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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

zu verschaffen, mit dem Zwecke, ihre physischen und geistigen Kräfte zu wecken, zu stärken und zu entwickeln.

Wie erreicht man diesen Zweck? Durch welche Mittel gelingt es, schwachsinnige Kinder zu entwickeln? Ganz im Allgemeinen kann man sagen: theils dadurch, daß man diejenigen Mittel, durch welche normale Kinder sich entwickeln, verstärkt, theils dadurch, daß man geringere Ansprüche an das Kind stellt und überhaupt einen ganz anderen Standpunkt einnimmt als den, welchen man einem geistig gesunden Kinde von demselben Alter gegenüber einzunehmen pflegt, sodaß hier die Fortschritte so zu sagen auf der Goldwage gewogen werden, und selbst ein geringer Fortschritt mit Dank angenommen wird, wenn er nur von gutem Willen und ein wenig Selbstthätigkeit zeugt. Der Erzieher muß sich beständig erinnern, daß das Kind, andern gegenüber, so unendlich weit zurück ist, daß er auf die gewöhnlichen Voraussetzungen gar nicht bauen kann, sondern sich so zu sagen bei der Arbeit vorwärts fühlen muß. Oft kommt es hauptsächlich darauf an, die Aufmerksamkeit des Kindes zu wecken, es aus einem durchaus willenlosen Schlaffheitszustande herauszureißen, und es ist nun Aufgabe des Erziehers, die Mittel dazu zu finden; bald sind es starke Farben, bald Töne und andere Laute, bald Gegenstände, die auf den Tastsinn wirken, je nach dem Zustande des Kindes.

Während viele schwachsinnige Kinder normalen Altersgenossen zu gleichen scheinen, nur daß sie sich geistig viel langsamer entwickeln, giebt es auf der andern Seite auch viele, deren geistiger Zustand ein so niedriger ist, daß sie auf dem Entwickelungsstandpunkte kleiner Kinder bleiben, nur mit dem wesentlichen Unterschiede, daß der Körper wächst und daß alles das, was beim kleinen Kinde so natürlich ist, daß es keinen Anstoß erweckt, beim großen idioten Knaben oder Mädchen uns entweder abstoßend oder lächerlich erscheint. Aber zwischen diesen beiden äußersten Punkten befindet sich eine zahlreiche Schaar schwachsinniger Kinder in den verschiedenartigsten Zuständen, welche durch anhaltende und geduldige Einwirkung nach und nach es so weit bringen können, daß sie in gewöhnlichen Schulkenntnissen Unterricht empfangen und zur Confirmation vorbereitet werden können.

Eine hervorragende Rolle spielt der Sprechunterricht. Häufig ist das schwachsinnige Kind ganz ohne Sprache, und noch häufiger sind diejenigen Sprachlaute, die es hervorbringt, höchst unvollkommen; es kommt deshalb darauf an, das Kind in der Nennung der Gegenstände zu üben. Indem es in Verbindung mit dem Worte die Sprache selbst kennen lernt, wird nach und nach sein Vorstellungskreis erweitert, und indem es, je nach dem verschiedenen Aussehen und der Anwendung der Dinge, unter denselben unterscheiden lernt, wird sein Verstand geübt. Gewiß bedarf es oft einer häufigen Wiederholung, um dem Gedächtnisse des Kindes das Erlernte einzuprägen, und Vieles, das sonst jedes Kind „von selbst lernt“, nimmt hier den Charakter eines Lehrgegenstandes an. Eine der wichtigsten Eigenschaften des Lehrers ist in diesem Falle die Gabe, selbst das Einfachste und Alltäglichste unterhaltend und abwechselnd zu machen, um den Schüler immer anzuregen und nicht zu ermüden. Darum kann die untere Abtheilung einer Idiotenanstalt passend die Spielabtheilung genannt werden, wie dies in den hiesigen Anstalten dieser Art der Fall ist.

Indem nun das schwachsinnige Kind allmählich in den Besitz der Sprache kommt, fühlt es sich seinen Umgebungen näher, und da die geistige Entwickelung mit der Aneignung der Sprache gleichen Schritt hält, erhält es zugleich ein menschlicheres Aussehen. Es giebt sogar Fälle, in welchen sich dies in der Form des Kopfes zu erkennen giebt, indem die inneren Organe, um sich Platz zu verschaffen, während ihres Entwickelungsprocesses dermaßen auf die äußeren Theile einwirken, daß die Stirn höher wird, der Kopf eine edlere Form erhält und gleichzeitig das Gesicht einen intelligenteren Ausdruck annimmt.

Wenn das schwachsinnige Kind sprechen gelernt hat und etwas Ausdauer und Aufmerksamkeit zeigt, dann beginnt der Schulunterricht, und man trifft oft sehr fleißige und eifrige Schüler in einer aus schwachsinnigen Kindern bestehenden Classe, weil auch hier der Wetteifer eine wichtige Rolle spielt.

