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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Drei Schalksnarren.
Von Johannes Proelß.

Als vor wenigen Jahren Julius Wolff uns mit einem „Till Eulenspiegel redivivus“ beschenkte, wandte sich die öffentliche Aufmerksamkeit wieder einmal mit besonderer Vorliebe dem alten deutschen Schalk der Schälke zu, von dem die durch einen Denkstein in das Bereich der Geschichte hineinragende Sage behauptet, daß er im Jahre 1350 zu Mölln gestorben und begraben worden sei. Die ausführlichen Besprechungen, welche die Kritik dem Schelmenliede J. Wolff’s damals darbrachte, versäumten nicht, mit dankbarer Liebe und Verehrung des berühmten Kneitlinger Bauernsohns, der hier ein Auferstehungsfest im Geiste und Frack des neunzehnten Jahrhunderts feierte, zu gedenken, und das Fischart’sche Ruhmwort fand erneute Erhärtung:

Am ganzen Rhein auf und ab
Der Menschen Gedächtniß ist sein Grab.

In diesen Tagen ist nun wiederum ein Buch erschienen, welches den Schatten des unruhigen, schalkigen Vaganten in der Erinnerung heraufbeschwört: Murad Efendi’s „Nasreddin Chodscha“, welchem die 1838 in Constantinopel zuerst erschienenen „Latha’if–i Chodscha Nasreddin“ zu Grunde liegen und dessen Held uns vom Dichter selbst als ein „osmanischer Eulenspiegel“ vorgestellt wird. Wer dieser war? Ein türkischer Schulmeister, das ist Chodscha zu deutsch, der um das Jahr 1400 in dem bei Brussa gelegenen Güssel Hissar wirkte, also in einer Zeit, wo die griechische Landschaft Anatolien in viel strengerem Sinne als heute türkisch war. Wie uns Murad erzählt, genießen seine witzigen Einfälle und Schwänke noch heute im Orient kaum geringere Popularität als die unseres Eulenspiegel bei uns. Noch heute werden sie allerwärts citirt und bewundert, und neue Streiche und Witzworte finden daselbst unter der Flagge seiner Vaterschaft am schnellsten und nachhaltigsten Anerkennung und Verbreitung.

Stolze Namen sind verschollen;
Chodscha’s Ruhm noch heut besteht.
Nachruf auch ist Spiel der Launen,
Wie ihr’s an dem Narren seht.

Mögt ihr manchen seiner Streiche
Tadeln als zu dünn geschürzt,
Als zu bäurisch, derb, vielleicht auch
Eurem Gaumen zu gewürzt;

Dennoch in Serail und Hütte
Wird noch Nasreddin’s gedacht,
Sich auf Nasreddin berufen
Und der Nasreddin belacht.

Erinnern nicht diese Worte, in denen Murad den Ruhm seines Helden verkündet, an die begeisterte Apostrophe, welche Julius Wolff in einer Lebensskizze des alten Till diesem gewidmet hat? „Sein Andenken lebt fort im deutschen Volke, wie sein Geist noch lebendig ist im Volkswitz und im guten Humor des deutschen Gemüths, mag er sich offenbaren, wie und wo er will, an Schriften und Liedern, aus der Gasse, in Wort und Bild, an That und Thorheit. Wer wird über fünfhundert Jahre nach unserem Grabe fragen? Und was war Till? Was hat er gethan, geschaffen, entdeckt, erfunden, hinterlassen? Nichts. Eines Bauern Sohn war er, ein fahrender Mann und ein Narr, aber ein kluger Narr, der wohl wußte, daß unser Wissen Stückwerk ist.“

