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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„Schon gut, Kordel, ich darf Leine und Steuer nicht freigeben, oder wir vergessen den richtigen Augenblick.“

„Wie Du willst,“ preßte es sich zwischen Kordel’s fest auf einander ruhenden Zähnen hervor, denn sie wußte, daß es nur in seinem Willen lag, die Leine noch einige Male um den Pflock zu schlagen und dadurch seine Hand frei zu machen; „hoffentlich bereitet die Heimkehr Dir keine Schwierigkeit.“

„Kinderspiel!“ hieß es spöttisch zurück, „braucht man nur an sich allein zu denken, macht sich Alles doppelt leicht. Werde ich mit den Sturzsee’n nicht fertig, so werden sie’s mit mir.“

„Vergiß nicht Deine Mutter!“ fuhr Kordel leidenschaftlich auf.

„Halt’ Dich bereit!“ umging Bertus eine Antwort.

Kordel athmete lang und tief. Sie erhob sich, und die freie Hand auf seine Schulter legend, stellte sie den rechten Fuß auf die Bank.

Nun befanden sie sich der Brandung so nahe, daß sie bei der gedämpften Wirkung des versteckten Mondes die Beschaffenheit des Ufers einigermaßen zu unterscheiden vermochten. An Halten war nicht zu denken, und es gehörte eine sichere Hand dazu, das leichte Fahrzeug unter Beihülfe des schwachen Windes über die auf einander folgenden Dünungen hinweg zu steuern, ohne von einer derselben auf’s Land geworfen zu werden. Bertus hatte einen bestimmten Punkt in’s Auge gefaßt und berechnete zugleich die Pausen zwischen dem Steigen und Fallen des weißen Gischtes, an welchem das Boot in beinahe unmittelbarer Nähe hinschoß. Da beugte Kordel sich zu ihm nieder. Mochte sie Schlimmes befürchten, wenn er sich in der verzweifelten Stimmung von ihr trennte, oder zog es sie zu ihm hin? Sie neigte ihre Lippen seinem Ohr zu, wie um ihre Worte nicht in dem Brausen und Rauschen verhallen zu lassen.

„Halte fest, Bertus!“ sprach sie ernst, „ein Mißgriff, und wir liegen in der Brandung. Die Hand wolltest Du mir nicht geben, drum muß ich Dir auf andere Art danken. Vergiß nicht Deine Mutter, – nicht – mich!“

Sie küßte ihn auf die Stirn. Sie fühlte, wie heftiges Zittern seine Gestalt durchlief, wie er seine ganze Kraft aufbot, den Augenblick eines süßen Rausches nicht auch den Zeitpunkt ihres beiderseitigen Verderbens werden zu lassen.

„Fertig, Kordel!“ rief er laut, daß es das Brausen ringsum übertönte.

Kordel richtete sich empor und faßte über die bewegliche Brandung hinweg das aus dieser steil aufsteigende Land in’s Auge. Eine Woge hob das Boot. Bertus ließ es mit kühner Wendung bis in fast unmittelbare Nähe des abschüssigen Ufers tragen. Einige Secunden schien die Gewalt der Strömung die des Windes zu überwiegen, der Schaum es verschlingen zu wollen. In demselben Augenblicke aber, in welchem das zurückweichende Wasser sich mit dem auf das Segel ausgeübten und durch das Steuer geregelten Druck einigte, ertönte sein lautes: „Jetzt!“

Kordel sprang landwärts.

„Glückliche Fahrt!“ rief sie, sobald sie sicheren Boden gewonnen hatte und aus dem Bereich der herbeirollenden Fluthen geschlüpft war.

Ein Jubelruf antwortete vom Wasser her. Kaum noch vermochte sie das entfliehende Segel zu unterscheiden. Sinnend blickte sie demselben nach. – Als Boot und Segel längst ist der Finsterniß verschwunden waren, stand sie noch immer auf derselben Stelle.




4.

Ein Viertelstündchen später hatte Kordel die heimathliche Schlucht erreicht. Die beiden Fenster, hinter welchen sie die Abende gemeinschaftlich mit ihrem Vater zu verbringen pflegte, waren nach gewohnter Weise hell. Ahnungslos trat sie durch die Hausthür; ahnungslos entledigte sie sich der triefenden Oberkleider – plötzlich hielt sie erschrocken inne, denn eine fremde Stimme war zu ihr herausgedrungen. Dann hörte sie ihren Vater sprechen. „Keine Andere, als Kordel,“ glaubte sie ihn sagen zu hören.

Das Lachen eines Unbekannten folgte. „’s ist ziemlich spät für ’n junges Ding,“ klang es barsch.

