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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


„Was sagt Ihr, was sagt Ihr nur?“ rief die alte Frau Ehrenfried entgegen, und „Helft und rathet einmal!“ der Gottlieb.

Der Professor schob, statt jeder Antwort, einen hochlehnigen Stuhl an Großmutters Seite und sagte dann kaltblütig: „Vor allen Dingen: Ihr sollt Euch Beide erst beruhigen.“

„Da habt Ihr gut reden,“ sagte Gottlieb, „das kann ich mir selber sagen, ohne ein grundgelehrter Herr aus dem Lande zu sein. Aber ich will nicht ruhig sein; ich bestehe auf meinem Recht und will kein echter Harzer sein und nicht ehrlich da in dem Kittel gesteckt haben, wenn’s mir nicht wird. Nach dem Superintendenten geh’ ich und nach dem Gericht.“

„Gemach, Gottlieb – in der ersten Hitze thut man keinen vernünftigen Schritt.“ Die Großmutter nickte dazu.

„Ach, was schwatzt Ihr! Ich brauche keinen Rath. Ein echter Mann verficht seine Sache selber; haltet Ihr mich etwa für keinen?“ Jetzt bekam der Holzschemel der Großmutter einen Stoß.

„Gottlieb,“ sagte der Professor mit entschiedenem Tone, „tobt nicht, wie ein Tollhäusler! Das ist Eurer weißen Haare wenig würdig.“

„Die hab’ ich mit Ehren –“ entgegnete er, gelassener werdend, „aber, Herr Professor, wenn Ihr das hättet erleben sollen: ein Kind, das Ihr gehegt und gepflegt habt, wie Euren Augapfel – das ist zu hart. Seht, da kam ich vom Begräbniß des Vetters herauf, der so alleine gelebt und gestorben; kein Kind und kein Kindeskind weinte an seinem Grabe; das ging mir an’s Herz – so hätte ich nicht sterben mögen. Großmutter, sagte ich, die Jane ist jetzt im rechten Alter; sie soll heirathen; da erleben wir noch Freude, ich an den Enkeln, Du an den Großenkeln. Und da ist nun der Conrad, fleißig und rechtschaffen und ein strammer Kerl; einen besseren Sohn wünsch’ ich mir gar nicht. Er sucht eine Frau und hat die Jane gern, und gestern Abend da legte mir der Wein das Herz auf die Zunge, und als Ihr fort waret, machte ich dem Mädchen Andeutungen, daß man den Liebhaber nicht mit einer Andern fortsendet. Erst wollte sie mich nicht verstehen; dann lachte sie und sagte, daß der Conrad die Rieke grad so möge, wie sie. – Ich ließ das gehen; ein Mädchen muß nie gleich mit beiden Händen zugreifen, sondern sich suchen lassen. Ich denke, das ist so Mädchenart. Heut’ Morgen lief mir aber die Sache ernstlicher durch den Kopf; ich rief die Jane – und da erklärte sie denn rund ’raus, daß sie den Conrad nicht wolle, aber ein echter Harzer beugt seinen Kopf nicht – sollt ich’s vor einem Weibsbild, das meine eigene Tochter ist?“

„Gottlieb,“ rief die Großmutter, „wenn sie nur nicht schon Jemanden anders gern hat!“

(Schluß folgt.)




Die Schreckenstage in den Tiroler Alpen.
Von einem Augenzeugen geschildert.

„Flieht, rettet Euch! Der Damm ist gebrochen!“ – Diesen Schreckensruf, wie er am 17. August dieses Jahres das kleine Dorf Taufers in Tirol erfüllte, werde ich nie aus dem Ohre verlieren.

Von Bruneck, dem beliebten Sommerfrischplatze an der Pusterthalbahn, hatte ich mich an dem breiten, rauschenden Ahrenbache entlang nach dem etwa drei Stunden entfernten Taufers begeben. Eigentlich sind es zwei zusammenhängende Ortschaften, Sand und St. Moritzen, welche man unter jener Bezeichnung begreift. Die Ruine des auf hohem Felsen gelegenen Schlosses Taufers hat ihnen diesen gemeinschaftlichen Namen gegeben.

Am Mittage des 15. August überzogen das Tauferer- und Ahrenthal schwarze, drohende Wolken und bald brachen auch mit Macht die Gewitter überall los. Es waren jedoch meist Hochgewitter, die sich hauptsächlich weit droben auf den Bergen entluden. Wir im Thale wurden nur mit einigen wolkenbruchartigen Regengüssen bedacht. Da jedoch der Wind nach Norden umschlug, lebte in uns die Hoffnung auf Besserung des Wetters. Aber Furchtbares stand uns in nächster Zeit bevor.

