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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

wünscht sie auch, im Gefühle ihrer vollsten Unabhängigkeit und in der Fähigkeit, sich unter allen Umständen selbst zu bestimmen und den eigenen Weg zu gehen, die Entwickelung der öffentlichen Dinge. Wenn ich in der unangenehmen Lage wäre, unserm allergnädigsten Herrn einen Minister des Aeußern empfehlen zu müssen, der die Aufgabe hätte, binnen achtundvierzig Stunden einen Weltbrand zu entzünden, dann würde ich keinen Augenblick mich bedenken, Ihren Namen, Regina, auf die Liste zu setzen.“

Die Genannte verzog ihre Lippen zu einem leisen Lächeln. Ein fast wehmüthiger Blick irrte scheu hinüber zu dem Sprecher, begleitet von einem fast schmerzlichen Ausdrucke der Züge, als wollte sie sagen: So wenig ist man von denen gekannt, von denen man vor allen Menschen zuerst erkannt sein möchte.

„Und es giebt doch kein friedfertigeres Geschöpf, als mich,“ sagte sie mit weichem Tone. „Gott, gieb den Frieden allen Menschen! ist mein erst Gebet, mit dem ich jeden Morgen an mein Fenster trete und hinauf in seine Wolken und seine Sonnen sehe. Und doch wieder streitlustig wie ein Toreador! Ja, für unsere nationale Ehre, die in diesem Falle bedroht ist, möchte ich Thor’s Donnerhammer schwingen. Und darum war ich heute mit Ihrem Chef sehr unzufrieden.“

Vielleicht sagte sie das nur, um Rechting zu einer Entgegnung zu reizen. Sie wollte mit ihm allein eine geistige Berührung haben, er aber gab sich nicht die Mühe, etwas Ernstliches zu erwidern. Er war von den Verhandlungen abgespannt und mußte noch, wie er bemerkte, in der Nacht einen Bericht für den Minister schreiben. Regina empfand, daß er sie sogar mit jenem Blicke von oben herab behandelte, der sie an ihre Unzurechnungsfähigkeit in solchen Dingen mahnen sollte und den die Beamten des Auswärtigen Ministeriums, wie sie mit leisen Spotte behauptete, von den Olympischen sich geborgt haben.

„Ich hätte nicht hierher kommen sollen!“ sagte sie dann halblaut zu sich selbst.

Auffallend hätte es sein müssen, daß Lideman die Unterhaltung auf dem politischen Gebiet zu erhalten bemüht war. Er unterzog die Haltung des Ministers seiner Kritik und mündete daher in das Capitel von den Allianzen aus, welche die Regierung in einem gegebenen Kriegsfalle suchen würde. Der oberflächliche Ton des Gespräches, das leichte Aufwerfen des Gesprächsgegenstandes und das leise, scheinbar plaudernde Berühren heikler Fragen vermochte doch nicht ganz das tiefere Interesse zu verdecken, das er bei Besprechung dieses Themas zu verfolgen schien. Aber es fiel nicht auf; Rechting war froh, daß er die Präsidentenglocke des Hauses nicht mehr hörte und sich geistig ausruhen konnte; Doris gab sich ganz den Pflichten der Hausfrau hin und dem Vergnügen, welches die Anwesenheit Regina’s ihr gewährte; die Gedanken dieser schweiften bald in anderer Richtung. In ihrem Fauteuil war sie in einer besonders vorteilhaften gedeckten Position, so daß sie Alles zu beobachten vermochte, ohne daß ihre beobachtenden Blicke von den Anderen controllirt werden konnten. Diese Blicke gingen bald auf Doris, dann wieder nach dem Präsidenten – und nur ab und zu schoß einer derselben wie ein feuriger Pfeil hinüber nach Rechting. Dann senkten sich ihre Wimpern wieder, als wollte sie anderen Blicken wehren, ihr in das eigene Innere nachzudringen. Das war so stumme Handlung von Fauteuil zu Fauteuil. Doris wurde nicht müde von Liddy zu erzählen. Nichts war ihr so unwesentlich, so gleichgültig an dem Kinde, daß sie es nicht der Mühe werth gefunden hätte, es „der Pathin“ zu berichten.

„Warum aber trägt die Kleine nicht den Namen ihrer Pathin?“ fragte Lideman. „Ein so stolzer Name! Wie für Fräulein Regina erfunden.“

„Halten Sie mich für stolz?“ fragte sie zurück.

„Ich taxire Sie darauf, daß Sie zum Beispiel eines Verbrechens ganz unfähig wären – aus der Macht Ihres Bewußtseins von sich selbst heraus.“

„Sehr schmeichelhaft, Herr Präsident!“

„Regina selbst wollte nicht, daß Liddy ihren Namen tragen sollte,“ warf Doris ein.

Nomen et omen,“ sagte Regina ernst.

„Lateinisch verstehe ich nicht, Regina.“

„Ich auch nicht, Doris, nur einige Brocken. Also zu deutsch: ein Name ist ein Schicksal. Und Liddy soll nicht Erbin des meinigen, sie soll glücklicher werden,“ schloß sie kaum hörbar für sich.

