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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

der Sternbilder, ihrer Wandelbahnen und ihrer einfachen Gesetze.

„Aber der Wunder größtes, leuchtend über alles Firmament, das ist doch der Menschengeist, der sich hinauf in diese Welten geschwungen hat, um ihnen die Geheimnisse des Alls abzulauschen,“ sagte Regina, nachdem sie ihre Blicke von dem Teleskop abgewandt hatte und nun, die Hände auf ihren Knieen faltend, ihre Gedanken in den Sternenraum schweifen ließ.

„Und wenn Sie mir ’mal wieder die Freude Ihres Besuches machen wollen, meine verehrte Freundin, dann werde ich Ihnen noch mehr und Interessanteres von den Geschichten dort über uns erzählen, was ich alles in einsamen Nächten da erlauscht.“

„Ich muß Ihnen im Grunde eine Abbitte leisten, Herr Warbusch, daß ich Sie bisher so gering geschätzt habe, daß ich Ihr geistiges Bedürfniß immer nach dem Wasserkrug beurtheilte, den Sie am Morgen und Abend selbst füllten.“

Warbusch beantwortete diese Aeußerung mit einem fröhlichen Kichern, wobei er ein über das andere Mal die kleinen Beine über einander schlug.

„Mein Wein wird da oben credenzt – im reinen Aether,“ sagte er, und dabei schaute das Auge mit verzücktem Blick hinauf in den Himmel. „Sie dachten sich in mir wohl einen Menschen, Fräulein Regina, in dessen Seele nie ein Strahl höherer Erkenntniß gefallen, so ein Opfer der Ziffern, die ich täglich in mein Hauptbuch einschreiben muß? O, das göttliche Geheimniß der Zahl, mit deren Hülfe ich die Tiefen der Erde ergründen und mich in die Räume des Himmels schwingen kann! Der hundertste, der tausendste Schreibärmelmensch ahnt nichts davon, mit welcher Weltenmacht er täglich und stündlich da hantiert; die Zahl ist ihm das Zeichen, mit der man Procente berechnet, der Schwimmgürtel, mit dem er über dem Wasser des Lebens mühsam sich hält – weiter nichts. Und dabei lebt er dumm wie eine Auster. Heute habe ich Ihnen von dem Sonnenkörper, den Fixsternen erzählt: das nächste Mal reden wir von den wandelnden, den sogenannten Irrsternen.“

„Können Sterne auch irren?“ fragte Regina plötzlich aus Gedanken erwachend.

„Nicht in dem Sinne Ihrer Frage. Am Himmel wie auf Erden hat alles sein festes Gesetz. Wie diese wandelnden Lichtkörper in ihren Bahnen, ihren Bewegungen oft widerspruchsvoll, regellos, abweichend erscheinen, so sind sie doch alle unterthan dem Gesetze in ihrem Verhältnisse zu dem großen bestimmenden Etwas: nennen Sie es Liebe, meinetwegen auch Anziehungskraft der Körper – wie Sie wollen; die Sterne da droben sind es ebenso wie das Menschenherz hier unten.“

„Wie das Menschenherz,“ wiederholte Regina und ging dabei der Deutung in Gedanken nach. Gehörte sie nicht selbst unter diese irrenden Sterne? War sie nicht ein Geschöpf der Sonne der Liebe, erhielt nicht auch sie durch dieselbe ihr Licht und nahm sie nicht von ihr ihre Richtung und ihre Bahn? Wandelnde Sterne droben wie das Menschenherz hier unten!

Kurz darauf stieg Regina die Treppe zu ihrer Stube herab. Beim Eintritt in dieselbe bemerkte sie die dunklen Umrisse einer menschlichen Gestalt.

„Fürchten Sie nichts, Regina, es ist kein Dieb. Ich bin’s. Ich sah Licht bei Ihnen von der Straße aus und wollte Sie überraschen. Wie ist es hier heimlich, traulich, friedlich! Wenn es bei mir zu Hause doch auch so wäre!“

„Erich!“

Dieser sein Name kam zwischen ihren Lippen fast wie ein Freudenruf hervor. Oft schon hatte er ihr sein Herz ausgeschüttet; Regina hatte Doris vertheidigt, ihn getröstet – auch ihm oft die Schuld selbst zugemessen, wo sie ihm hätte sagen mögen: Ja, du hast Recht. Dein Weib liebt dich nicht! Hier ist eine, die dich versteht, die für dich glüht, seitdem sie dich kennt, und die ewig um das deinem Herzen verlorene Glück klagen wird. Das aber sagte sie ihm nicht. Sie hüllte ihr pochendes, sehnendes Herz in leise Scheltworte, ja selbst in Vorwürfe. Sie richtete darin einen Damm zwischen ihr und ihm auf. Und nun war er zu ihr gekommen, was vordem nie geschehen war – und schaute so traurig zu ihr herüber! Sie hatte das Sopha, auf das sie sich einen Augenblick gesetzt, verlassen wollen, er aber litt es nicht, sondern drückte sie leise nieder, so daß sie gezwungen war, auf ihrem Platze zu verharren.

