Seite:Die Gartenlaube (1879) 026.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879)

möchten; aus diesem Grunde, wie schwer es jedem feineren Gefühle auch werden mag, in einen wirren Hexensabbath der widrigsten Leidenschaften zu blicken, ist es wohl nützlich und zweckmäßig, daß dieses tragikomische Schattenspiel in seinen Hauptgestalten und Hauptscenen nochmals vor den geistigen Auge eines großen Leserkreises vorübergleite, den Einen zum abschreckenden Exempel, den Andern zur ernsten Mahnung, daß sie sich rüsten und wappnen gegen die Todfeinde moderner Cultur und Wissenschaft, sie mögen kommen, woher sie wollen.

Vor etwa drei Jahren wurde der deutsche Büchermarkt durch ein dickleibiges Werk bereichert, welches über die christliche Gesellschaft und den radicalen Socialismus zu handeln versprach, der Verfasser derselben hieß Rudolf Todt und war ein märkischer Landpfarrer, welcher in der Welteinsamkeit seines Dörfleins den heroischen Entschluß gefaßt hatte, die sociale Frage zu lösen. Er wählte hierzu ein ebenso bequemes, wie überraschendes Mittel: er schrieb besagtes Buch, welches auf etwa fünfhundert Seiten den Nachweis zu erbringen sucht, daß alle Hetz- und Schlagworte des socialdemokratischen Wühlerthums niederer Gattung genau dasselbe seien, was einst der Erlöser auf seinen Wanderungen im heiligen Lande gelehrt habe, wenn auch ein Bischen mit anderen Worten. Wohlgemerkt: die Hetz- und Schlagworte des socialdemokratischen Wühlerthums niederer Gattung – denn von den wissenschaftlichen Werken des radicalen Socialismus wußte Herr Todt entweder nichts, oder er wollte nichts davon wissen. Die materialistische Weltanschauung von Marx, welche das Wirken aller geistigen und sittlichen Kräfte im Völkerleben leugnet und die ganze Weltgeschichte nur als ein Spiel der grobsinnlichen, materiellen Bedingungen auffaßt, unter denen die menschliche Gesellschaft ihren Lebensunterhalt erwirbt und umtauscht, stößt naturgemäß jeden Gottesglauben von ihrer Schwelle, und auf dieser Weltanschauung baut sich das ganze System des modernen Communismus auf. Allein dieser geringfügige Umstand hinderte Herrn Todt nicht, zu erklären, daß die Leugnung Gottes nur ein äußerliches Beiwerk der neuen Lehre sei, welches sich die guten Socialdemokraten von den bösen Liberalen angewöhnt hätten. Ganz im Gegentheile suchte er nachzuweisen und wies es in seiner Art auch nach, daß die deutsche Socialdemokratie durchaus und durchweg auf dem Felsengrunde der Bibel fuße. Was beispielsweise ihren Grund-, Haupt- und Kernsatz von der Nothwendigkeit des Gemeineigentums angeht, so fragt Herr Todt entrüstet, wie man nur den tiefen, sittlichen Gehalt dieses Gedankens verkennen könne? „Er ist die Consequenz des göttlichen Wortes (I. Moses 1, 28 ff.): Füllet die Erde und machet sie Euch unterthan und herrschet über die Fische im Meere etc.“

Aehnliche Beispiele, von denen das ganze Buch wimmelt, oder genauer: aus denen es besteht, können hier nicht angeführt werden, sie gehören in ein Handbuch über Geisteskrankheiten, und es muß genügen, das Endergebniß dieser kritischen Untersuchungen über die socialistische Theorie wortgetreu wieder zu geben; es lautet: „Ihre Grundprincipien bestehen nicht nur vor der Kritik des Neuen Testaments, sondern enthalten geradezu evangelische, göttliche Wahrheiten; ihre Anklagen gegen die heutige Gesellschaftsordnung sind größtenteils begründet, ihre Forderungen berechtigt.“

Diese wundersame Weisheit hatte der Pfarrer Todt aus der Bibel „destillirt“ und „geklärt“, wie er sich auszudrücken liebte; daneben hatte er freilich auch noch eine andere Methode angewandt, welche sich schwer kennzeichnen läßt, ohne die einem so „frommen“ Manne gebührende Ehrfurcht zu verletzen. Um zum Beispiel zu erhärten, daß das Wachsthum des nationalen Wohlstandes heutzutage immer nur den besitzenden Classen zu Gute komme, citirte Herr Todt eine Budgetrede Gladstone’s von 1863, worin bei Betrachtung der englischen Einkommensteuer und ihrer Erträge eine überraschende Vermehrung von Macht und Reichthum der besitzenden Classen erwähnt wird, verschwieg aber wohlweislich, daß der englische Schatzkanzler in demselben Athemzuge eine gleichzeitige Hebung der arbeitenden Classen festgestellt hatte, die er in jeglichem Lande und Zeitalter beinahe beispiellos nannte. Herr Todt ließ also behufs besserer Aufwiegelung der Arbeiter durch unwahre Vorspiegelungen einen Mann von Gladstone’s Weltruf genan das Gegenteil von dem sagen, was er gesagt hat. Aber selbst bei dieser nicht gerade hervorragenden Leistung war er nur ein Nachbeter und Nachtreter socialdemokratischer Vorgänger. Marx selbst hatte ihm das Hetzkunststückchen vorgemacht, wobei es sich der profane Mann denn freilich gefallen lassen mußte, daß sein Kunststückchen von wissenschaftlichen Gegnern eine literarische Fälschung sonder Gleichen genannt wurde.