Rechting war hinausgegangen und kam mit der Meldung zurück, daß das Kind in wonnigem Schlafe ruhe.

„Liddy soll so glücklich wie ihre Mutter werden,“ rief Regina.

„Glücklich sein, Regina, ist eine große Gnade des Himmels, aber noch kein Verdienst.“

„Und bei Dir doch ein Verdienst, Doris, ein Verdienst Deines Herzens! Dich beneiden, hieße, Dir jenes absprechen, ungerecht, schlecht sein. Es kann ja innerlich weh thun, anerkennen zu müssen, wo –“

„Was meinst Du, Regina?“

„Ich meine, Glück sehen, wo man das Gegentheil an sich nicht verschuldet hat. Freilich: geht man tiefer in sich, wird man doch vielleicht finden, daß da nicht Alles in Ordnung ist. Ich wiederhole: Du hast Deine Machtsphäre gefunden und beherrschest sie ungetheilt, und das ist Dein Verdienst. Ich – wenn ich Abends nach Hause komme und mein dunkles Zimmer mit dem Streichhölzchen erleuchte, dann sehe ich, daß ich allein bin. Das ist mein Dasein!“

Die letzten Worte klangen wie eine Klage.

„Warum haben Sie sich denn nicht verheirathet, mein verehrtes Fräulein?“

Der Präsident war es, der diese Frage an Regina richtete – nicht ohne eine Beimischung jener Malice, welche in solchen Fällen die Männer für nicht mehr ganz junge unverheiratete Mädchen haben. Regina antwortete nicht gleich; sie begnügte sich ihn groß anzusehen – mit erstaunten Blicken.

„Habe ich Sie denn schon nach Ihren Herzensgeheimnissen gefragt?“ stieß sie fast brüsk hervor. „Wissen Sie, was in dieser Frage liegt? Damit fragen Sie mich, ob ich je die Natur mit gedankenvollem Auge angesehen, ob ich je über das Räthsel und die Bedingungen einer weiblichen Existenz nachgedacht habe; damit fragen Sie ein Mädchen, ob sein Herz wohl auch die Wundnarben von Kampf und Schmerzen trage – damit verlangen Sie, daß es die Herzklappen öffne und Ihnen alle ihre Geheimnisse zeige, und dieses Verlangen stellt man in einem Tone, wie wenn man Jemanden fragt, ob er schon im Leben Zahnschmerzen gehabt habe.“

Regina war erregt. Die Blässe ihres Gesichtes war unter der leichten Blutröthe, von der ihre Wangen überzogen waren, geschwunden. War es die Geschichte ihres eigenen Herzens, die sie hier in wenigen Zügen gab? Fast war es anzunehmen. Jedes Frauenantlitz hat selbst im Niedergehen des Jugendreizes Augenblicke, wo dieser unter’m Strahl der Erinnerung noch einmal aufleuchtet. Die strengen und ernsten Linien ihres Gesichts erschienen plötzlich weich, und der klare Blick hatte wieder jenen warmen, dämmerigen Glanz der Jugend, der wie ein Weben von unendlichem Träumen und Sehnen anzieht und fesselt. Aber nur einen Moment; dann war der zauberische Schein wieder verschwunden und die Dreißigjährige war wieder da, in der hohen fast über ihr Geschlecht hinausgehenden Gestalt, in einer gewissen Ungelenkigkeit der Bewegungen und in der Angriffslust ihres Wesens, die sich besonders zeigte, wo Einer nahen wollte, um hinter die Altarthür ihres Innern zu schauen.

Der Präsident empfand die Zurechtweisung recht wohl, die ihm von Regina geworden war. Er versicherte, daß sie mit ihrer Ausdeutung seiner Frage viel zu weit gegangen sei, und suchte scherzhaft zu beweisen, daß bei den meisten unverheiratheten Frauen die selbstverschuldete Laune eine weit größere Rolle spielte, als das ungerechte Schicksal, welches sie so oft bei ihrer Ehelosigkeit anzuklagen sich berechtigt glaubten.

Regina schüttelte den Kopf. Damit deutete sie an, daß sie diese Behauptung in keiner Weise gelten lassen könne.

„Wenn für eine Frau die Herzensstunde kommt, möchte ich die sehen, die sich von einer Laune regieren ließe! Aber es giebt nur wenige goldene Sonntagskinder, denen die Wunderblume der wahren Liebe erblüht – jener Liebe, welche der Mythus mit vollem Recht in der Gestalt einer flammenden Fackel darstellt, der Fackel, mit der man einem anderen Wesen das Dasein in Licht verklärt, erwärmt oder mit der man sich selbst vernichtet.“

„Eines hast Du vergessen, Regina,“ warf Doris mit ihrer silberhellen Stimme dazwischen – „die erleuchtende Kraft der Liebe, mit welcher wir Andere auf den rechten Weg weisen können.“

Hier ging, von einer Inspiration belebt, das Auge der älteren Freundin voll über die junge Frau auf.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_042.jpg&oldid=- (Version vom 24.3.2018)