Es ist ein armseliger Trost, wenn diejenigen, welche man liebt und die ihr Herz anderswohin gegeben haben, wenn diese unbefriedigt und unglücklich Zuflucht suchen kommen – ein armseliger Trost und doch wieder ein tief genugthuend Empfinden – die Wollust der Verschmähten. Er saß bei ihr, vor ihr. Er sprach von Allem, von der Einrichtung des kleinen Zimmers, von den Büchern, die in demselben aufgestellt waren, von dem eigenthümlichen Eindruck, den dieses Haus mit den beiden einsamen Insassen machte, mit Regina und mit Warbusch, seinem frühern Miether vom Planetenhäuschen. Dann bemerkte Rechting auch sein Bild, das in einem Rahmen von dunklem Sammet auf der Kommode aufgestellt war; eine Immortelle war darüber eingesteckt.

Wie mit Blut war Regina’s Antlitz übergossen, als er sein Augenmerk auf sein eignes Conterfei richtete.

„Es ist dasselbe Bild, welches Sie mir vorige Weihnachten schenkten,“ bemerkte sie und suchte seine Aufmerksamkeit davon abzulenken.

„Aber ohne die Immortelle, Regina,“ entgegnete er. „Ich erschrak fast, als ich sie bemerkte. Als ob ich schon gestorben und hier ein getreues Andenken mir gesichert wäre!“

„Das wird Ihnen stets werden, Erich, ewig! Das Sterben können Sie immerhin einstweilen unterlassen.“

Sie versuchte, dem letzten Zusatz einen heiteren Ausdruck zu geben, aber es gelang ihr doch nicht.

(Fortsetzung folgt.)




Der Landvogt von zehn Tagen.
Charakterbild aus den Tagen der dänischen Fremdherrschaft.
I.

Von den Ideen und Ueberzeugungen, welche auf dem denkwürdigen Wartburgfeste des 18. October 1817 zu hellem Ausdruck kamen, hat sich manche bewegende und entscheidend gewordene Strömung durch alle ferneren Entwickelungen unserer nationalen Geschicke ergossen. Wenn aber die Geschichtskundigen den wichtigen Tag nach dieser Seite hin zu würdigen suchen, so pflegt dabei eines Ereignisses nicht gedacht zu werden, das sich allerdings in den Aufzeichnungen jener Zeit nur sehr flüchtig notirt findet und von der damaligen öffentlichen Meinung noch nicht gewürdigt werden konnte. Gleichwohl hatte in diesem unscheinbaren Vorgang eine der bedeutsamsten Wendungen deutscher Zukunft ihr erstes Heraufleuchten angekündigt.

Dem ergangenen Rufe der Jenaer Burschenschaft folgend, waren bekanntlich die zahlreichen Deputationen begeisterter Studiengenossen schon am 17. October von den verschiedensten Hochschulen in Eisenach eingetroffen und erfüllten nun hier, erwartungsvoll und in fröhlich-ernster Bewegung, unter jubelnden Begrüßungen und lebhaften Gesprächen den Marktplatz und die ihm angrenzenden Straßen. Schon glaubten die im Gasthaus „Zum Rautenkranz“ tagenden Leiter des Festes die Liste der Teilnehmenden geschlossen, als gegen Abend die Nachricht hereinkam, daß soeben noch frischer Zuzug, eine Schaar von dreißig neuen Gästen unter dem Gesange des alten Lutherliedes durch das Thor geschritten sei. An einem Eindruck der Ueberraschung wird es wohl bei ihrer Meldung nicht gefehlt haben. Denn Gäste waren es im eigentlichen Sinne, die hier noch zur rechten Stunde sich einstellten, Söhne deutschen Stammes zwar, aber doch halbe Fremdlinge auf deutschem Boden, Angehörige jener schleswig-holsteinischen Nordmark, deren Bevölkerungen seit lange unter dem Scepter der Dänenkönige lebten und, trotz ihrer deutschen Sprache und Art, ihres Zusammenhanges mit Deutschland so ziemlich vergessen hatten. Das Ränzel auf dem Rücken, den Ziegenhainer in der Hand, hatten jene dreißig Kieler Studenten den weiten Weg durch die deutschen Lande mit einander zu Fuß gemacht, getrieben von einem mächtig gewordenen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_076.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)