Seite:Die Gartenlaube (1878) 822.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

‚Da steckt eine bübische Teufelei dahinter; ich kenne den Fritz; es ist kein falsches Haar an ihm.‘

Ach, Kind, was ist damals hier gebetet und geweint worden in der kleinen Stube! Die Hände haben wir uns wund gerungen um das junge Leben, aber der liebe Gott läßt sich seine Uhr durch keinen Menschen stellen, und am neunten Tage, als gerad’ das Abendroth so recht golden verglühte, da fiel sein Schein auf ein bleiches Gesicht und die blauen Augen waren geschlossen für immer. – So friedlich lag sie da, so still, so fern von allem Herzeleid. Ich aber hab’ mich da drüben niedergeworfen und hab’ geschrieen vor übergroßem Schmerz und Weh –“

Die alte Frau hielt inne und wischte sich die Augen. Lieschen hatte den Kopf in den Schooß der Muhme geborgen, und es schien, daß auch sie leise vor sich hin schluchzte.

„Denselben Abend,“ fuhr jene endlich fort, wie die Lisett gestorben war, da lief ich in den Garten, gerad’ als man unten im Dorf die Todtenglocke für sie läutete; denn ich hatte nicht Ruh noch Rast auf einer Stelle, und wie ich da so steh’, da blitzt auf einmal drüben im Thurm ein Licht auf. Ich war erschrocken, und dann brachen meine Thränen von Neuem hervor, denn sie, die nun so still da lag, sie konnt’s ja nicht mehr sehen – und so lehnte ich mich denn an die Wand des Hauses und weinte so recht aus Herzensgrund. Von drinnen aus der Wohnstube da hört’ ich den Schritt des Müllers – der ging ruhelos auf und ab – und dann wieder der Mutter banges Schluchzen und des Sohnes tröstende Stimme; sonst war es still ringsum, todtenstill. Das Geläut war nun auch verstummt; die Räder der Mühle standen schon den ganzen Tag, und die Knechte und Mägde da drüben im Hause, die schlichen so leise umher und flüsterten nur mit einander, als wollten sie die Ruhe unserer Lisett nicht stören.

Und da auf einmal hör’ ich von drüben Jemand kommen, so einen rechten festen raschen Tritt. Jesus! mein Christian! dacht’ ich, aber in demelben Augenblick tritt’s auch schon auf den Mühlensteg, und eine kecke Stimme fängt an, so recht laut und vergnügt ein Lied zu trällern – mir ging’s durch Mark und Bein – Herr des Himmels, das war des Baron Fritz’ Stimme! Und ehe ich es versehe – denn ich war wie gelähmt vor Schreck – ist er im Hause drin, und wie ich dann nachkomme, hatte er schon die Stubenthür geöffnet und stand dem Müller gegenüber; sein glückliches Gesicht und die blitzenden Augen suchten in allen Winkeln herum nach der Lisett.

Die Frau sank mit einem Schrei in den Sessel zurück, als sie ihn erblickte, der Müller aber stürzte auf ihn zu, und mit dem Ausruf:

‚Verfluchter Bube, willst Du mich auch in meinem Schmerz noch äffen?‘ riß er ihn in’s Zimmer hinein.

Der Müller war ein jähzorniger Mann, aber Lisett’s Bruder sprang zwischen die beiden Ringenden und rief:

‚Erst frage ihn, ob er schuldig ist, Vater!‘

Der alte Mann jedoch stellte sich vor ihn hin und schrie:

‚Die Lisett! Sie suchen wohl die Lisett, Herr Baron? Da droben liegt sie; gehen Sie hinauf und sehen Sie sie an!‘ Dann schlug er sich die Hände vor’s Gesicht in heißem, wildem Schmerz.

‚Komm, Fritz!‘ sagte unser junger Herr und zog den Erschrockenen in das Nebenzimmer, ‚komm her! Ich will Dir Alles sagen, was Trauriges über uns hereingebrochen ist.‘ Und dann schloß sich die Thür hinter ihnen, und ich blieb allein mit den weinenden Eltern.

Nebenan hörte man kein Wort, nur einmal ein schmerzliches Aufstöhnen – das war Alles; wie in endloser Pein vergingen die Minuten. Ich saß am Fenster und schaute in die Nacht hinaus, plötzlich aber schrak ich zusammen, den draußen an die Scheibe hatte sich ein Gesicht gepreßt und blickte mit ein paar großen dunklen Augen, aus denen Angst und Entsetzen leuchtete, in’s Zimmer hinein, und dann winkte mir eine Hand, und das Gesicht war verschwunden. Ich hatte es erkannt – es war die tolle Fränzel.

‚Gott behüt’ uns!‘ dacht’ ich, ‚was will Die wieder?‘ Aber ich ging leise hinaus, und da stand sie und klammerte sich mit beiden Händen an die Pfosten der Hausthür, und der schwache Lichtschein aus dem Fenster der Stubenthür zeigte ein vor Angst fast verzerrtes Gesicht, über das die schwarzen Haarsträhnen aufgelöst hingen, das Schreckliche ihrer Erscheinung noch vermehrend. Sie zitterte so, daß sie sich kaum aufrecht zu erhalten vermochte, und als ich sie fragend und verwundert ansah, da bewegte sie ihre blassen Lippen, ohne daß ein Wort herüber kam.

