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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


unangenehm praktisch geworden in letzter Zeit; Väter, die so einen adligen jungen Sausewind mit offenen Armen aufnehmen und es sich zur Ehre anrechnen, seine kolossalen Schulden zu bezahlen, werden immer seltener – das Geld ist knapp, Frau Baronin, sehr knapp, wer heißt aber auch, zum Donnerwetter! den Leichtsinn gleich Equipagen für das Fräulein Braut anschaffen und seidene Meubel? Das kam noch lange früh genug; man soll die Bärenhaut nicht verkaufen, ehe der Bär gestochen ist. Sie, Frau Baronin, die Sie so viel erfahren haben im Leben, Sie hätten den Jungen beim Ohrzipfel nehmen und ihn mores lehren sollen; er ist doch sonst leicht zu leiten gewesen.“

Die Augen der jüngeren Baronin hatten sich vorwurfsvoll auf die Schwiegermutter, bittend auf den alten Mann gerichtet; die bittenden Augen hatten diesen doch so weit bezwungen, daß er wenigstens versprach, sein Möglichstes zu versuchen. – –

Lieschen war längst wieder heimgekehrt in die elterliche Wohnung, begleitet vom innigsten Dank Nelly’s und ihrer Mutter. Sie kam beinahe täglich in’s Schloß, und ihr fröhliches Geplauder, ihre helle, freundliche Erscheinung brachte auf Stunden einen Sonnenstrahl in die stillen, hohen Gemächer; Nelly vergaß dann auf kurze Zeit ihre Traurigkeit, um sich freilich nachher doppelt elend zu fühlen.

Wie gut sie es hat! dachte sie, wenn die schlanke Gestalt der Freundin so leicht durch die Allee der jetzt entlaubten mächtigen Linden nach Hause eilte. Sie malte sich das behagliche Heim Lieschens aus und sah im Geiste, wie sie den Arm um den stattlichen Hausherrn schlang und ihn ihren Herzensvater nannte, auf den sie so stolz, so stolz sein könne – und dann flossen wieder Nelly’s Augen über vor bitterem Weh.

So war der November gekommen mit seinem düsteren Wetter; die Stürme brausten wieder um das alte Schloß, wie sie es schon Jahrhunderte gethan; feucht und schwer hingen die Wolken über der Landschaft, und Regen, untermischt mit Schnee, schlug prasselnd gegen die Fensterscheiben. Solch Wetter übt seinen Einfluß auf die Menschenseele, und nun gar auf eine kranke, der Erheiterung so sehr bedürftige, und es drängt sich unwillkürlich die Frage auf die Lippen: „Wird wohl je wieder die Sonne scheinen? Werden je die Stürme wieder schweigen?“ Wohl dem Menschenherzen, daß ihm die Hoffnung zugesellt ist auch in den Tagen des höchsten Schmerzes! Sie flüstert doch noch immer tröstende Worte in die verzweifelnde Brust und malt auf den gewitterdunklen Hintergrund leuchtende Arabesken und reizende Blumengewinde, zwischen denen allerhand glückliche, heißersehnte Zukunftsbilder hervorschauen; die thränenden Augen vermögen dann wieder fester aufzublicken und die bange Brust athmet neu; es kann ja noch Alles gut werden!

Und die Zeit verging; einförmig, langsam und bleiern verstrichen die Tage. Allwöchentlich kam ein Brief von dem fernen Sohn, den die Mutter mit heimlicher Angst und Herzklopfen öffnete; meinte sie doch jedesmal etwas Schlimmes daraus zu lesen! „Siehst Du nicht, Mama, wie unglücklich er ist, so zerfahren, so anders wie sonst?“ seufzte dann Nelly und las immer und immer wieder das Schreiben, hinter dessen Kürze sich ein tief bedrücktes Gemüth zu verstecken schien.

„Es geht ihm gut,“ pflegte die alte Baronin verächtlich zu sagen; „er hofft es von uns auch; er hat viel Dienst – voilà tout! Er ist kein Mann; sonst würde er Alles daran setzen, daß es nicht zum Aeußersten kommt. Himmel! wenn ich an seiner Stelle wäre, das Leben vor mir und so jung! O diese unselige deutsche Sentimentalität, die vor lauter Schmerz um etwas Verlorenes nicht den Muth finden kann, nach einem neuen Glück zu ringen – Orribile! Es ist unser Aller Unglück; ich hätte nie gedacht, daß auch er so sein könnte.“

Und vor Erregung zitternd setzte sich die alte Dame hin und schrieb einen Brief an den Enkelsohn, um ihm Muth zu machen, und einen andern an Hellwig, um ihn anzuspornen, die Schuldenangelegenheit möglichst hinzuhalten.

Der November verging, und der December kam mit seinen Stürmen; sie fuhren in die hohen Schornsteine und drehten kreischend die rostigen Wetterfahnen auf den Thürmen; sie bogen und schüttelten die alten Bäume des Waldes; der Regen prasselte wie sonst gegen die Fenster und weichte die Wege des Parkes auf, bis in einer funkelnden Sternennacht der Winter geschritten kam mit klingendem Frost und die Wege so glatt und fest gefrieren ließ wie eine Chaussee; er überzog den Teich mit einer spiegelblanken Eiskruste, und Frau Holle breitete den ersten feinflockigen Schnee über Weg und Steg.