Nicht um ihrer selbst willen, sondern als das Kukuksei, aus welchem die christlich-sociale Agitation entschlüpfte, beansprucht diese Schmähschrift eine ausführlichere Erwähnung. Bei ihrem Erscheinen wurde sie wenig beachtet, die publicistische und wissenschaftliche Kritik zuckte einfach die Achseln, auch die „Kreuzzeitung“ war ehrlich genug, diese Demagogie beim rechten Namen zu nennen, nur die ultramontanen Blätter, welche einen so wunderbar feinen Instinct für alles Unheil haben, welches der evangelischen Kirche droht, priesen das Werk als eine glänzende Offenbarung socialpolitischer Weisheit. Indessen die grellen Trompetenstöße dieser Reclame verhallten, und so würde das Geisteskind des Pfarrers zu Barenthin längst den ewigen Schlaf in den ungeheuren Katakomben der socialpolitischen Maculatur schlummern, wenn sich nicht eben in den ersten Tagen von 1878 herausgestellt hätte, daß es nicht sowohl eine harmlose Abhandlung, als eine „große That in Worten“ darstellen solle. Denn aus den Geist und das Zeugniß dieses Buches hin thaten sich mit Herrn Todt der Hofprediger Stöcker und eine kleine Schaar von Agrariern, Schutzzöllnern, Pietisten, Particularisten und Socialisten zu einem Centralverein zusammen, der die „sociale Reform“ auf Grund „evangelischer göttlicher Wahrheiten“ einzuleiten beabsichtigte. Zunächst wurde ein Wochenblatt unter dem Titel „Staatssocialist“ gegründet, welches die Fäden weiter spinnen sollte, die in dem Buche von Todt geknüpft waren.

Der „Staatssocialist“ erwies sich den Begründern dankbar und seiner Aufgabe durchaus würdig. Er stellte sein Vorbild noch über die heilige Schrift und that den denkwürdigen Ausspruch: wenn statt der achtzig Millionen Bibeln, welche von England aus vertrieben werben, deren nur vierzig Millionen und statt der anderen vielleicht hunderttausend Exemplare des Todt’schen Buches verbreitet würden, so müßte das religiöse Resultat ein günstigeres sein. Dabei suchte er den großen Meister noch zu übertreffen und schrieb gleich in einer seiner ersten Nummern mit lapidarer Kürze über die heutige Ordnung: „Der rasende Concurrenzkrieg wirft die Menschheit aus dem Besitze aller ihrer Heiligtümer. Es giebt keine Ruhe des Geistes, keinen Frieden der Seele mehr. Ueberall Enteignung! Der Mann verliert seine Würde, das Weib seine Ehre.“ Um diese frohe Botschaft überallhin zu verbreiten, sollte das deutsche Reich in zwölf Agitationsbezirke geteilt und in jedem derselben ein beständiger Agitator unterhalten werden. Als „vortreffliches Material“ für diesen Posten wurden junge Schullehrer und junge Kaufleute empfohlen, als unentbehrlichste Eigenschaft für ihre Thätigkeit eine starke, deutliche Stimme bezeichnet, nebenbei wurde dann noch erwähnt, daß sich solche Personen die notwendigen Kenntnisse rasch aneigneten. Dies Alles war deutlich zu lesen in einem Circular des Centralvereins für Socialreform, welches sein Organ veröffentlichte.

Nunmehr begann die Sache ruchbar zu werden im deutschen Reiche, aber allzu stolz durfte sie nicht auf die Sensation sein, welche sie erregte. Daß sich alle Elemente des freisinnigen und patriotischen Bürgerthums gegenüber dieser Filiale der socialdemokratischen Agitation – und zwar einer Filiale, die viel widerwärtiger war, als der Hauptstock – Schulter an Schulter zusammen schlossen, braucht kaum hervorgehoben zu werden, aber die Gerechtigkeit gebietet zu betonen, daß das ganze, Unternehmen auch von positiv christlicher Seite, so von Professor v. d. Goltz in Königsberg, von Beyschlag’s „Deutsch-evangelischen Blättern“ und Andern, einer geradezu vernichtenden Kritik unterzogen wurde. Auch die meisten Mitglieder des Centralvereins, soweit sie überhaupt einen politischen und wissenschaftlichen Namen zu verlieren hatten, zogen sich bald offen oder stillschweigend zurück.

Im Reichstage geißelte Graf Bethusy-Huc in starken Worten den unglaublichen Humbug. Daneben hatten sich die Herren Todt und Genossen dann freilich auch mancherlei fördernder Unterstützung zu erfreuen, besonders Seitens amtlicher Organe der evangelischen Kirche. Das Consistorium der Provinz Sachsen empfahl sogar ausdrücklich das Todt’sche Buch seinen untergebenen Geistlichen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1879). Leipzig: Ernst Keil, 1879, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1879)_026.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)