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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

hinein, und Jay Robinson selbst hatte „Miß Bodeinös“ gebeten, sich bei dem kalten Wetter zu schonen und sich in den Speisesaal zurückzuziehen. Soeben war er aus seinen Mastkörben und Strickleitern heruntergestiegen, als wir in dem Speisesalon die Töne des dort aufgestellten Pianinos und Gesang hörten. Es war ihre Stimme. Wir lauschten. Dann öffneten wir leise die Thür, um zuzuhören, sie aber schien uns nicht zu bemerken. Sie sang mit voller, kräftiger Stimme weiter, beendete das Lied und stand auf. Dann sah sie ihn und mich in der Thür stehen; sie schrak plötzlich zusammen, erwiderte unsern Gruß und ging in ihre Cabine.

Der Abend war schwarz, sternenlos die Nacht. Das Meer hatte sich etwas beruhigt. Wind und Regen jagten nicht mehr in die offene Klause hinein. Alwine war nicht beim Abendessen. Der Steuermann hatte auf dem Deck die Wache, und sie war oben mit Charlie in ihrer Klause, „Pa“ und „Ma“ sprachen davon. Das Blut schoß mir in den Kopf; seit ich das schöne Mädchen in den Armen gehalten, war es wieder vorbei mit der inneren Unempfindlichkeit, und jetzt hatte ich einen Anfall von Eifersucht.

Ich verließ den Tisch und stieg langsam, im Grunde innerlich beschämt, auf das Deck. Als ich in die Nähe der Klause kam, überzeugte ich mich, daß die Drei im Dunkeln beisammen saßen, Alwine, Charlie und Jay Robinson; der Steuermann mußte eben eingetreten sein, denn ich hörte ihn sagen:

„Sie sind hier, Fräulein? Es ist viel für junge Ladies, an einem dunklen Abend auf Deck zu sein.“

„O – ich liebe die Dunkelheit,“ antwortete ihre Stimme.

„Sie lieben das Finstere? So? Fürchten Sie sich gar nicht im Dunkeln?“

„Wenn ich allein bin, ja, aber Charlie ist bei mir.“

„O, Charlie ist ein guter Knabe. Nicht, Charlie. Du hast die junge Lady lieb?“ und er streichelte Charlie’s Kopf.

„Ja, ich liebe die wunderschöne Lady. Aber ich liebe Dich auch, und vielleicht – ich liebe Dich noch mehr.“

„Weshalb?“

„Ei, sie giebt mir keine Bilder; sie sieht sie sich nur an, und sie giebt mir keinen Cider und keine Apfelsinen; sie schält sie nur und ißt sie. Aber ich liebe ihre Stimme, und ich sitze gern auf ihrem Schooß,“ sagte Charlie.

„Ein drolliger kleiner Bursche! Frieren Sie nicht, Miß Bodeinös?“

„Nein, durchaus nicht, mein Herr. – Was ist das für ein Licht?“

„Es ist ein Schiff, Mylady; es hat Cours nach Europa. Es kreuzt gegen den Wind, ein schlechtes Geschäft für so ein armes Segelschiff. Denn Sie müssen wissen, Mylady, daß wir den Wind für uns haben, und wenn es so fort geht, sind wir binnen vier oder fünf Tagen in New-York.“

„Fahren wir so schnell?“

„Sehr schnell, Mylady. Wir machen acht Seemeilen in der Stunde.“

„Gehen Sie heute Nacht wieder in den Mast?“

„Vielleicht.“

„Thun Sie es nicht.“

„Warum nicht, Miß Bodeinös?“

„Weil es so dunkel ist. Im Dunkeln stürzt man leicht. Und die See geht doch gar zu hoch.“

„Haben Sie keine Angst. Oben die Laterne am Mastkorb beleuchtet die Strickleiter. Und dann, was die Nacht und die hohe See anbetrifft, so habe ich schon viel schlimmere Nächte und viel stürmischeres Wetter erlebt, als dieses.“

Ein ungestörtes Plauderstündchen, während alle Welt speiste! Ich quälte mich, etwas wie sittliche Entrüstung zu empfinden, und es gelang mir ein wenig, während ich in den Speisesalon zurückkehrte.

Die schöne Fremde blieb bis elf Uhr auf Deck, aber indeß wir noch speisten, kam Charlie schon wieder. Der kleine Bursche war sehr munter und aufgeräumt.

„Dieser zweite Steuermann ist ein liebenswürdiger Seemann,“ sagte das altkluge Kerlchen; „er weiß so viele Geschichten zu erzählen, und ich liebe ihn sehr.“

Charlie hatte ein feines Gefühl. Dieser zweite Steuermann war wirklich ein liebenswürdiger Seemann. Welche Gründe hatte ich eigentlich, Alwine das Wohlgefallen an ihm zu verargen?