Daß Schwachsinnige zu tüchtigen Arbeitern herangebildet werden können, davon habe ich reiche Beispiele gesehen. Ich habe sie als Schuster und Schneider, Tischler und Korbmacher, Bürstenbinder und Mattenflechter arbeiten, in Feld und Garten pflügen und graben, pflanzen und säen, das Vieh hüten, die Kranken und Schwachen und kleine Kinder warten und sogar das Setzen der Typen besorgen sehen. Sehr lehrreich in dieser Beziehung ist die große, vorzüglich eingerichtete Idiotenanstalt Earlswood bei London. Es giebt genug Arbeiten, die sich für den Schwachsinnigen eignen, er bleibt aber gewissermaßen ein Kind sein ganzes Leben hindurch, und ihm fehlt darum eine wesentliche Bedingung, um ein selbstständiger Mensch zu werden. Dieser Umstand ist von der größten Bedeutung, wenn man sich klar machen will, auf welche Weise man am besten für die Schwachsinnigen sorgen könne.

Eine allgemeine Regel für die Idiotenerziehung zu geben, oder eine Methode aufzustellen, ist unmöglich; denn die schwachsinnigen Kinder sind unter sich so verschieden, daß jedes einzelne Individuum eine besondere Aufgabe darbietet. Deshalb tritt auf der untersten Stufe der Entwicklung die individuelle Behandlung in den Vordergrund, und erst später, wenn die allgemeinen Bedingungen eines regelmäßigen Unterrichts in einem gewissen Grade vorhanden sind, kann man daran denken, die Kinder classenweise zu unterrichten. Diejenigen Disciplinen, in welchen die Schwachsinnigen am frühesten gemeinschaftlich unterrichtet werden können, sind Gymnastik und Gesang. Diese beiden Lehrfächer haben darum große Bedeutung in der Idiotenerziehung. Die Gymnastik ist, richtig angewandt, nicht nur ein Mittel zur Entwickelung des Körpers und zur Uebung in Disciplin und Aufmerksamkeit, sondern zugleich eine gute Verstandesübung, indem das Kind stets einen deutlichen und sinnlich hervortretenden Gedanken an das Commandowort knüpfen muß; wenn irgendwo Wort und Gedanke leicht mit einander zu verbinden sind, dann muß es da sein, wo der Gedanke auf Befehl des Wortes zur That wird. In der obengenannten Idiotenanstalt bei London sah ich eine Reihe von Uebungen, aus einer Combination von Verstandes-, Rede- und Körperübungen bestehend, indem die Lehrerin, gleichzeitig mit dem gegebenen Befehle zu einer bestimmten Bewegung oder Stellung, die entsprechende Bewegung selbst machte, worauf die Kinder alle auf einmal diese nachmachten, indem sie auch die begleitenden Worte nachsagten. In vielen Fällen wirkt die Gymnastik auf schlaffe Naturen belebend ein.

Es giebt nicht wenig Beispiele davon, daß Idioten für Musik ein offenes Ohr haben, selbst dann, wenn sie im Uebrigen, sowohl in Verstand wie Rede, weit zurückstehen. Nicht nur die Gabe, Melodien zu behalten und sie zu singen, trifft man häufig, sondern auch Sinn für Harmonien kommt nicht selten vor, sodaß die Schwachsinnigen zweistimmig singen.

Die dem Idiotenlehrer gestellte Aufgabe ist sehr verschieden, je nachdem das Kind, das er vor sich hat, in Beziehung auf Entwickelung und Geistesfähigkeiten mehr oder weniger vom normalen Kinde entfernt ist. Es giebt Fälle, wo die Aufgabe von derjenigen, die jedem Lehrer gestellt ist, nur darin verschieden ist, daß man mehr arbeiten und weniger fordern muß, es giebt aber andere Fälle, wo man sozusagen bis auf den Grund der Seele hinabdringen muß, um für eine weckende und belehrende Einwirkung Anknüpfungspunkte zu finden, wo man lange prüfen und suchen muß, bevor es Einem gelingt, sich mit dem Kinde in Wechselwirkung zu setzen. Und wenn man endlich so weit gekommen ist, daß der Geist des Kindes etwas angeregt ist, entdeckt man die eine Abnormität bei diesem, die andere bei jenem, ein Mißverhältniß unter den verschiedenen Geistesfähigkeiten in Beziehung auf Bildungsfähigkeit und Zugänglichkeit, welches ein fortwährendes Nachdenken über die Mittel und eine strenge Selbstkritik erheischt. Hierzu kommt noch die Abnormität des Seelenlebens, die dem Lehrer schwierige pädagogische Aufgaben stellt, indem er durch Anwendung der gewöhnlichen Erziehungsmittel den Zweck verfehlen würde und, um den rechten Weg zu finden, sich nicht nur die Behandlung eines weit jüngeren Kindes vor Augen halten, sondern das relativ stärker entwickelte Gemüthsleben besonders berücksichtigen muß.

Es kommt darum bei Erziehung tiefstehender Idioten mehr als bei irgend einer andern Lehrerwirksamkeit auf eine besondere Begabung an, sodaß man sagen kann, daß nicht gar Viele für diese Wirksamkeit sich eignen und dabei aushalten. Der vor Kurzem verstorbene Philanthrop Dr. Howe in Boston hat irgendwo geäußert, daß es mit der Zeit schwerer sein würde, eine hinlängliche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_050.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)