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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

und ein Oberhaupt in Gestalt des Zellkerns. Aber eine ersprießliche Arbeitstheilung kann offenbar erst erzielt werden, wenn sich mehrere Zellen oder Elementarwesen in die laufenden Geschäfte derartig theilen, daß jede derselben etwas Anderes und zwar immer dasselbe verrichtet und es durch Uebung in seinem Fache zur Meisterschaft bringt. Das ist die Bedeutung der rapiden Zellentheilung, die wir bei jedem jungen Wesen, das es zu etwas bringen will, alsbald eintreten sehen. Und dabei war nun allerdings die Bildung einer Gesellschaft für gute Verdauung in demselben Maße die wichtigste und erste Aufgabe, wie der Hunger noch heute von allen thierischen Trieben der am gebieterischsten seine Stellung fordernde ist. Sehen wir die Keimblase (Fig. F) an, die Ernst von Baer für die Urform der Thiere hielt! Da ist noch jede Zelle soviel werth wie die andere, jede hat ihren Geißelfaden, jede verdaut, athmet, jede kann nach Auflösung des Gemeinwesens eine neue Republik begründen. Haeckel denkt sich den Fortschritt nun so, daß von diesem Zellenstaat eine Bürgergruppe angefangen haben mag, sich vorzugsweise der Nahrungsaufnahme zu widmen. Da es für diesen Zweck günstiger sein mußte, wenn diese Gruppe etwas geschützt lag, so bildete sich allmählich in ganz mechanischer Weise durch natürliche Züchtung ein Grübchen, welches sich im Verfolg dieses Vorganges immer mehr vertiefte und, indem sich die Ernährungsthätigkeiten ganz hierher zurückzogen, zu einem vollkommenen Magen wurde.

Ein guter Magen war die nothwendige Vorbedingung weiterer Entwicklung, das ist auf jeden Fall die Erklärung des Umstandes, daß alle höheren Thiere von dem Urmagenthier abstammen. Wir sehen aber ferner in unserem Bilde die Verdauungszellen von einer schützenden Hautzellenschicht umgeben, denen zunächst die Bewegung des Ganzen und Führung der äußeren Geschäfte oblag. Wir dürfen uns also verständigerweise nicht wundern, aus diesen den Verkehr mit der Außenwelt vermittelnden Zellen auch in der Entwicklung höherer Thiere die edelsten Organe, die Sinne, hervorgehen zu sehen, weshalb man diese äußere Schicht auch das Hautsinnesblatt in der Kunstsprache der Entwicklungslehre nennt. Die übrigen Gewebe gehen später aus Verdoppelungen dieser beiden ersten Keimblätter hervor, und ich will nur noch, da ich mich hier nothwendig kurz fassen muß, hinzusetzen, daß das Nervensystem in einem sehr innigen Anschlusse an die Ausbildung der Ernährungswerkzeuge fortschreitet und daß es kein Zufall zu sein scheint, wenn das Gehirn der Thiere sich überall in der Nähe des Schlundes ausgebildet hat.

Sehr bedeutsam ist ferner für den Forscher die Vergleichung des weiteren Verhaltens der Darmlarve in der Entwicklungsgeschichte zweier sie selbst nur wenig überragenden Thierclassen, nämlich der niederen Schwämme und der niederen Würmer. Es sind dies die einfachsten Formen der beiden Hauptgruppen des Thierreiches, der Pflanzenthiere einerseits und der übrigen Thiere anderseits. Bei den ersteren, zu denen Schwämme, Korallen, Polypen und Quallen gehören, setzt sich die Darmlarve alsbald, wie wir bei dem Meerfläschchen sahen, fest. Es war dies, wenn wir die Theorie einen Augenblick für bewiesen annehmen, ein Act von den bedeutsamsten Folgen für die fernere Ausgestaltung der Gruppe. Alle Pflanzenthiere, die sich von diesen vor Entwicklung äußerer Organe vor Anker gegangenen Magenthierchen ableiten, erwarben dadurch für ihre später ausgebildeten Gliedmaßen eine regelmäßige blumenblattartige Anordnung derselben um die Schlundöffnung, die dabei als Mittelpunkt in Betracht kam. Sie sind ihr Lebelang nicht über den Zustand oftmals herrlich aufgeputzter Bäuche hinausgekommen.

