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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

Gent) kann für den Vater der einen wie der andern gelten. Sein ganzes Leben war dem Kampf für die Rechte der Volkssprache gewidmet.

Man kann das Vlamische als einen Dialect des Holländischen betrachten, ähnlich wie das Geldernsche, Overysselsche etc.. Ein Jahrzehnt nach der Revolution von 1830, welche Flandern von dem stammverwandten Holland losriß, entwickelte sich dasselbe selbstständig in einer von der holländischen ziemlich abweichenden Orthographie.

In der Verfassung des neugegründeten Königreichs Belgien war den Vlamingen und den Wallonen völlige Gleichstellung ihrer Sprachen verheißen worden. Allein diese Bestimmung blieb ein leeres Wort. Die gesammte Verwaltung, die Kammern, die Schulen – alles wurde französirt; die Vlamen sahen sich zu einer unwürdigen Pariastellung herabgedrückt, wenn sie nicht auch französisch werden wollten, und hatten bald Grund genug, ihre durch religiöse Gegensätze herbeigeführte Lostrennung von dem zwar protestantischen, aber doch stammverwandten Holland bitter zu bereuen. Mit klarem Blick erkannte Willems die Gefahr, in der das vlamische Volksthum schwebte. Seine patriotischen Dichtungen weckten zuerst das schlummernde Nationalgefühl. Bald nach der Revolution ruft er in seinem poetischen Appell „Aen de Belgen“ seinen Landsleuten zu: die Heimath blicke auf sie, auf das Geschlecht der verwälschten Vlamingen, wie eine Mutter in dem Angesicht des Neugeborenen die Aehnlichkeit des Vaters suchend, und er kommt zu dem Schluß:

„Sie findet nicht, was gern sie finden wollte;
Nicht gleicht der Belgier, dem er gleichen sollte.
Statt daß er steh’, ein Sohn der Niederlande,
Schleppt er auf freiem Grund des Fremdlings Bande
Und ahmt des Franzmanns eitlem Flitter nach,
Verschmäht, verkennt die theure Muttersprach’;
Sein Lied ertönt nicht in der Heimath Tönen;
Er scheut sich nicht, der Mutter Wort zu höhnen.“

Vielleicht noch erfolgreicher war seine Thätigkeit als Sprachforscher und Politiker. In seinem Buche über die holländische und vlamische Schreibweise des Niederländischen wies er nach, daß der Unterschied des Vlamischen und Holländischen fast ausschließlich in der Schreibweise liege, und daß eine Annäherung beider Idiome durch Vereinbarung einer gleichmäßigen Orthographie zu bewerkstelligen sei, ein genialer Plan, der auch wirklich auf dem von Holländern und Vlamingen beschickten Sprachcongreß zu Gent 1841 erfolgreich angebahnt wurde. Diese Congresse wiederholten sich dann in bestimmten Zwischenräumen, und es kam sogar zur Feststellung einer amtlich gebilligten Schreibweise für beide engverwandte Sprachen. Dadurch wurde der Gebrauch des Vlamischen wenigstens für belletristische Erzeugnisse ermöglicht. Man konnte doch nun für die gesammten Niederlande schreiben. In Flandern allein wäre bei dem gründlich durchgeführten Verdummungssystem der Pfaffen der Kreis derer, welche lesen konnten oder mochten, zu klein gewesen. Diese dumpfen Massen des sonst so begabten Stammes auf alle Weise zu heben, sie den aufklärenden Worten ihrer Dichter zugänglich zu machen, war eine der ersten Aufgaben der vlamischen Bewegung, und der neueste Umschwung zu einem liberalen Regiment liefert den Beweis, wie Bedeutendes hier in geräuschloser, treuer Arbeit geleistet worden ist. Auch hinsichtlich der Sprachrechte ist in der neuesten Zeit viel gewonnen worden, die Bestimmung der Verfassung ist durch neuere Gesetze über den Gebrauch des Vlamischen in den Schulen und in der Verwaltung verschärft und präcisirt, aber es werden noch Jahre vergehen müssen, ehe diese für die Vlamingen günstigen Bestimmungen wirklich in die Praxis treten.

Eine Jahrzehnte lange Arbeit hat es gekostet und der ganzen Zähigkeit, die den vlamischen Stamm von jeher ausgezeichnet, hat es bedurft, einen Theil nur dessen zu erreichen, was man dem niederdeutschen Stamme damals verheißen hatte, als man ihn mit in diese von Frankreich gemachte Revolution hineinzog. Alle Klagen und Petitionen waren erfolglos, blieben meist unbeantwortet, erfuhren wohl gar eine sarkastische Abfertigung in der französischen Presse des Landes, die auch fast jedes literarische Product vlamischer Sprache mit Spott und Hohn begrüßte. So kann es nicht Wunder nehmen, daß das Verhältniß zwischen Vlamen und Wallonen sich bisher weniger freundlich gestaltet hat, als das der verschiedenen Nationalitäten in anderen zwei- und mehrsprachigen Ländern. In der Schweiz zum Beispiel leben drei Nationalitäten friedlich neben einander, ohne daß eine derselbe in ihren Sprachrechten irgend wie verkümmert würde. Sie liefern dadurch den Beweis, daß die Vielsprachigkeit, wenn sie auch vielfach unbequem für die Behörden ist, doch der glücklichen Entwickelung eines Staates durchaus nicht im Wege steht.

