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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

„Ja, Doris, auf den rechten Weg, wenn man durch dunkle Mächte von diesem abgeleitet zu werden in Gefahr ist. Auf den rechten Weg!“ wiederholte sie langsam, das Haupt in Gedanken niedersenkend. –

Regina verabschiedete sich früher als der Präsident. Dieser war immer gern der Letzte. Es schien, als wollte er es vermeiden, daß im Salon von Zurückbleibenden Urtheile über ihn laut würden. Beim Abschiede sagte die Freundin noch, daß sie im Zimmer über dem ihrigen einen Poltergeist habe, der vor Mitternacht nie zur Ruhe kommen könne. Bei Tage sehe man ihn fast nie, nur allenfalls höre man ihn die Treppen auf und nieder huschen. Er scheine die halben Nächte auf dem Dache zuzubringen. Dann höre sie Klappen, Schrauben, Bewegen von Instrumenten, laute Ausrufe des Entzückens, fröhliches Lachen – kurz, es sei die gespenstischste Nachbarschaft, die man haben könne, aber sie fürchte sich nicht.

Damit ging Regina.

Sie war ein eigengeartetes Wesen, diese Regina – und eigenartig war auch ihr Verhältniß zu Rechting’s. Sie hatte die ganze vorbräutliche Zeit mit Beiden verlebt, dann die Verlobung, die kein Roman war. Zwei Menschen wie Rechting und Doris, mit regem Bedürfniß nach innerer Wahrheit und mit äußerer Selbstständigkeit, pflegen sich rasch zu erkennen, so war es auch hier. Sie schrieben sich, wurden näher bekannt. Eines Tages verabredete man eine Partie zu Boote, Rechting, Doris und Regina. Diese hatte auf sich warten lassen, Doris war auf die Einladung Rechting’s eingestiegen. Fröhlich bewegte sich das Boot unter Rechting’s kräftigen Ruderschlägen.

„Aber wir müssen auf Regina warten,“ bemerkte Doris.

„Erst möchte ich Sie etwas fragen, Fräulein Doris, aber eine rasche Antwort erbitte ich.“

„Nun?“

„Ob Sie mich so lieben könnten, wie ich Sie?“

„Da müßte ich erst wissen, wie Sie mich lieben,“

„Nun denn, so tief, daß ich nicht mehr aufhören könnte, es zu thun. Und Sie, Fräulein?“

Doris nickte.

„Und Sie würden mein Weib werden?“

Doris nickte wieder.

„Ach, das werde ich Ihnen nimmer vergessen.“

„Aber da ist Regina, Herr Assessor! – Was thun Sie!“

„Ich küsse Sie, wie es einem Bräutigam geziemt – unter freiem Himmel, vor allen Zuschauern. Und nun an’s Land, um Regina aufzunehmen!“

Reginas Wiege hatte in einem stattlichen Hause einer Stadt Ostfrieslands gestanden. Dorthin war einer ihrer Vorfahren aus Portugal eingewandert, aber außer ihrem lateinischen Namen Desancto verrieth äußerlich nichts mehr an ihr die sonnige Heimath am Tajo. Die unwirthliche nordische Heimath, Wasser, Moor, Haide, hatten dem Aeußern Regina’s vollständig ihr Gepräge aufgedrückt, und auch ihr Herz zeigte der Außenwelt keine Aeußerung fremdartigen Lebens.

Doris konnte sich keine bessere Hausfreundin wünschen als Regina. Diese hatte nie Launen, niemals Nerven, bewegte sich stets in gleichmäßiger Stimmung und bequemte sich in Allem ihrem Willen an. Ihre Tapisseriearbeiten stellten das Verhältniß der Beiden zu einander dar: Doris stickte die Blumen und Regina füllte aus. Dann kam als neuer männlicher Hausfreund – der Präsident. Zwischen ihm und der älteren Freundin wurde eine strenge Höflichkeit eingehalten; ein inneres Verhältniß war nicht vorhanden. Es zeigte sich hier wieder die alte Erscheinung, daß Hausfreunde sich gegenseitig stets beargwöhnen. Lideman war Regina nichts weniger als sympathisch. Sie hatte eine feine Empfindung für Persönlichkeiten, und dann wollte sie auch bemerkt haben – nichts – nichts! Daß ihrem scharfen Blicke sich auch gleich Alles enthüllte! Vorläufig beschränkten sich Beide, um ein militärische Bild zu gebrauchen, auf Recognoscirung. Ein leichter Angriff, vielleicht ein Schuß – dann zog man sich gegenseitig wieder zurück, immer auf Vedette – und dann war es wieder einige Zeit ruhig. Wir haben so eine Recognoscirung von Fauteuil zu Fauteuil gesehen.