Auf der anderen Seite ging aus denselben Anfängen die Partei der Fortschrittler hervor, denen zu allen Zeiten die Welt gehörte. Die Darmlarve entwickelt sich schwimmend und frei weiter, als ahnte sie den weiten Weg, der vor ihr lag, und der Entschluß, sein Fortkommen und seine Nahrung sich selbst zu suchen, statt den Mund aufzusperren und mit dem, was freiwillig hineinfliegt, zufrieden zu sein, wurde die Ursache zur Ausbildung vollkommener Bewegungs-, Ergreifungs- und Sinnes-Organe. Das Magenthier streckte sich bei seinem „Vorwärtsstreben“ etwas länger und wurde ein Wurm, der sich stets in einer bestimmten Richtung bewegte und daher ein Vorn und Hinten, Oben und Unten, Rechts und Links erhielt, wie es alle höheren Thiere mit Ausnahme eben der Pflanzenthiere und einiger nachträglicher Nachahmer derselben aufweisen. Von den niedrigen Würmern aber führen Beziehungen zu sämmtlichen höheren Thieren, so daß sie sich alle von dem Urmagenthier herleiten lassen. Da die niedern Thiere in ihren Jugendzuständen frei umherschwärmen und also als sogenannte Larven bereits in den Kampf um’s Dasein eintreten, so können wir uns nicht wundern, daß sie auch die Einwirkungen davon in mancherlei gestaltlichen Wandlungen des ursprünglichen Entwicklungsganges, wie wir ihn oben vorführten, erlitten, und dies könnte als eine der Ursachen betrachtet werden, warum das Urmagenthier nicht in der Jugendgeschichte aller Thiere gleich deutlich hervortritt. Wie wir schon erwähnt, läßt es sich aber stets, wenn auch bisweilen in etwas „derangirter Toilette“, wiedererkennen.

Enthusiasten der mechanischen Welterklärung werden in künftigen Jahrhunderten möglicher Weise behaupten, jenes eingedrückte kleine Ei, welches wir kennen gelernt haben, sei das Ei des Columbus in der Entwickelungslehre, und äußerlich wenigstens läßt sich die Sache so an, denn während ein Theil der Zoologen sich an Stelle des Eies selber auf den Kopf stellt, um damit zu beweisen, das Problem sei doch noch nicht gelöst, denken die Andern bei sich: „das hätten wir auch gekonnt“ und schelten auf den kühnen Segler, der ihnen zuvorgekommen. Es ist nun einmal das Schicksal der neuen Theorieen, um so heftiger angefochten zu werden, je bedeutender sie sind. Wir wollen nicht von Galilei sprechen, denn als er die Copernicus’sche Theorie für mehr als eine bequeme Lehrmethode erkannte, sah sich die Autorität der Kirche bedroht. Aber ging es Huygens mit seiner Lichttheorie vor zweihundert Jahren, oder, um das nächstliegende Beispiel nicht zu vergessen, Caspar Friedrich Wolff mit seiner Theorie, daß alle Wesen Neubildungen seien, etwa anders? Ersterer hatte den scharfsichtigsten Physiker und Mathematiker der Zeit, Newton, gegen sich, der Berliner Anatom sogar alle gleichzeitigen Naturforscher von Ruf und Ansehen. Heute werden die Astronomen und Physiker schamroth, wenn sie die Lehren des Copernicus und Huygens noch immer Theorie nennen sollen. Aber es sind Theorieen, wie so vieles, was wir als Gewißheit ausgeben, und die Schöpfung der Welt aus Nichts, oder die Bildung des Menschen aus einem Erdenkloß sind auch Theorieen. Nur der Grad der inneren Wahrscheinlichkeit gewährt der einen den Vorrang vor der andern. Gewißheit haben wir nur für die wenigsten unserer Meinungen, und deshalb können wir, falls der Eine von uns felsenfest an die Gasträatheorie glauben sollte und der Andere ganz und gar nicht, doch ohne Groll von einander Abschied nehmen und ohne Unruhe schlafen.

Carus Sterne.




Am Grabe meines Alfred.


So bist Du früh dahingegangen,
Den ewig Schlummernden gesellt,
Mit diesem glühenden Verlangen
Nach jedem höchsten Preis der Welt,

5
Mit diesem Streben unermessen,

Mit diesem Geist so scharf und klar …
Im Windhauch schauern die Cypressen …
Dahin, dahin auf immerdar!

Wie oft mit meinem Vatersegen

10
Erfleht’ ich Dir ein hohes Glück

Und sah von späten Lebenswegen
Auf Deiner Jugend Lenz zurück.
Wohl durft’ ich seinen Zauber hüten
Und mehren seiner Freuden Glanz;

15
Es wurden alle seine Blüthen

Für mich ein jugendfrischer Kranz:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_530.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)