„Kordel ist kein Kind mehr,“ versetzte der Vater wie entschuldigend; „sie pflegt ihren eigenen Weg zu gehen, und ich hindere sie nicht daran.“

„Das muß anders werden,“ hieß es zurück, „solch junges Ding gehört vor Einbruch der Nacht zwischen seine vier Pfähle, zumal wenn’s gilt, einen alten Vater zu bedienen.“

Hatte der Umstand, zum ersten Male Besuch bei ihrem Vater vorzufinden, Kordel erschreckt, so erfüllten die vernommenen Worte sie mit Widerwillen gegen den Unbekannten. Schnell näherte sie sich der Thür und trat ein. Sie warf dem Fremden einen finsteren Blick zu. Er saß mit dem Ausdrucke düsteren Trotzes ihrem Vater gegenüber an dem mit Speisen und Getränken beladenen Tische, und die kurze Thonpfeife im Munde, vergaß er beim Anblicke des großen schönen Mädchens nicht nur das Rauchen, sondern auch das Grüßen. Ohne den Gast weiter zu beachten, reichte Kordel ihrem Vater die Hand. Dabei sah sie ihn fest an; ihrem scharfen Blicke entging nicht, daß die böse Stimmung, über welche sie bei der Fischerwittwe klagte, in erhöhtem Grade Besitz von ihm ergriffen hatte; in seiner Haltung offenbarte es sich sogar wie tiefe Erschöpfung.

„Ich komme von der alten Seger,“ sagte sie ruhig, jedoch ihren Vater fortgesetzt beobachtend, „das Wetter hielt mich etwas länger auf.“

„Bist Du auf dem Landwege gekommen?“ fragte Seiling ausdruckslos und in der dumpfen Absicht, keine auffällige Wortkargheit an den Tag zu legen.

„Nein, Vater,“ antwortete Kordel, und der Fremde schien immer noch nicht für sie anwesend zu sein, „der Bertus hat mich herübergesegelt.“

„Bei solchem Wetter?“ spann Seiling das Gespräch gleichsam mechanisch weiter; „der Bertus wird das Meer so lange herausfordern, bis es eines guten Tages ihn und Dich mit ihm herunterholt.“

In Kordel’s Antlitz schoß es blutroth. Vor ihrem Geiste zog die in dem Boote erlebte Scene vorüber, und unwillkürlich wendete sie ihr stolz getragenes Haupt, daß die Beleuchtung der Lampe ihr Antlitz nicht traf.

„Das Wetter ist böse genug,“ sagte sie erregt, „allein der Bertus versteht es, seines Vaters Boot zu handhaben.“

„Das ist also die Kordel!“ hob jetzt Klaas mit billigendem Kopfnicken an; „bei Gott, Peter Seiling, wer hätt’s dem Kinde angesehen, als Du’s zum ersten Male auf dem Arme trugst, was draus werden könnte!“ und Seiling anschauend, blinzelte er bezeichnend mit den Augen, während ein häßliches Grinsen um seine wulstigen Lippen spielte.

Seiling erbleichte; Kordel maß mit prüfenden Blicken den breitschulterigen Fremden vom Kopfe bis zu den Füßen.

Doch Klaas gönnte ihr keine Zeit zum Nachdenken. Mit schlauer Berechnung Seiling an seine Abhängigkeit erinnernd, fuhr er erheuchelt sorglos fort: „Achtzehn Jahre sind seitdem verstrichen. Eine verteufelt lange Zeit, und ’s ist nicht zum Erstaunen, wenn die Cordula einen Anverwandten ihrer verstorbenen Mutter nicht auf den ersten Blick erkennt. Achtzehn Jahre, Mann, und doch scheint mir’s, als hätten wir uns gestern erst von einander getrennt. Es war ein regnerischer Tag, und eine Nacht so schwarz, daß man Planken draus hätte schneiden können –“

„Es ist wahr, Kordel,“ fiel Seiling bebenden Herzens ein, um die Mittheilungen des redseligen Landstreichers zum Abschlusse zu bringen, „er ist unser Anverwandter – der einzige, den wir noch besitzen – ich habe mich entschlossen, ihn bei mir zu behalten.“

Kordel sah ihre Vater fest an. Sein Wesen befremdete sie mehr und mehr. Ihr ahnte nichts Gutes.

„Ich wußte nicht –“ sagte sie –

„Ich wußte selber nicht – –“ versetzte Seiling hastig, „denn ich meinte, er sei seit vielen Jahren todt –“

„Während ich so flott war, wie ein frisch vom Stapel gelassener Klipper drei Tage vor’m Auslaufen,“ fiel Klaas lachend ein, „aber ich will des Teufels sein, Mädchen, wenn das ’ne Art ist, einem künftigen Hausgenossen Willkomm zu trinken,“ und er streckte Kordel seine Hand entgegen, „baumeln will ich, wenn Dein Vater nicht die ehrlichste Haut ist, die jemals ein Segel beschlug, oder sich ’nen guten Spargroschen aus dem californischen Sande herauswühlte.“

„Aus dem californischen Sande?“ fragte Kordel bei der unerwarteten Kunde erstaunt, und statt die gebotene Hand zu nehmen, sah sie auf ihren Vater, der zustimmend nickte.

„So ist’s,“ fuhr Klaas fort, „und wenn er Dir verschwieg, woher seine Spargroschen stammen, so will ich Dir’s anvertrauen;

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