Wohl hat darnach Franz von Werner (dies ist der angeborne Name Murad’s) ein Recht, seinen Helden einen osmanischen Eulenspiegel zu taufen, wenn auch ein näherer Vergleich allerdings ergiebt, daß die Aehnlichkeit Beider in Thun und Rede nicht gar so groß ist, so wenig der türkische Volkscharakter dem des Deutschen im Reformationszeitalter gleicht. Der Sinn des Osmanen neigt sich dem Maßvollen zu; Ernst und Würde im Benehmen, im Bewegen und Sprechen ist ein Gebot auch für den gewöhnlichen Türken. Sein Eulenspiegel ist daher kein Fahrender, kein unruhiger Springinsfeld, dem Ernst und Würde widerwärtige Dinge, kein Thunichtgut, der nichts im Kopfe hat als lose Streiche, wie unser Till, seine Bedürfnisse sind gering und nöthigen ihn zu keinem Verstoß gegen die Moral, während es von diesem im Volksbuch heißt: „Gesottenes und Gebratenes wollte er allezeit essen, darum mußte er sehen, wo er es nähme.“ Nasreddin ist ein Gelehrter, ein Philosoph, ein gewissenhafter Familienvater; sein Heimathsort und dessen Weichbild genügen ihm zum Schauplatz seiner Thaten und Predigten. Er benutzt nicht die Schwächen seiner Nebenmenschen zu seinem Vortheil, sondern lächelt meist nur vom erhabenen Standpunkt seiner Weltanschauung über sie und findet darin seine Befriedigung. Ein lachender Philosoph, pfeffert er seinen Witz mit heimlichem Spott, und durch seinen Humor schimmert ein tiefsinniger Pessimismus. Seine Schwänke laufen daher meist auf eine ironische Wendung, seltener auf ein eigentliches mit Handlung verquicktes Abenteuer hinaus. Nur in einzelnen Fällen, so wenn Nasreddin den Aga seines Orts, der anbefohlen hat, man solle, wenn er niese, „Gesundheit“ rufen und dabei der Sitte gemäß in die Hände klatschen, durch seine unzeitgemäße Formbeflissenheit in den Ziehbrunnen purzeln läßt, klingt das an die eigenthümliche Ironie an, die wir „Eulenspiegeleien“ nennen und deren Wesen in der wörtlichen Auffassung und unzeitigen Ausführung erhaltener Aufträge besteht. Dem Metzger, der Eulenspiegel auf dem Markte zuspricht, er solle doch etwas mitnehmen, läßt dieser seine Bitte nicht unerfüllt, und als der Bäcker ihm zuruft: Hebe dich zum Hause heraus, so nimmt er den Weg durch’s Dach. Die Kunst des Silbenstechens ist es, die Beiden den gleichen Meisterhut auf das Haupt drückt, aber in dieser finden Beide wiederum ihren Meister in einem andern Erzschelm des Ostens, der im Uebrigen in wunderbarer Weise die hervorgehobenen Unterschiede in seinem Wesen vereint. Ein Weiser und Philosoph, ein Schlemmer und Vagabond zugleich, tritt uns Abu Seid von Serug, der lustige Liebling Arabiens, entgegen, der in Hariri’s Makamen ein unsterbliches Leben genießt und der uns Deutschen durch Friedrich Rückert’s bewunderungswürdige Uebertragung dieser Dichtung schon lange eine vertraute Gestalt geworden. Er ist unstreitig der poetischste der im Titel zum Kleeblatt vereinigten Schelme.

Als Deutschland noch im Schatten der Scholastik träumte, genossen[WS 1] bereits die arabischen Völker den klaren Sonnenschein einer in sich ausgereiften, eigenartigen Cultur. Charakteristisch für diese ist die Stellung, welche sie dem Dichter einräumte. Die in dem glücklichen Arabien umherziehenden Nomaden waren sowohl durch ihre Lebensweise und Umgebung wie durch den Genius ihres Volkes mehr denn je ein anderes Volk auf die Poesie als fast ausschließliche Quelle höheren Lebensgenusses angewiesen. „Das Nacht- oder Mondscheingespräch der Araber, ‚Semer‘“ so berichtet Rückert, „ist ein Hauptstück ihres geselligen Lebens. Mit seiner stillen Einförmigkeit muß es ihnen die ganze Mannigfaltigkeit von lauten Vergnügungen ersetzen, die in unseren Städten die Nacht zum Tage machen. Aus der eigensten Natur des Bodens hervorgegangen, geht diese volksthümliche Sitte aus dem Naturstand in den Culturstand, aus den Zelten in die Städte und aus dem arabischen Heidenthume in den Islam herüber, von dessen Strenge sie sogar gleichsam erst ihre Nahrung erhält.“ In der That, der Koran, indem er Wein und Spiel, Musik und Tanz verbot, förderte wie kein anderes Religionssystem die Pflege der Sprache und der Kunst, die auf der Sprache beruht. Jede Art von Spiel war den Gläubigen verpönt, nur das Wortspiel verblieb ihnen. Bei ihren Geschäften sprachen die Araber wenig; um so mehr erschien ihnen die Sprache als Gegenstand einer Kunst, ja als Kunst selbst, und je kunstvoller es Einer verstand, sie nach Form und Inhalt zu gebrauchen, je mehr war er Gegenstand allgemeiner Bewunderung. So erklärt sich die glänzende Stellung des Dichters im öffentlichen Leben der Araber. Wenn in einem Stamme ein hervorragender Dichter auftrat, so erschienen Gesandtschaften der übrigen, um ihm Glück zu wünschen, und es wurden ihm zu Ehren Gastmähler und Feste veranstaltet. Redeturniere, Sängerkriege waren nichts Seltenes und konnten leicht Ereignisse von höchster Bedeutung werden. Einen Abglanz dieser Verhältnisse hat der Einfluß der spanischen Araber in die Entwickelung der abendländischen Poesie hinein geleitet, indem derselbe auf der Sprachinsel der Provence die Republik der Troubadours entwickeln half.

Das Vorstehende erklärt den uns gleichzeitig so fremdartigen und doch so seltsam anziehenden Charakter Abu Seid’s. Die

  1. Vorlage: denossen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_830.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)