche geben müssen – ob ich ihn wiederkriege?“ zischelte achselzuckend der Bediente. „Na, ich schreib’ ihn unserer Gnädigen in die Auslagen – die wird schöne Augen machen. Am letzten Abend vor ihrer Abreise hab’ ich’s beim Serviren mit meinen eigenen Ohren gehört, wie sie zu Fräulein von Riedt sagte, es seien spanisch-amerikanische Bettelleute. Und sie kann Recht haben. Was wird denn in dem Kofferwerk sein? Kleiderfähnchen, weiter nichts, und in dem dort“ – er zeigte auf den metallbeschlagenen Koffer – „sind Bücher und ein Bischen Wäsche; man hat das so im Griff. Unser Herr hätte die Leute in Paris kennen gelernt, sagt die Birkner; es kann sein – ich war nicht mit auf der letzten Reise. Aber die Gnädige ist toll und böse über die Einladung, das sieht ein Blinder. Hurrjeh, sechs Stück!“ zählte er an den Fingern her. „Die wollen essen und trinken. Und die Gnädige rechnet scharf – sie bekümmert sich um jeden Pfennig, der in der Küche zuviel aufgeht, und läßt keine angebrochene Flasche Wein aus den Augen. Paßt nur auf, die Gesellschaft, mit sammt ihrem Mohrenscheusal, werden wir nicht wieder los – das giebt noch einen Mordspectakel zwischen der Herrschaft.“




14.

Inzwischen hatte Baron Schilling die Angekommenen durch den Corridor geführt. Die Flügelthür am äußersten Ende stand zum Empfang weit offen; man konnte das ehemalige Familienzimmer mit seinen mächtigen Deckenbalken und holzgeschnitzten Wänden vollkommen übersehen. Es zeigte noch genau die Ausstattung wie vor acht Jahren; nur das reiche Silbergeschirr auf den Credenztischen fehlte; es war durch altes chinesisches Porcellan ersetzt worden. Hannchen schien eben noch einmal Musterung zu halten – sie stand mit dem Staubtuch neben einem der Tische.

Mit einem Blick überflog Lucile das Zimmer und fuhr zurück.

„Aber ich bitte Sie, Baron,“ rief sie ganz entsetzt und indignirt, „Sie werden uns doch nicht in den gräßlichen Salon stecken, wo es Nachts ‚trab, trab’ hinter den Wänden geht? Wissen Sie noch, wie Ihre Frau damals aufschrie? Puh, was für ein finsteres Gesicht Sie machen – man könnte erschrecken. Kann ich’s denn ändern, daß ein dummer Kindskopf solche entsetzliche Dinge niemals vergißt? Da, da ist die Stelle“ – sie zeigte nach der Wand, wo die Ruhebank mit den grünseidenen Polstern stand – „da hat es gestanden und Ihrer Frau eiskalt in das Genick gehaucht.“

„Lucile, sei kein Kind – denke an José!“ unterbrach Mercedes die Schilderung. Ihr volles Organ, das den deutschen Lauten einen fremdartigen Zauber verlieh, hatte in diesem Augenblick eine hörbare Beimischung lebhaften Verdrusses. Sie ergriff die kleine Frau sehr energisch bei der Hand und führte sie über die Schwelle.

Das wurde aber sehr übel vermerkt. Lucile lief wohl in das Zimmer hinein, aber sie riß in der That wie ein recht unartiges, verzogenes kleines Mädchen ihre Hand los.

„Ach was, ich will doch tausendmal lieber kindisch sein, als die weise Großmutter spielen“ rief sie mit hoch hinaufgeschraubter Kinderstimme. „Bah, warum soll denn José nicht wissen, daß es hier spukt? Lächerlich! Frage doch Deine Deborah!“ – sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_378.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)