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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

doch vom höchsten Würdenträger seiner Kirche in Amerika für das Leben angetraut war.

Elisabeth Patterson-Bonaparte begriff endlich ihr Geschick. Was ihr Herz dabei gelitten, hat die Welt nie erfahren. Wahrhaft königlich, obschon ihr Haupt nie die Krone, die ihr zukam, geschmückt hat, groß und stolz ertrug sie es; denn ihre Natur war königlich beanlagt, und für die Gemeinheit, die man ihr angethan, hatte sie nur Verachtung. Sie wandte sich für immer ab von dem großen Hause mit seiner gewissenlosen, erbärmlichen Staatsklugheit, die über Verbrechen zu ihrem Ziele schritt, und nie mehr hörte ihr Gatte oder irgend eines der anderen Glieder desselben wieder direct von ihr. Wohl vertrat sie später noch die Ansprüche und Rechte ihres Sohnes in französischen Gerichtshöfen, weil sie das für Mutterpflicht hielt, aber unnahbar und schroff wies sie jeden Compromiß, jede Entschädigung von sich, welche die Napoleoniden ihr selbst später zu verschiedenen Zeiten anboten. Ja, von der Stunde an, als ihr Sohn von seinem Vater ein bedeutendes Jahrgeld acceptirte, entfremdete das ihm selbst die stolze Mutter. Nicht Geld wollte sie – sie wollte ihr Recht; sie wollte ihren Sohn anerkannt und die kirchlich ungültige spätere Ehe Jerôme’s mit der Prinzessin Katharina von Württemberg auch staatlich annullirt sehen. Denn der Papst hatte sich trotz Napoleon’s Befehl nie dazu verstanden, Jerôme’s Verbindung mit der Amerikanerin aufzulösen.

Und so verließ denn die Verstoßene mit ihrem Ismael damals die Gestade Europas und kehrte nach Amerika heim, noch jung, noch schön und genußfähig, und doch verschmäht, vereinsamt und zukunftsarm. Für sie war das Leben fortan eine Wüste, und ihre Pilgerfahrt sollte, ohne Lebensfreudigkeit, ohne versöhnende Momente, noch über siebenzig Jahre währen – eine grausame Buße für die Sünde, kurze Monden einen Unwürdigen geliebt zu haben.

Die nächsten zwanzig Jahre widmete sie ganz der Erziehung ihres Sohnes, der – eine Schicksalsironie! – die frappanteste Aehnlichkeit mit seinem großen Ohm besaß, das heißt wohl nur äußerlich. Den Studien ergeben, lebte er, nachdem er Jurisprudenz studirt, nur der Verwaltung seiner Güter und theilte nicht die ehrgeizigen Pläne, welche noch immer und bis zum Ende das unruhige Hirn der Mutter füllten. Er starb 1872 am Halskrebs und hinterließ zwei Söhne, von denen der ältere in französische Kriegsdienste trat, während der jüngere Jurist in Baltimore ist.

Frau Elisabeth lebte still und zurückgezogen und so äußerst einfach, daß man sie hätte für arm halten können, wenn man nicht gewußt hätte, daß sie enorm reich sei. Anfangs nur wohlhabend durch Erbschaft, dankte sie es später der eigenen meisterhaften Verwerthung ihres Capitals, daß sie reich und immer reicher wurde. Niemand bewies mehr Scharfblick, pecuniäre Vortheile zu erzielen und sich billigen Grundbesitz anzueignen, der oft schon nach kurzer Zeit zum zehnfachen Werthe stieg, als sie. Allein sie widmete auch dieser Bereicherung ihre ganze Zeit – sie verwaltete ohne Agenten das ungeheure Vermögen. Ihr Finanzgenie wurde sprüchwörtlich. Man sagt, das Geld selbst sei ihr gleichgültig gewesen; sie habe stets nur geknausert und geschachert, um bereit zu sein, wenn das Schicksal endlich ihr die Revanche an den Napoleoniden biete, die sie fest erwartete, mit Glanz und Macht handeln zu können. So klug, so scharfsichtig diese Frau auch war, sie glaubte unumstößlich, daß ihrer Enkelsöhne einer berufen sei, sie zu rächen. „Denn,“ pflegte sie zu sagen, „Frankreich vergißt es nie, daß es dem ersten Kaiserreich seine größte ‚Gloire’ verdankt, und es strebt darum immer wieder nach der Herrschaft der Napoleoniden. Der europäische Zweig der Familie aber ist unmöglich geworden, und naturgemäß ist es denen, die eine republikanische Erziehung genossen haben, vorbehalten, die verschiedenen politischen Fractionen wieder unter ihrem Regime zu vereinen.“ Und geradezu zur Fatalistin machte sie der feste Glaube, daß sie selbst dies noch erleben würde. Uebrigens war sie, abgesehen von dieser Marotte, bis zu ihren letzten Tagen von einer Geistesfrische, einer Schärfe und Feinheit des Urtheils, daß Niemand, der sie kannte, es sonderbar fand, als die Gräfin vor einigen Jahren noch begann, ihre Memoiren zu schreiben und für den Druck vorzubereiten.