„Und doch – doch sollte ich ihn nicht als meinen Feind betrachten,“ sagte sich Regina, indem sie in ihrem Stübchen auf und ab ging. „Was ich beobachtet habe – darnach müßte er mein Verbündeter sein. Wir verstehen uns auch in dem, was uns verbündet, in demselben mächtigen Drang, der uns in die Nähe dieser beiden Menschen treibt; wir empfinden dasselbe innere Auflodern, hoffnungslos auf und nieder gehend und dann wieder mit neuer Macht sich entfachend – das Lächeln eine Lüge und nur der innere Wehschrei Wahrheit – Erich! Nein, nein! Ich will es ersticken; ich will nicht vor mir selbst versinken. Mich verachten zu müssen, wäre für mich der Tod.“

Dann lächelte sie vor sich hin, als ob ihr der Gedanke an den Tod ein Labsal brächte.

Es war Nacht um sie und Stille. Plötzlich meinte sie ein tiefes Aechzen zu hören. Hatte sie das Wehklagen ihres eigenen Herzens vernommen – den laut gewordenen Kampf widerstreitender Gefühle? Im Anfang glaubte sie es; denn es ward wieder still um sie, wie zuvor. Nach einer Weile erklang das nämliche Aechzen und, wie es ihr schien, stärker als zuvor. Es wurde ihr unheimlich zu Muthe. Sie hielt den Athem an und horchte schärfer. Dasselbe Geräusch.

„Ist Jemand hier?“ rief sie mit stockender Stimme.

Keine Antwort. Um sie war Nacht und Stille. Mit fester Hand ergriff sie den Leuchter, öffnete die Stubenthür und sah hinaus, ob Jemand auf dem Flur wäre. Sie sah nichts. Dann ging sie wieder in’s Zimmer zurück, und nun konnte sie ganz deutlich vernehmen, daß jenes Geräusch von oben kam.

Das Haus, welches sie bewohnte, hatte nur drei Fenster in der Front; über ihr wohnte noch ein einzelner Miether, der Poltergeist, von dem sie gesprochen hatte.

Regina überlegte eine Weile. Das Geräusch klang fast wie ein dumpfer Hülferuf an ihr Ohr. Rasch entschlossen stieg sie mit einem Lichte die Treppe hinauf und horchte an der Thür. Das Röcheln kam von drinnen. Sie klopfte und erhielt keine Antwort – dieselben Laute in verstärktem Grade. Dann drückte sie auf die Klinke und trat ein.

Durch sie kam erst Licht in die kleine, enge Stube. – Sie erblickte einen alten Mann, klein, mager, mit einem so kahlen Schädel, daß er fast wie ein Todtenschädel glänzte; um das Kinn und den zahnlosen eingefallenen Mund wuchs ein kurzer, struppiger, weißer Bart. Es war eine Erscheinung, die Regina unheimlich berührte, namentlich wie sich die grünlich schimmernden Augen nach ihr aufthaten. Er war nur nachlässig bekleidet und lag auf der Erde, den Kopf auf der Kante des Sophas.

„Sind Sie krank?“ fragte Regina.

Er suchte seinen Kopf nach der Sprecherin zu erheben.

„Ich – ich sterbe!“ stöhnte er.

Rasch stellte sie das Licht auf den Tisch und versuchte den alten Mann mit ihren kräftigen Armen auf das Sopha zu heben; es gelang ihr. Da – ein scharfer Luftzug – und das Licht war erloschen. Jetzt erst merkte Regina, daß das der Thür gegenüberliegende Fenster weit geöffnet war. Der Himmel mit seiner Sternenpracht schaute in das ärmliche Gemach.

„Was fehlt Ihnen?“ fragte Regina auf’s Neue.

„Ich – ich bin vergiftet – die Cigarre, die er mir zu rauchen gab –

Das Nächste war, daß ein Arzt geholt wurde. Das sagte sie auch dem Kranken, der bei vollem Bewußtsein war, und er schien zufrieden damit. Sie ging hinab in ihre Stube, machte Licht und weckte die Leute im Hause, damit Jemand nach dem Arzte ginge. Es geschah, und Regina kehrte zu dem Alten zurück; sie faßte nach seinem Puls. Die Schläge waren nicht zu fühlen. In der Pause, die bis zur Ankunft des Arztes verging, sah sie sich im Zimmer um. Die Einrichtung trug den Stempel der größten Bedürfnißlosigkeit. Schlechte, altmodische Möbel, Staub und Unordnung überall, aber im Gegensatze dazu eine stattliche Reihe höchst sauber und sorgfältig gebundener Bücher; auf einem Seitentische lag ein astronomischer Atlas aufgeschlagen, und in dem offenen Fenster, das außen einen kleinen Holzbalcon hatte, stand ein großes, prachtvolles Teleskop, wie man sie sonst nur auf Sternwarten und in Lehranstalten sieht.

„Ehe ich sterbe – noch einmal dort oben in – in meine Sterne möchte ich sehen.“ Nur mühsam brachte er die Worte hervor, aber sie waren doch ganz deutlich zu verstehen.

Der Arzt ließ nicht lange auf sich warten. Er untersuchte sehr aufmerksam.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_043.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)