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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

daran erinnert das von der Pädagogik längst abgethane Institut der „Denkübungen“, eine Unterrichtsstunde, die, gänzlich zwecklos, von Lehrern und Schülern nur zum Faulenzen benutzt wurde, der jedoch der gesunde Gedanke zu Grunde liegen mochte, daß man das Urtheil des Schülers an Gegenständen üben wollte, die aus dem Leben gegriffen waren, im Unterschiede von den täglich gebrauchten, den sonstigen Zweigen des Unterrichts angehörigen Begriffen. In der That ist das aber nichts Anderes, als was man, nur in methodischer und weitblickender Weise, mit einem Unterrichte in volkswirthschaftlichen Begriffen erstreben würde.

Sehen wir vor der Hand von der Volksschule ab und fassen wir desto fester die Fortbildungsschule und das Gymnasium in’s Auge! Hier würden sich die angeführten Einwände wesentlich um die zwei Hauptpunkte gruppiren: daß der Gegenstand über die Fassungskraft des Schülers gehe und daß der Lehrstoff noch mehr als nöthig belastet würde.

Was nun den ersteren Einwand betrifft, so geht er nur von einer Unkenntniß der Begriffe aus, mit denen die Volkswirthschaft zu rechnen hat und die in Wirklichkeit so einfach sind, wie sie einfacher kein anderer Lehrgegenstand aufweisen kann. Sollte der Schüler, welcher die ganz abstracten Grundbegriffe der Mathematik zu erfassen und zu Combinationen zu verwerthen vermag, der die abstracten Begriffe, welche der Satzbildung in der Grammatik zu Grunde liegen, in einer fremden Sprache anzuwenden versteht – von dem höheren grammatischen Unterricht gar nicht zu reden – sollte ein derartiger Schüler nicht spielend solche Sätze aufnehmen und ebenso leicht wieder verbinden können, wie: Je mehr Esser im Staate, desto kleiner die Portionen – oder solche simple Definitionen wie die der Begriffe: Gut, Tausch, Werth?

Es ist wohl kaum nöthig, hervorzuheben, daß es sich hier nicht um tiefergehende Probleme oder streitige Gegenstände der Volkswirthschaft handelt, sondern daß lediglich zwei Punkte zu erreichen sind: die volkswirthschaftlichen Grundbegriffe einzuprägen und daneben eine Anleitung zur Verbindung und Anwendung jener Begriffe zu geben. Es kommt also hier Alles auf die Methode an. Zu Grunde liegen müßte natürlich stets ein klar, einfach und leichtfaßlich eingerichteter Leitfaden, was keine Schwierigkeiten bietet, denn in der Herstellung solcher Bücher besitzen wir Deutschen ja eine hervorragende Befähigung.[1]

Die Methode in der Fortbildungsschule würde sodann darin bestehen, daß man, nachdem jene Grundbegriffe gewonnen worden sind, die Verbindung und Anwendung derselben fortgesetzt an Beispielen übte, welche den praktischen Gebieten der hier zunächst betheiligten gewerblichen Classen zu entnehmen wären. Dem Gymnasium gegenüber ist eine solche specielle Uebung gar nicht nöthig, da sich die Erlernung der volkswirthschaftlichen Grundbegriffe zu einer wesentlichen Erleichterung des Unterrichts, namentlich des geschichtlichen und der Erklärung der Schriftsteller gestaltet. Aber Eines ist als Voraussetzung festzuhalten: daß man nicht etwa meint, diesen Stoff des Unterrichts für die Prima, das heißt für das reifere Verständniß, aufheben zu müssen – dann thut man besser, ihn lieber gar nicht in die Schule aufzunehmen. Will man eine wirklichen praktischen Erfolg erzielen, so muß die Einprägung der so überaus leicht faßlichen volkswirthschaftlichen Grundbegriffe in der Classe beginnen, wo der Vortrag der speciellen, also zunächst der griechischen Geschichte anfängt; der Geschichtsvortrag und die Interpretation der Schriftsteller in allen folgenden Classen ist dann eine unausgesetzte Anwendung, Verwerthung und Uebung jener grundlegenden Begriffe. Und in welchem Grade würde dadurch den Lehrern und Schülern einerseits die Darstellung, andererseits die Auffassung der Geschichte und der alten Schriftsteller erleichtert! Der Schüler wird in der Geschichte der asiatischen Völker nicht mehr ein wirres Drängen des einen gegen das andere, sondern das sich gleichmäßig wiederholende Wirken eines einfachen Bevölkerungsgesetzes erkennen; er wird die volkswirthschaftlichen Beweggründe, welche in allen Stämmen und durch die ganze griechische Geschichte gleichmäßig thätig waren, die Beweggründe, welche, im Classenkampfe zu Tage tretend, auch das Bild der römischen Republik charakterisiren, viel klarer und viel einfacher verstehen lernen. Wie die Schule heute ist, verläßt sie der überwiegende Theil der Zöglinge mit der Auffassung, daß Rom allein deshalb zu Grunde ging, weil die Römer moralisch heruntergekommen waren, während er von den Sünden gegen die gleichfalls hier sehr erheblich in Frage kommenden volkswirthschaftlichen Gesetze keine Vorstellung hat.

Auf diesem Wege würde dann auch sicher der gebildete Stand jene erbarmungswürdige Hülflosigkeit des Urtheils in Betreff der gesellschaftlichen Verhältnisse verlieren und zu einer viel tieferen Anschauung, einer viel wärmeren Erfassung seiner Existenzbedingungen und seiner Pflichten dem Staate gegenüber gelangen.