Mit vieler Spannung erwartete man deren Veröffentlichung. Allein der erste Band hielt keineswegs, was man sich von ihm versprochen. Wohl war er lesbar geschrieben, selbst hier und da sehr pikant, und enthielt scharfe Federzeichnungen über Menschen und Dinge, aber von der außergewöhnlichen Frau mit ihrer reichen Jugenderfahrung erwartete man eben mehr, als diese mit äußerster Vorsicht verfaßten Alltäglichkeiten. Indeß versöhnte sie den Leser zum Schluß, indem sie versprach, die eigentliche Geschichte ihrer Ehe, die Berichte aus dem geheimen Leben des Hauses Bonaparte und amtliche Mittheilungen verschiedener Art, sie zur gütlichen Beilegung ihrer Ansprüche zu bewegen etc. nach ihrem Tode folgen lassen zu wollen, da allerlei Rücksichten der „Lebenden“ Stillschweigen darüber geböten.

Ob sie ihr Versprechen gehalten, wird bald die Zukunft lehren.

Frau Patterson-Bonaparte hatte von der Schönheit ihrer Jugend nichts im späten Alter bewahrt, als die ewig unruhigen, geheimnißvoll lebendigen Augen, dunkel wie die Nacht. Ihre ganze Erscheinung sonst war wie ein unentwirrbarer Knäuel von Runzeln, Pergament und Knochen. Aus der weiland berühmten „Schönheit“ war das Urbild einer alten Hexe geworden. Mumienhaft zusammengeschrumpft, trug sie in geradezu abstoßendem Widerspruch mit den welken, lederfarbenen eingefallenen Zügen eine pechschwarze Perrücke, die noch immer das historische Topasenstirnband festhielt. Ihre Toilette war ebenfalls so unvortheilhaft wie möglich. Ein kurzer, kaum bis zu den Knöcheln reichender dunkler Rock und darüber eine alte graue Tuchjacke, die sie permanent gegen das Frösteln des Alters schützen sollte, bildeten ihre ewig unveränderte Kleidung im Hause. Die gelbe alte Spitze von Mecheln, welche ihren Hals umgab, zierte sie trotz der Echtheit ihres Gewebes nicht, denn sie war stets zerknittert und oft zerrissen; so erschien sie im Alter nur wie eine häßliche Carricatur ihrer Jugend.

Dazu war der Ausdruck ihres Gesichts nichts weniger als liebenswürdig. Sie war durch ihr Geschick verbittert und scharf geworden. Sanfte Weiblichkeit war nie ihr Theil gewesen. Schon als Kind hatte sie sich eigensinnig und störrisch gezeigt, und die Zeit der Triumphe ihrer Schönheit hatte sie nur noch verwöhnter und selbstwilliger, nicht aber demüthiger und gefügiger gemacht, wie das z. B. aus dem Testamente ihres eigenen Vaters, welches vor einigen Jahren veröffentlicht wurde, hervorgeht. Er hinterließ ihr bedeutend weniger als seinen anderen Kindern und begründete das in folgendem Satz: „Meiner Tochter Betsy, die mir stets durch ihren Eigenwillen und Trotz viel Kummer gemacht hat, vermache ich etc. etc.“

Unparteiisch beurtheilt war das zwar eine große Ungerechtigkeit von dem alten Patterson, denn gerade von ihm soll seine Tochter den Eigensinn geerbt haben. Man erzählt sich allerlei Unerhörtes über seinen Trotzkopf, von dem wir Folgendes unter Anderem verbürgen können: Seine Frau bat ihn einst unaufhörlich, ihr doch nach der Mode der damaligen Zeit eine Staatscarosse aus England kommen zu lassen. Lange widerstand er ihr, gab aber doch zuletzt nach, freilich mit diabolischem Lächeln. Nachdem endlich der heißersehnte Wagen eingetroffen war, blieb er ganz unbenützt bis nach seinem Tode in der Remise stehen, „da er ihr wohl die Kutsche, nicht aber die Pferde versprochen habe.“

Elisabeth Patterson war ein Charakter. Was sie unter anderen, günstigeren Lebensbedingungen geworden wäre, z. B. wenn Napoleon sie anerkannt hätte, unterliegt bei denen, die sie näher kannten keinem Zweifel. Napoleon würde sicher den Werth dieser starken, energischen Natur erkannt haben, wenn er Elisabeth nur einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen hätte – allein seine eiserne Zähigkeit im Festhalten des „Einmalbeschlossenen“, dieser größte und gewaltigste Factor seines Erfolges, verweigerte das energisch und besiegelte damit ein Menschenschicksal, welches sich einsam und unbefriedigt vollendete, ohne seine volle Wirksamkeit erprobt und erschöpft zu haben.