Der schon erwähnte Ahrenbach, ein prachtvoller, hauptsächlich von den südlichen Gletscherabflüssen der Zillerthaler Tauern genährter Bergstrom, trübte sich plötzlich am Abend des 15. August, und nachdem er vorher noch etwas, aber nicht in Besorgniß erregender Weise, angeschwollen war, versiechte er während der Nacht mit einem Male so vollständig, daß wir das tiefe Bett mit seinen Felstrümmern ganz trocken gelegt sahen. Daran erkannten die Bewohner der verschiedenen am Ahrenbache gelegenen Ortschaften sofort, was ihnen drohe. Ueberall ertönten noch in der Nacht die Sturmglocken, um die Gefahr zu verkünden und Hülfe herbeizurufen.

Bald traf denn auch die Nachricht ein, daß etwa eine Meile oberhalb Taufers die von den Zillerthaler Gletschern herabkommenden angeschwollenen Gebirgsbäche, namentlich der Rohrbach, solche kolossale Massen von Steinen, Schutt und Schlamm herabgewälzt hatten, daß in der Gegend von Arzbach das Thal vollständig geschlossen sei. Ein Wall von einer Viertelstunde Breite und fast eine halbe Stunde lang hatte sich mit unwiderstehlicher Gewalt quer über das Thal geschoben und hierbei die ansehnlichen gräflich Enzenberg’schen Kupferschmelzwerke vollständig vermuhrt (verschüttet).

Durch diese Muhre aber stauete sich der Ahrenbach und bildete einen schäumenden See, der bald bis zu dem fast eine halbe Stunde weiter thalaufwärts gelegenen Dorfe St. Martin reichte. Dies war der Grund des plötzlichen Versiechens des Ahrenbaches im unteren Thale gewesen. Um die entsetzliche Gefahr abzuleiten, versuchten die von allen Seiten herbeigeströmten Männer dem immer drohender anwachsenden See an einer Stelle des Walles einen Abfluß zu bahnen, und nach einer Riesenarbeit von mehreren Stunden hatte dieses höchst gefährliche Unternehmen einigen Erfolg. Das angestaute Wasser fand endlich Abfluß, den schmalen Durchbruch mit eigener Gewalt rasch erweiternd. Brausend und donnernd strömte es durch das noch eben leere Bett, Alles mit sich fortreißend. Steine, Felsstücken von zwanzig und mehr Centnern rollten mit der Fluth dahin wie leichte Spielbälle.

Aber welch entsetzlicher Unterschied zwischen den blaugrünlichen Fluthen, die sonst das Thal durchrauschten, und der schwarzbraunen schlammigen Masse, die sich jetzt rasend daher wälzte! Der Waldboden stundenlanger hoher Bergabhänge war mit herabgeschwemmt worden und bildete mit dem aufgewühlten Erdreiche der tiefer gelegenen Felder und Wiesen einen Schlammstrom. Diese dunkle Fluth verbreitete einen durchdringenden Modergeruch, der sich selbst auf weite Entfernung noch bemerkbar machte. Und welche Massen von Baumstämmen, Holz aller Art, besonders aber Holzkohlen brachte der Strom mit sich! Letztere hatten nämlich in ungeheueren, für mehrere Jahre ausreichenden Vorräthen bei dem Kupferschmelzwerke, wo die Erze nur mit Holzkohlen geschmolzen werden, aufgehäuft gelegen. Tausende von Fudern dieser Kohlen jagten jetzt auf den empörten Wogen thalabwärts.

Nachdem das Wasser jenes Hinderniß durchbrochen und das vorher verlassene Bett bis zum Ueberströmen gefüllt hatte, galt es in Taufers-Sand die gefährdetsten Uferstellen zu schützen, zu welchem Zwecke man mächtige Tannen fällte und dieselben, an starken Ketten befestigt, mit den Zweigen in die Fluth versenkte, wodurch die Gewalt der anstürmenden Wogen wenigstens einigermaßen gebrochen wurde.

In den Nachmittagsstunden des 16. August glaubte man die Gefahr beseitigt, weil die Fluth die bisher erreichte Höhe jetzt nicht mehr überstieg. Aber diese Hoffnung erwies sich nur zu bald als trügerisch.

In der Nacht vom 16. zum 17. August ertönten abermals ringsumher die Sturmglocken aller Dörfer des Thales. Die immer mehr geschmolzenen Schneefelder der Gletscher hatten neue, größere Wassermassen entsendet, und stündlich wuchs die Gefahr. Es war eine schauerliche Nacht; das Geheul der Sturmglocken, das Brausen der Wogen, mehr aber noch der Alles übertönende, weithin hörbare Donner der großen Felsstücke, welche die Fluth in dem zerwühlten Bette wüthend vor sich herrollte – kurz, Alles vereinigte sich, um das Herz mit Schauer und Grauen zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 622. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_622.jpg&oldid=- (Version vom 9.12.2016)