‚Die Lisett –‘ fragte sie dann mit völlig klangloser Stimme, ‚ist’s wahr, was die Leute sagen, hat’s vorhin um die Lisett geläutet?‘

‚Sie liegt droben im ewigen Schlaf,‘ erwiderte ich.

‚Heiliger Gott!‘ schrie das Mädchen auf, ‚ist’s wahr, ist’s wirklich wahr?‘

In dem Moment kam Baron Fritz aus der Nebenthür, hinter ihm unser junger Herr, der ein Licht in der Hand trug. Er war blaß wie der Tod, und die Augen glühten ihm förmlich im Kopfe; offenbar wollte er in’s Sterbezimmer hinauf. Da fielen seine Blicke auf die Gestalt an der Erde, und sie erkennend blieb er stehen.

Der sollte ich das Andenken an meine Braut geschenkt haben?‘ sagte er unheimlich ruhig, während seine Augen mit verächtlichem Ausdruck auf ihr haftete, ‚Friedrich, glaubst Du das? Sprich, Du Geschöpf,‘ rief er dann mit zittender Stimme. ‚Du hast das goldene Herz gestohlen, das ich im letzten Augenblick meiner Abreise von hier vermißte!‘

Das Mädchen hob die Hände zu ihm empor. ‚Nein, o nein, Herr Baron –‘

‚Wirst Du gestehen, nichtsnutzige Dirne!‘ rief er und hob die Reitpeitsche, die er in der Hand hielt, zum Schlage.

‚Schlagt zu, Herr!‘ rief sie, ‚ich hab’s verdient, aber ich habe es nicht gestohlen, beim ewigen Gott nicht! Man hat es mir gegeben, so wahr ich hier liege; ich hätt’s ja nimmer zum Spaß umgehängt, hätt’ ich gewußt, wie’s auslaufen thät’.‘

Baron Fritz ließ den erhobenen Arm sinken. ‚Hinaus mit Dir!‘ rief er und wies ihr die Thür, ‚Du sollst wenigstens nicht die Ruhe hier im Trauerhause stören; ich fasse Dich doch noch.‘

Sie raffte sich auf. ‚Erbarmen, Herr!‘ rief sie, ‚vergeben Sie mir; ich bin ein eitles dummes Ding, aber schlecht bin ich nicht – o Herr Baron, ich wollt’ ja gern sterben, könnt’ ich die Lisett wieder lebendig machen.‘

Sie sah so zerknirscht, so wahrhaft jammervoll aus, als sie vor ihm stand, die Hände gefaltet, mit den verweinten dunklen Augen, daß unser junger Herr den Baron Fritz bat: ‚Frage sie, wer ihr befahl, das kleine Herz zum Spaß umzuhängen! Vielleicht sagt sie’s.‘

‚Wer hat Dir befohlen, daß Du das goldene Herz umhängen solltest?‘ wiederholte der Baron mechanisch die Frage, und in seinen Augen blitzte es auf einmal auf wie die Ahnung von etwas Entsetzlichem.

‚Sag’s, Fränzel,‘ redete ihr der junge Herr leise zu, ‚sag’s, wenn wir es glauben sollen, daß Du wirklich nichts Böses im Sinne führtest, als Du –‘

‚Nein, wahrhaftig!‘ schrie sie auf, ‚ich hab’ nichts Böses gedacht, ich wollt’ nur die Lisett einmal ärgern, weil sie immer so stolz that gegen mich, und ich konnt’ ihr doch nichts anhaben, und deshalb war ich gleich dabei, als sie mir sagte, ich sollte – Nein, ich verrath’s nicht, Jesus! ich darf nichts verrathen.‘ –

Sie zitterte am ganzen Leibe.

‚Geh!‘ sagte Baron Fritz plötzlich, ‚ich will es jetzt nicht wissen; es ist ein Bubenstück ausgeübt worden, ein teuflisches Bubenstück.‘

Er wies mit dem Arm hinaus, und das Mädchen lief schluchzend in die finstere Nacht hinein; ich trat vor die Thür und schaute ihr nach; ich konnt’ gerade noch die Gestalt über den Mühlensteg ziehen sehen, dann verschwand sie in der Dunkelheit. Draußen aber war es eine unheimliche Nacht geworden, und es ging ein Sausen und Brausen durch die Luft, ein fremdartig schrilles Pfeifen und Heulen; der Himmel hatte sich bezogen; kein einziges Sternlein blitzte mehr hernieder, und die Aeste der alten Linden ächzten und bogen sich unter gewaltigen Windstößen; es war zum Fürchten unheimlich geworden da draußen, und doch blieb ich stehen. Wenn so ein plötzlicher Sturm daher rast, so sagt man bei uns auf dem Lande, es habe sich ein verzweifelndes Menschenkind selbst das Leben genommen, und man betet für seine arme Seele ein Sprüchlein, wenn man gleich nicht wissen kann, wer es sei, und ich faltete auch die Hände und wollt’ ein Gebet sprechen, da fiel mir’s schrecklich auf’s Herz. Herr Gott im Himmel, wenn die Fränzel –? Im ersten Augenblick wollt’ ich ihr nach; dann blieb ich stehen – wo sollt’ ich sie auch suchen?

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_822.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2016)