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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

die äußersten Spitzen des staatlichen Aufbaues unter dem Banne der Veränderlichkeit stünden; die Häupter der Executivgewalt, die Minister und allenfalls ein paar Dutzend Präfecten wechseln: im Uebrigen geht die Verwaltung ganz den gleichen Gang, ob ein Kaiser im Tulerienpalaste oder ein Präsident im Elysée Hof hält; derselbe Geschäftsgang, derselbe bureaukratische Ernst, dieselben Vorzüge und Mängel. In noch höherem Grade gilt dies von der bürgerlichen Gesellschaft. Der beste Beweis hierfür ist die Zähigkeit, mit der sich gewisse Typen inmitten des ungeheueren Strudels der Weltstadt unverändert erhalten, Korkstücken vergleichbar, die im tollsten Schaumgewirbel immer wieder an die Oberfläche emportauchen. In Beziehung auf diese Typen entwickelt Paris eine Pietät, wie sie in keiner anderen europäische Hauptstadt zu finden ist. Selbst die umfassende Neugestaltung des Straßennetzes, wie sie der kühne Seinepräfect Haußmann in Scene gesetzt hat, übte hier keine Wirkung. Gewisse Erscheinungen zogen sich nur weiter nach den äußeren Stadttheilen zurück: im Uebrigen blieb so ziemlich Alles beim Alten.

Verschiedene Straßentypen der französischen Hauptstadt enthüllen sich in ihrer Eigenart erst nach längerer Beobachtung; andere drängen sich selbst dem Blicke des Flüchtigen schon während der ersten Tage seiner Pariser Wanderungen auf. Es sei uns gestattet, aus der Zahl der letzteren eine Handvoll herauszugreifen und für die Leser der „Gartenlaube“ in kurzen Umrissen zu skizziren. Der Stift des Zeichners wird uns bei dieser Aufgabe Schritt für Schritt unterstützen.

Einer der ersten Charakterköpfe, die uns im Weichbilde der französischen Hauptstadt entgegentreten, ist der Employé de bagages, der Gepäckträger, der aus dem Perron des Bahnhofes die wuchtigen Handkarren auf und ab rollt und den Koffer des Ankömmlings nach der Droschke schafft. Der Employé de bagages gehört in die Kategorie jener Weltweisen aus dem Volke, die der unsterbliche Künstler Gavarni so meisterhaft dargestellt hat. Höflich ohne Unterwürfigkeit, diensteifrig ohne Ueberstürzung, liebt der Employé de bagages stille Momente der Selbstbetrachtung, zumal solche, die durch einen kräftigen Schluck Rothwein gewürzt sind. Für die Erscheinungswelt, die er so Tag für Tag in immer wechselnden Bildern an sich vorbei rollen sieht, hegt er eine gewisse Geringschätzung, dagegen glaubt er an die Heiligkeit des Trinkgeldes und an die Vorzüge seiner kurzen schwarz angerauchten Thonpfeife. Der Employé de bagages ist zuweilen ein alter Troupier. In diesem Falle spricht er mit der Sicherheit eines Moltke die Ueberzeugung aus, daß, wenn er und seine Kriegscameraden von 1856 bei Sedan mitgekämpft hätten, die Preußen sammt und sonders, bis auf den letzten Mann, zermalmt worden wären. Vor der Ankunft des Schnellzuges erzählt er mit Vorliebe, wie er beim Sturm auf den Malakoff einem General der Cavallerie das Leben rettete. „Wo ist denn heutzutag’ Einer in der ganzen Armee,“ fragt er am Schlusse, die Hand in die Tasche steckend, „der sich getraute, das nachzumachen? Unmittelbar vor den Laufgräben … Pah, Zidore, die gute alte Zeit kommt nicht wieder! Va!“ Und damit schiebt er den Karren vorwärts und läßt den verblüfften Zidore auf der Kiste sitzen.

