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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

o Wunder! da war ich ihr nicht unbekannt. Sie war meine Nachbarin; nur ein Hof trennte unsere Fenster von einander und ich hatte sie nie bemerkt. Und als ihr Bruder sich näherte, da konnte sie mich ihm vorstellen:

„Sieh, Etienne, das ist der Herr, der so schön Clavier spielt –“

Das Wort und die Art, wie es gesprochen wurde, verscheuchten die düstern Falten von seiner Stirn, und wir wurden rasch mit einander bekannt. Aber der Andere, wer war er? Mit der Zeit erfuhr ich, daß es ein guter Freund der Familie und zugleich ein stiller, jedoch bis jetzt nicht erhörter Anbeter Paulinens war. Wir trennten uns damals bald. Ich wollte nicht zudringlich erscheinen, aber wer kann alle die kleinen Intriguen und Kriegslisten beschreiben, die nun folgten? Wer das süße Gefühl der Erwartung, mit welcher ich, hinter den Gardinen meines Fensters stehend, nach einem andern gewissen Fenster hinüberspähte? Und wer das Herzklopfen, wenn das liebliche Köpfchen sich zeigte, wenn zwei kleine Wachsfinger sich an das rosige Mündchen legten, die Enttäuschung, wenn ich vergeblich wartete, oder wenn sie, nachdem ich ihr eine Kußhand zugeworfen, erröthend davongeeilt war? Und bald – o, es war sehr bald – da hatten wir uns gefunden und verstanden; es war nicht mehr ein loses Kinderspiel, es waren ernstliche, heilige Schwüre für’s Leben. Wo sind diese Schwüre? Waren es nur die Geburten einer vorübergehenden Frauenlaune? Ich habe es lange geglaubt. Sie war ja so jung, zählte erst siebenzehn Jahre. Oft neckte sie mich mit dem oben erwähnten jungen Manne und noch andern Anbetern, und wenn ich böse oder traurig wurde, dann sah sie mir reue- und liebevoll in die Augen, bis mir das Herz überwallte, und sagte: „Du Lieber, ich lebe ja nur für Dich.“

Aber sie wollte auch viel von mir selbst wissen, und eines Tages fragte sie plötzlich:

„Gehst Du denn wieder nach Deinem Deutschland zurück? Dahin gehe ich nicht.“

„Dann liebst Du mich auch nicht.“

Sie begann heftig zu schluchzen.

„Sei ruhig!“ fuhr ich fort, „Dir zu Liebe bleibe ich hier. Aber wenn es doch sein müßte?“ –

„Wenn ich Dein bin, so werde ich Dir folgen bis an’s Ende der Welt, aber ach! ich glaube, ich würde sterben, wenn Du mich aus Paris wegnähmest.“

„Liebst Du Paris, Dein Vaterland überhaupt, so sehr?“

„Ueber Alles; nein, zuerst kommt die Mutter, der Bruder; ach nein, ich glaube, zuerst kommst Du – ich bin so verwirrt; ich weiß es nicht.“

„Süßer Engel“ – und ich küßte ihr die Thränen aus den schönen Augen.

Unsere Liebe wurde bald entdeckt. Da gestand sie ihrer Mutter Alles, war durch nichts zu bewegen, von dem Kinderspiel, wie diese es nannte, abzulassen, und verließ schließlich ihr Zimmer und ihr Lager nicht mehr. Das mochte wohl Eigensinn gewesen sein, denn als später die Mutter mir eine Einladung zuschickte, war sie plötzlich ganz gesund geworden.

„Ich bin auf den richtigen Arzt gefallen,“ sagte die Mutter, matt lächelnd, als das böse Kind schluchzend an ihrem Halse hing.

Wir wurden einig. Die Mutter verlangte vier Wochen Bedenkzeit, während welcher mir erlaubt wurde, das Haus zu besuchen. Sie konnte nichts gegen mich einzuwenden haben; meine Stellung war eine unabhängige, dauernde und einträgliche. Auch der Bruder machte gute Miene zum bösen Spiel. Der einzige Einwand war nur die Nationalität. Wer konnte aber den süßen Bitten des reizenden Kindes widerstehen?

Da kam das Gewitter herangezogen. In Ems zündete es und schlug vernichtend zurück in zwei liebende Herzen, mit ihnen wohl in viele tausend andere.

Es ist Krieg.

O, der schmerzliche, angstvolle Ausdruck ihres schönen Antlitzes, als diese Trauerbotschaft verkündet wurde! Zuerst wurde nicht viel davon gesprochen, als aber die Deutschen in Frankreich eingedrungen waren, als Sieg auf Sieg die deutsche Tapferkeit belohnte, da wurde Pauline still und immer stiller, und ihre Augen sahen roth aus und verweint.

Eines Tages lag ein Brief auf meinem Tische.