„Nun wird es bald Weihnacht,“ sagten die Leute im Dorfe und freuten sich. „Nun wird es bald Weihnacht, Mama,“ sagte auch Nelly zu der kränkelnden Frau, die am Kamine saß und strickte, aber in ihrem Gesichte leuchtete kaum etwas von der holden Vorfreude des schönen Festes; „ob wohl Army kommt?“ setzte sie fragend hinzu, und die Arme um den Hals der Mutter schlingend bat sie: „Liebe Mama, ich will auch gar nichts geschenkt haben, wenn nur Army kommt.“

„Nun wird’s bald Weihnacht,“ jubelte Lieschen der Muhme zu, als sie am Morgen die leuchtende Schneedecke ausgebreitet sah – so herzensfreudig klang es, daß die alte Frau beinahe betroffen in ihr Gesicht schaute. War das Mädchen denn nicht vollständig verwandelt seit den letzten Wochen? Der alte neckische Uebermuth, der ihr so reizend stand, leuchtete wieder so herzgewinnend aus den großen blauen Augen; ihre Wangen blühten genau so rosig, wie früher, und dieses Wunder war offenbar geworden, als sie – ja, als sie aus dem Schlosse heimgekehrt war. Wie früher scherzte sie mit dem Vater und verübte allerlei kleine Schelmenstreiche, die selbst die Mutter herzlich lachen machten.

Und nun sollte es Weihnacht werden. Als die Alte sie anschaute, da flüsterte ihr schon der kleine Mund dicht am Ohre, und sie verstand etwas vom Christkindchen, von Weihnachtsbäumen, Weihnachtsarbeiten und für die Muhme so etwas Wundervolles, Schönes, wie sie es sich gar nicht denken könne.

Und all diesen Jubel, diese Freude hatte ein einziger Moment hervorgezaubert, das einzige Wort „Lieschen!“ in weichem, dankbarem Tone gesprochen, ein einziger flüchtiger Händedruck! – –

Und endlich senkte sich der heilige Abend über die weite Welt; er trug in jedes Haus einen Schein hellen Himmelslichts; er zündete die Kerzen an auf den grünen Bäumen in Palästen und Hütten, und sie warfen ihren Schein auf frohe Gesichter, auf kostbare und bescheidene Spenden; die Glocken der Kirchen klangen in die stille, kalte Winterluft hinaus und luden die Menschen ein zur Dankesfeier, und hoch über die frohe Welt spannte der Himmel seinen dunklen blauen Mantel; in schimmernder, funkelnder Pracht leuchteten die Sterne hinunter, und „Ehre sei Gott in der Höhe,“ scholl es zu ihnen hinaus, „und den Menschen ein Wohlgefallen und Friede auf Erden!“

Friede auf Erden! Es gab auch Wohnungen der Menschen, in die der milde Gast keinen Eingang fand, Herzen, in denen keine Festfreude aufkommen konnte vor Kummer und schwerem Leid, ach, gar viele! Und an keinem einzigen Tage fühlt so ein armes Menschenkind die Sorge tiefer, den Kummer mehr und heißer, als an jenem, wo sich Alle freuen, wo sich der Friede herniedersenken soll in alle Herzen, nur in seines nicht; wo sich die bange Frage regt: warum bin ich – warum nur sind wir ausgeschlossen von der Freude?

Dieselbe stumme Frage schien aus den Augen des jungen Mädchens zu sprechen, das da am Fenster stand und in die funkelnde Nacht hinausblickte. „Dort unten in der Mühle flammen die Fenster in hellem Lichte auf; da brennt der Weihnachtsbaum!,“ flüsterte sie und preßte in kindlich heißem Schmerz die Hände gegen die Brust – welch ein Verlangen überkam sie nach seinen glänzenden, lichtergeschmückten Zweigen! Lieschen hatte gebeten, sie müsse kommen; sie sollte doch wenigstens die Lichter auf dem Baume brennen sehen, aber nein, wozu das? Was ging sie Müllers Weihnachtsbaum an? Es war ja doch nicht der ihre, und wozu sollte sie in Lieschens glückliches Gesicht blicken? Ihre finstere stille Heimath, sie wäre ja noch trauriger erschienen nach solchem Anblick. Sie wendete sich und schritt zu dem Sessel der Mutter, um ihre Wange an das liebe Gesicht zu schmiegen; sie tastete mit der Hand und fand nur das leere Polster. „Mama!“ rief sie leise – es blieb still. „Nun ist auch sie noch hinaufgegangen zur Großmama,“ flüsterte sie und sank in den weichen Stuhl. „Alle lassen sie mich allein, wenn sie doch erst wiederkämen! Die Mama und der Army, ach ja, Army ist da“ – das war doch gewiß ein süßer Trost. Morgen würde er gewiß nicht mehr mit Großmama so viel zu sprechen haben über Geschäftliches; was es nur Wichtiges sein konnte, das sie nun schon seit seiner Ankunft verhandelten? Immer noch Blanka? – –


(Fortsetzung folgt.)
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