Aristokratischer und bedächtiger präsentirt sich uns der Garçon de recette, der Ausläufer der Bank, der die inhaltsschwere Mappe, an metallener Kette befestigt, unter dem Arme trägt. Eine hochwichtige Persönlichkeit, eine Vertrauensperson, wenn es jemals eine gegeben hat! Das Gefühl der Verantwortlichkeit und Würde drückt sich denn auch in der ganzen Haltung und Miene aus. Der Garçon de recette hat etwas Diplomatisches und nebenbei einen Hauch von der göttlichen Indifferenz der Finanzkönige. Die Hunderttausende, die er so in seiner Mappe herumträgt, sind ihm gar nichts; er ist das gewöhnt; für den Blick des Proletariers, der mit ehrfurchtsvollem Staunen an ihm hinaufschaut, hat er nur ein mitleidiges Lächeln[WS 1]. Der Garçon de recette ist die Incarnation jenes Fabelmännchens, von welchem uns Alphonse Daudet im vierte Buche seines vortrefflichen Romans „Fromont junior und Risler senior“ erzählt. „Wer’s nicht will,“ so heißt es dort zu Anfang des ersten Capitels, „der läßt’s bleiben; ich glaube fest an den kleinen blauen Mann. Nicht als ob ich je ihn gesehen hätte, aber unter meinen Freunden ist ein Poet, zu dem ich großes Vertrauen habe, und der erzählte mir oft, wie er sich eines Nachts dem seltsamen kleinen Spukgeist gegenüber befand und auch unter welchen Umständen. Mein Freund hatte in einer schwachen Stunde seinem Schneider einen Wechsel unterzeichnet. Wie alle Leute, die etwas Phantasie besitzen, hatte er geglaubt, jene Unterschrift habe ihn der Schuld ganz entledigt. So war denn der Wechsel aus seinem Gedächtniß entschwunden. Da wurde unser Poet eines Nachts durch ein eigenthümliches, vom Kamin herkommendes Geräusch plötzlich geweckt. Zuerst glaubte er, ein erfrorener Sperling suche die warme Asche auf, oder der Wind drehe sich und zermartere bei dieser Gelegenheit die Wetterfahne. Aber bald wurde das Geräusch deutlicher, und nun unterschied er ganz scharf das Klimpern eines Geldsackes und das Rasseln, ich weiß nicht, welcher Kette. Und zugleich rief eine feine Stimme, die so scharf wie der Pfiff einer Locomotive, so hell wie der Hahnschrei vom Dache erklangt: ‚Zahltag! Zahltag!…‘ ‚Guter Gott, mein Wechsel!‘ sagte der arme Junge, dem nun plötzlich wieder einfiel, in acht Tagen sei die Schuld bei seinem Schneider verfallen. Am anderen Tage und wieder am anderen wurde er zu derselben Stunde und auf dieselbe Weise geweckt. Und je näher der Zahltag rückte, um so greller und schneidiger wurde der Ton und drohte mit Richter und Auspfändung. Wem gehörte denn nur diese gespenstige Stimme? Der Poet wollte Klarheit haben. Eines Nachts also legte er sich nicht zu Bett, sondern löschte das Licht, öffnete das Fenster und wartete. Endlich gegen zwei oder drei Uhr Morgens lief ein leichter Schritt über Ziegel- und Schieferdächer, und eine feine, grelle Stimme schrie wiederum durch den Schornstein: ‚Zahltag! Zahltag!‘ Da bemerkte mein Poet, als er sich ein wenig vornüber neigte, den abscheulichen kleinen Kobold. Er sah, daß jenes seltsame Teufelchen gekleidet war wie ein Ausläufer der Pariser Bank, mit blauem Rock und albernen Knöpfen, Claquehut und galonnirten Aermeln. Unter dem Arme aber trug er eine lederne Tasche, die fast so groß wie er selbst war. Und an der Tasche hing ein Schlüssel und eine lange Kette, die bei jedem Schritte wahnsinnig klirrte.“

Wie viele Leute giebt’s in Paris, denen der Garçon de recette unter dem gleichen Gesichtswinkel erscheint! Leute, die, um nochmals mit Alphonse Daudet zu reden, eine Anweisung unterzeichnet oder quer über einen Wechsel das Wort „Angenommen“ geschrieben haben. Der Fremde, der den Garçon de recette so über die Asphaltplatten wandelt sieht, ahnt nicht, welche Dämonen in dieser ehrwürdig dreinschauenden Mappe lauern.

Minder pathetisch, aber für das Publicum zehnmal wichtiger, als dieser blaue Mann, ist der grüne, der Facteur, zu Deutsch: der Briefträger. Man begegnet ihm zu allen Tageszeiten auf Schritt und Tritt, dem stets geschäftigen, stets höflichen Vermittler jener ungeheuren Correspondenz, die aus allen Gegenden der Windrose nach der französischen Hauptstadt zusammenschwirrt. In schwarzen Kästen, die nach Art unserer Drehorgeln an Lederriemen getragen werden, birgt der Facteur seine stattliche Ladung und wandelt von einer Portierloge nach der andern. Dem Portier – französisch: – concierge – liegt es ob, die Briefe auf die einzelnen Stockwerke zu verteilen und an ihre Adressen zu befördern. Nur bei Werthsendungen ist der Facteur genöthigt, selber die Treppen zu klimmen. Sein Beruf ist also minder anstrengend, als der unserer deutschen Briefträger, die oft um einer einzigen Kreuzbandsendung willen bis unter das Dach steigen müssen. Freilich hat der französische Modus andere Uebelstände zur Folge: Unregelmäßigkeiten, Verspätungen und Veruntreuungen seitens des Concierge. Wie oft kommt es vor, zumal in einer concurrenzstrotzenden, lebensgierigen, eifersüchtigen Weltstadt, daß eine dritte Person das Gelüste verspürt, widerrechtliche Einblicke in fremde Correspondenzen zu werfen! Der Concierge ist gegen derartige Wünsche, wenn sie durch Zwanzig-Franken-Stücke unterstützt werden, nicht immer so unempfindlich, wie dies im Interesse der öffentlichen Moral zu wünschen wäre.

Der Facteur ist zuverlässig, ehrlich, gewissenhaft. Er giebt seine Briefe nur an den beglaubigte Portier oder dessen Vertreter, niemals aber an neugierige Insassen des Hauses, an naseweise Bedienten oder impertinente Zöfchen ab; es müßte denn sein, daß ein solcher Brief direct an das impertinente Zöfchen adressirt wäre. In diesem Falle spielt der Facteur mit Vorliebe den Galanten, Schalkhaften oder gar Neckischen. Er geizt sich eine Minute seiner kostbaren Zeit ab, um dem schönen Kinde das sehnlichst erwartete Billet-doux eine Weile vorenthalten oder

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Läches
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_816.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)