Der Arbeiter aber, welcher den Weg durch alle die Begriffe vom Gute zum Tausche, zum Werthe und Kaufe gemacht hat – wird er nicht zum Bewußtsein kommen, daß hinter der Zahlungsfähigkeit seines Arbeitgebers die Zählungsfähigkeit des Weltmarktes steht? Und wird ihn das weiter nicht zu einem bald mehr bald weniger klaren Verständniß oder wenigstens zu einem Bewußtsein dessen führen, was er an Lohnhöhe beanspruchen und erstreben und was er nicht erstreben kann und darf? Wird er, wenn er erkannt hat, daß Sparsamkeit und Rechtssicherheit zwei wesentliche Factoren der Capitalbildung sind – wird er nicht einerseits eine ganz andere Auffassung vom Capital und damit der „Geldmenschen-Classe“ erhalten, andererseits in Bezug auf seine eigene Sparsamkeit nachdenklich werden? Wird ihn endlich nicht in gleicher Weise die Bevölkerungslehre zu verschiedentlichem Nachdenken anregen? Ueber communistische Ideen braucht dabei gar nichts gelehrt zu werden. Was wir verlangen und was erstrebt werden muß, das ist einzig und allein die Urtheilsfähigkeit aller Classen auf dem ihnen zu allernächst liegenden Gebiete ihrer gemeinsamen eigenen Existenz.

Und damit befinden wir uns auch vollständig im Rahmen der unserer Epoche überhaupt gestellten Aufgabe, einer Aufgabe von furchtbarer Verantwortlichkeit. Die Bewegung, welche gegenwärtig durch die Geister geht, ist gleichsam der Morgenwind, der einer aufdämmernden neuen Weltanschauung vorausgeht. Mögen die künftigen Geschlechter sich mit der Methode dieser neuen Weltanschauung befassen, unsere Aufgabe ist es: die Methode des Ueberganges zu schaffen, damit das Tageslicht jener neuen Weltanschauung nicht in der wirklichen Menschenwelt noch gänzlich unversöhnte Gegensätze findet, die sich nun erst noch thatsächlich in langen Wirrsalen furchtbarer Umwälzungen ausgleichen müßten.

Niemand weiß, welchen Gang die Geschichte nehmen mag, aber das Eine wissen wir alle: wir müssen zu glücklicher Hinausführung augenblicklich noch sehr trauriger Kämpfe auf eine energische und sorgsame Erhaltung und Pflege aller idealen Züge im Volksleben bedacht sein; es wird zu einer Ueberbrückung der Klüfte, zu einer Verständigung des heißen Widerstreits und also zu einem Heil und Frieden nicht kommen ohne einen gewissen Grad allseitiger volkswirthschaftlicher Bildung, welcher der Mehrzahl der Bevölkerung die ihr bis jetzt fern gehaltene Einsicht in die materiellen Existenzbedingungen eines menschlichen Gemeinwesens möglich macht.[2]

F. L.
  1. Zur Ergänzung können wir übrigens noch hinzufügen, daß volksthümlich geschriebene Leitfäden für wirthschaftliche Belehrung schon vorhanden sind. Wir machen unter Anderem nur auf das in der „Gartenlaube“ bereits empfohlene Schriftchen „Wirthschaftliche Lehren“ von Fritz Kalle aufmerksam, von dem jetzt (Berlin, Expedition der „Gesellschaft zur Verbreitung von Volksbildung“) eine zweite Auflage erschienen ist.
    D. Red.
  2. Gern haben wir den meistens beherzigenswerthen Ausführungen und Vorschlägen des Herrn Verfassers in unseren Spalten das Wort gelassen, sind indessen mit sehr vielen Beobachtern unserer öffentlichen Zustände und der genannten Bewegungen der festen Ueberzeugung, es sei der entbrannte Classenkampf bei uns noch gar nicht zu einem solchen Umfang gediehen und die gerissene Kluft noch nicht eine so durchgreifende, daß nicht zahlreiche Elemente des von dem Herrn Verfasser so treffend bezeichneten Anhanges dem blendenden Einflusse demagogischer Hetzereien noch entzogen und dem gesellschaftlichen Frieden, der gemeinsamen Arbeit zu allmählicher Besserung der Zustände gewonnen werden könnten. Sehr freudig haben wir daher die mehrfach jetzt endlich laut gewordenen Entschlüsse zu einer organisirten Gegenagitation des gesunden deutschen Bürgerthums begrüßt und wünschen nur, daß dieselbe als eine ebenso umfassende und energische, wie verständige und nachhaltige sich bewähren möge. Die Schule hat in dieser Frage eine große Aufgabe, aber ein so gewaltiger, so tief in alle wirklichen Verhältnisse eingreifender Kampf um’s Leben muß gleichzeitig auch auf dem Boden des Lebens ausgefochten werden, und zwar mit allem Ernste, den er erfordert, und mit allen den Mitteln der Macht, des Widerstandes und der geistigen und sittlichen Einwirkung, welche bei uns der Welt der Intelligenz und der edleren Gesittung so reich zu Gebote stehen, wenn sie dieselbe nur verwenden und zur Bethätigung ihrer Kraft sich aufraffen will. Hier ist durch Versäumniß unverantwortlich gesündigt worden! Mögen die Schreckenszeichen der Zeit jeden Einzelnen an seine Pflicht mahnen!
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_412.jpg&oldid=- (Version vom 5.8.2016)