Frau Elisabeth Patterson war seit einigen Wochen unwohl und leidend, allein ihre wahrhaft erstaunliche Lebenskraft ließ zuerst weder Andere an eine Gefahr denken, noch glaubte sie selbst ernsthaft an die Nähe ihres Lebensendes. Trotzdem ließ sie unlängst ihren Enkel, den Obersten Jerôme Bonaparte, telegraphisch auffordern an ihr Krankenbett zu eilen. Er schiffte sich sofort von Havre ein und erreichte in möglichst kurzer Zeit Baltimore. Frau Bonaparte’s Zustand hatte sich mittlerweile verschlimmert, und obschon kein acutes Leiden sie quälte – denn der Anfall von Bronchitis, welcher sie vor kurzer Zeit heimgesucht, war längst gehoben, so hatte doch eine bis zur Lethargie sie überwältigende Schwäche derart Besitz von ihr genommen, daß selbst die Ankunft ihres Lieblingsenkels sie nicht mehr aufzurütteln vermochte. Die Aerzte sahen endlich ein, daß die eminente Lebenskraft dieser Frau doch nahezu erschöpft sei, und sie selbst, die im Anfang ihrer Krankheit noch fest geglaubt, daß dieselbe vorübergehend sein und sie sicher das hundertste Jahr erleben würde, begann jetzt von ihrem herannahenden Ende zu reden. Zuletzt verfiel sie jedoch in einen Zustand, der weder Leben noch Sterben genannt werden konnte – es war, als kämpfe die wunderbare Lebenskraft dieser zähen Natur mit dem Tode durch jeden Athemzug. Langsam verließ der ruhelose Geist den müden Körper nach langem Ringen.

So lange die Geschichte über Napoleon den Ersten und seine Thaten richten wird, wird sie jenes dunkle Unrecht verurtheilen, das er an Elisabeth Patterson verübt hat, und jede ehrliche Menschenseele wird und muß dem Unglück dieser seltenen Frau Mitleid und Ehrfurcht zollen.

Baltimore, den 5. April.

Kathinka Sutro.




Blätter und Blüthen.


Stierkampf auf dem ersten Weide-Austrieb. (Mit Abbildung S. 357.) Jemehr in wirthschaftlichen Kreisen die Stallfütterung als ausreichend anerkannt worden ist, desto häufiger hat man dem berechtigten Wunsch nachgegeben, die Weidegründe, welche vor einem halben Jahrhundert selbst die größten Stadtgemeinden noch besaßen, dem ertragreicheren Acker- und Gartenbau zu überweisen und die alte Weideberechtigung der Bürger als eine unzeitgemäße Institution aufzuheben. So rasch geht es zu Ende damit, daß es sich jetzt schon lohnen dürfte, den Lesern der „Gartenlaube“ an einem Beispiele das eigenthümliche Wesen dieser Institution darzulegen, da ein großer Theil derselben sie gar nicht, zum mindesten nicht aus eigener Anschauung, kennen dürfte. Was weiß die jüngere Generation einer Stadt wie Leipzig davon, daß hier vor dreißig Jahren im Sommer allmorgendlich das Vieh zahlreicher Bewohner durch die Straßen getrieben wurde? Leider geht mit dieser alten Sitte, wie mit so vielem Andern zugleich ein Stück Poesie zu Grunde, die Jeder in der Erinnerung noch nachempfinden wird, den in seiner Kindheit der Kuhhirt mit den langgezogenen Tönen seines Horns aus dem Morgenschlafe geweckt hat und in dessen Jugenderinnerungen noch das Stimmconcert der in der Frühe sich sammelnden und Abends sich wieder auflösenden Heerden von Kühen Schafen, Ziegen, Gänsen hineinklingt.

Vor einiger Zeit traten mir diese Erinnerungen wieder lebhaft vor die Seele, als ich in dem Städtchen Alfeld an der Leine, Provinz Hannover, gerade in den Tagen verweilte, da der alljährliche erste Austrieb der Rinder des Ortes auf die Gemeindeweiden stattfand.

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