„Mein Robert!

Du darfst mich nicht mehr sehen. Ich habe es meiner Mutter versprochen und bin es mir selbst schuldig. Lebe wohl, nimm meinen letzten Gruß, meinen letzten Kuß und mit ihm die Versicherung, daß ich nie einem Andern angehören werde! Siegt Frankreich, so wird noch Alles gut. Gott gebe Frankreich den Sieg!

Deine Pauline.“

Ich hatte es erwartet, und nun es da war, warf es mich zu Boden. Was ich an diesem Abend, in der darauffolgenden Nacht gelitten habe, ist unsäglich. Meine Nerven durchzuckten mich mit erbarmungsloser Heftigkeit; meine armen Gedanken irrten sinnlos hin und wieder; mein krankes Gehirn brütete Pläne, daran ich nicht zurückzudenken wage.

Dir, mein Vaterland, an deiner treuen Mutterbrust gestehe ich es reuevoll: ich wollte ihr schreiben, daß ich ihretwillen die Waffen gegen dich zu erheben bereit sei. Gottlob, es hielt nicht Stand. Wie würde sie mich verachtet haben!

Am andern Morgen schrieb ich die folgenden Zeilen:

     „Meine Pauline!

Sei es, wie Du es wünschest. Sehen wir uns für jetzt nicht mehr! Ob Frankreich siegt, ob Deutschland, ich hoffe, es wird noch Alles gut werden. Meine Gesinnung jedoch mußt Du erfahren, damit Alles klar sei zwischen uns. Meine Gebete sind für mein Vaterland. Gott gebe Deutschland den Sieg!

Dein Robert.“

Der Brief war fort, und es wurde ruhiger in mir, aber das Herz blutete, es wand sich und zitterte in tiefer Noth.

Ich veränderte meine Wohnung und harrte des Weiteren. Berichte kamen und wurden widerrufen; Jeder weiß es, das Volk wurde getäuscht und betrogen, aber der Bericht, welcher die Ereignisse von Sedan brachte, konnte nicht verstümmelt werden – der Schlag war zu ungeheuer. Die Proclamation der Republik war die Folge, und ein neuer Geist, ein frischer Muth beseelte für den Augenblick das französische Volk. Mittlerweile war die Ausweisung der Deutschen aus Paris decretirt worden. Ich bereitete mich zur Abreise vor, wollte aber noch einmal Pauline sehen. Ich weiß, es war nicht recht von mir, aber ich konnte es nicht ändern.

Eine ihrer Freundinnen erbarmte sich meiner Noth. Durch ihre Vermittelung sah ich Pauline auf der Neuen Brücke (Pont neuf). Sie wußte von Nichts und schien ängstlich und überrascht. Das benahm mir die Sprache; ich konnte den Mund nicht aufthun.

„Warum haben Sie das gethan?“ fragte sie, indem sie scheu umher blickte.

„Um Abschied zu nehmen; ich reise ab.“

„Es war nicht recht; wir hatten Abschied genommen.“ Ihre Stimme war tonlos.

„So leben Sie wohl. Leb’ wohl und vergiß mich nicht; ich will Dich nicht in Verlegenheit bringen – ich habe Mitleid mit Deiner Angst.“

„Angst? für wen? Uebrigens es ist zu spät: da sind Antoine und mein Bruder; sie sind mir ohne Zweifel gefolgt. Treten wir hinter die Statue!“ – wir waren neben der Statue Heinrich’s des Vierten angelangt – „vielleicht haben sie uns noch nicht bemerkt.“

Es war in der That zu spät! Ich sah, wie Paulinens Bruder auf uns zeigte und seine Fäuste ballte. Beide Männer trugen die Uniform der Nationalgarde. Das Mädchen wurde blaß wie der Tod.

„Wir sind verloren,“ sagte sie.

Jetzt stand ihr Bruder vor uns.

Eh bien, mademoiselle, sind das Ihre Versprechungen? Sie haben uns schmählich belogen, ebenso wie der ,Preuße‘ da. Er soll es bereuen. – Antoine, führe meine Schwester hinweg.“

Als dieser Anstalt dazu machte, sagte dieselbe abwehrend:

„Nicht, bis ich weiß, was Ihr mit dem Herrn anfangen wollt.“

„Das ist unsere Sache und die der französischen Republik.“

„Etienne,“ erwiderte sie mit bewegter Stimme, „Ihr werdet nichts Unwürdiges begehen. Nein, ich gehe mit Euch, aber laßt den Herrn unbelästigt seines Weges gehen! Er will Paris verlassen. Bitte, Antoine, kommen Sie hinweg!“

Très bien, mademoiselle, wenn Sie hier vor meinen Augen schwören wollen, daß Sie nie einem verfluchten Preußen die Hand reichen werden, dann will ich Ihren Wunsch erfüllen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_734.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)