Was nun die Wallonen betrifft, so steht ihre Volkssprache der französischen Schriftsprache nicht wesentlich ferner als andere französische Dialecte, nur daß man im Wallonischen eine größere Anzahl deutscher Wortstämme findet. Die Schriftsprache, die Sprache des Unterrichts und des gesammten öffentlichen Lebens aber ist natürlich hier erst recht das Französische. Wer will daher den Wallonen, so lange sie wie bisher in politischer Hinsicht patriotisch neue Belgier geblieben sind, ihre französischen Sympathien verübeln? Von jeher haben sie sich auf geistigem Gebiet mit den stammverwandten Nachbarn solidarisch gefühlt, sind sie deren Kostgänger gewesen. Sie fühlten instinctiv, daß die Verdrängung Frankreichs von der politischen Führerschaft Europas ihr eigenes Uebergewicht über die vlamischen Landesgenossen nachhaltig erschüttern müsste; gleichwohl mochte ihnen die Entthronung des annexionslustigen napoleonischen Herrscherhauses deshalb nicht ganz unwillkommen sein, weil sie den seit dem Staatsstreiche immer empfundenen belgisch-nationalen Beklemmungen ein Ende machte. Bei den Vlamingen dagegen hatte der vierzigjährige Kampf gegen die französische Ueberwucherung das Bewußtsein ihrer germanischen Abstammung und ihrer Zugehörigkeit zu uns lebendig erhalten. Wie mächtig mußte ihre Hoffnung aufflackern, als sie nun sahen, daß Deutschland, welches in seiner langdauernden Zerrissenheit unvermögend war, nach außen in nationalem Sinne zu wirken, plötzlich mächtig erstarkte und ihnen auch eine moralische Unterstützung zu bieten im Stande war! Wie die Wallonen jeden Schlag, den Frankreich 1870 erlitt, jeden Schatten, der auf die geistige Sonne fiel, die ihnen geleuchtet hatte, als eine Art Niederlage fühlten, so feierten naturgemäß die Vlamingen jeden Erfolg der deutschen Waffen und der deutschen Diplomatie begeistert mit. Dennoch hielten und halten beide Theile gleich treu an ihrem belgischen Vaterlande fest, und etwaigen Annexionsgelüsten würden sicher beide treuverbunden entgegentreten.

Man würde übrigens sehr irren, wenn man annehmen wollte, daß das Ueberwuchern des französischen Wesens sich erst vom Jahre 1830 herschriebe. Die Umwälzung dieses Jahres fand die französische Sprache schon als Umgangssprache der höheren Stände Flanderns vor. Und die wechselnden Schicksale, welche das Land erfahren hat, erklären diesen Umstand vollkommen. Im Vertrage von Verdun war Flandern zu Frankreich, Brabant zu Lothringen geschlagen worden. Und wenn auch unter den Hohenstaufen beide blühende Länder politisch zum deutschen Reiche gehörten, so haben sie in kirchlicher Hinsicht doch stets einen Theil des überwiegend französischen Erzbisthums Rheims ausgemacht. Unter dem habsburgischen Scepter gehörten sie lange Zeit zu der spanischen Monarchie und wurden während derselben in französischer Sprache regiert. Als endlich französische Eroberung der österreichischen Herrschaft ein Ende machte, wurde namentlich unter Napoleon dem Ersten dem vlamischen Volksthum förmlich der Krieg erklärt. Nicht nur im amtlichen Verkehr war die vlamische Sprache gänzlich verpönt, sondern es durften nicht einmal Drucksachen in derselben erscheinen. Mit einem Federstriche glaubte der Tyrann einem reindeutschen Volksstamme seine Muttersprache aberkennen zu können. Allein schon die bald darauf erfolgte Vereinigung des Vlamingenlandes mit Holland milderte diesen unerträglichen Zustand wenigstens etwas, obwohl dieser neue Staat ja auch kaum etwas Anderes als eine französische Provinz war.

Wenn sich demnach die Verbreitung französischen Wesens, namentlich in den Städten, historisch ganz leicht erklärt, so ist es doch andererseits nur zu natürlich, daß sich in letzter Zeit, wo sich das Nationalitätsprincip überall mächtig geltend macht, auch die Vlamen auf ihre Abstammung besonnen haben und mehr als früher auf die Erhaltung ihres Volksthums bedacht sind. Mit welchen Mitteln der Kampf gegen die „Verfransching“ aber geführt wird, darüber soll in einer der nächsten Nummern der „Gartenlaube“ berichtet werden.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_335.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)