Der folgende Tag war kalt und stürmisch. Der Wind blies uns ganze Regenschauer in’s Gesicht, und das Deck triefte von Wasser. Alles zog sich in den Speisesalon zurück. Das Schiff schwankte und schlug gegen die Wellen, die an seiner Seite aus einander barsten. Ich war allein mit Jay Robinson und Charlie auf dem Deck geblieben; wir hüllten uns in unsere Regenmäntel und sahen auf das Meer, das seine mächtigen Wogen gegen uns heranwälzte. Bald stieg der finstere Horizont mit rasender Schnelligkeit vor unseren Augen empor, und das wilde Meer mit seinen weißen Schaumkämmen entwickelte sich in seiner ganzen Ausdehnung vor unseren Blicken und brüllte und gellte uns wie ein Hexensabbath von tollen Wassergeistern in die Ohren; bald versank das Ganze wieder hinter der steigenden Schiffswand und hinter uns schien die gegenüberliegende Wand in’s Meer zu sinken. Der Wind pfiff durch die Taue und wollte Charlie den Hut abreißen, aber der kleine Bursche hielt ihn tapfer fest.

„Halte ihn gut!“ ermahnte der Steuermann.

„Keine Angst!“ rief Charlie zurück.

Endlich kamen die Sturzseen. Die heftigen Wogen schwollen immer höher, und krachend platschten sie an die Wandung des geneigten Schiffes. Ein breiter Strom Wassers übergoß das Deck und schwemmte mit Blitzesschnelle alle Ecken und Vertiefungen aus. Der ersten Woge folgte eine zweite, der zweiten eine dritte, jede heftiger als die vorhergehende. Wir schickten den bangen Charlie hinein. Jay Robinson führte ihn in die Thür, schloß dieselbe hinter ihm wieder und kehrte zu mir zurück. Dann entspann sich zwischen uns folgendes Gespräch:

„Sie sind ein Deutscher?“ fragte er.

„Ja.“

„Sind Sie noch nie auf der See gewesen?“

„Bereits zweimal.“

„Waren Sie schon in Amerika?“

„Ja; ich kenne Boston, Philadelphia, auch New-York, denn ich wohnte einen Sommer in West-Hoboken bei New-York.“

Sein Gesicht hob sich, als ich das sprach.

„In West-Hoboken?“ meinte er. „Dort bin ich zu Hause.“

„Ei!“ sagte ich überrascht. „Es war im Sommer 1867, als ich dort wohnte, und ich habe das große Feuer mit angesehen. Sie müssen noch Kind gewesen sein damals.“

„Zehn Jahre alt,“ nickte Jay Robinson.

„Sie erinnern sich wohl nicht, daß einer Ihrer Altersgenossen für ein paar Tage durch den Brand zu einer Berühmtheit wurde? Ein prächtiger Bursche.“

Jay Robinson schwieg.

„Er hatte bei jenem Brande Niemandem das Leben gerettet. Gott bewahre! Er hatte nur Möbel und Bettdecken gerettet, hatte letztere aus dem Fenster geworfen und war, arg versengt und halb erstickt, darauf hinabgesprungen und unten bewußtlos liegen geblieben. Und als er in einem Nachbarhause wieder zu sich gekommen, hatte er mit schwacher Stimme gefragt, was aus dem armen Canarienvogel geworden sei, der oben in dem Zimmer gestanden hätte. Das Thier war wie toll in seinem Käfig herumgeflattert, als der Bursch, ein Kind noch, in das Zimmer stürzt, um retten zu helfen; er schleppt, wie ihm geheißen ist, zuerst die Polstermöbel hinunter, und als er wieder hinaus kommt, hört er das Thier noch ängstlicher piepsen und flattern. Athemlos, will er zum wenigsten das Bauer öffnen, aber eine Drahtstange hat sich verbogen und ist nicht vom Flecke zu bringen; und als er noch die anderen Stühle hinuntergeschafft, läuft er wieder hinauf, um das Bauer zu holen, – aber das Feuer versperrt ihm die Treppe. Zweimal, dreimal rennt er hinein und brennt sich die Kleider an, dann sinkt er vor Rauch in der Stube halb bewußtlos um. – Als er sich wieder aufrafft, brennt die Stube – mit raschem Entschlusse packt er die nächste Federdecke, wirft sie aus dem Fenster und springt darauf. Im Sprunge vergehen ihm die jungen Sinne. Er hat nachher den Vorfall vor den Ohren einiger eifriger Zeitungsreporter erzählt. Als er erfahren, daß der Vogel verbrannt sei, hätte der Bursch unter Thränen gerufen: ‚er werde nie dulden, daß die verdammten Menschen wieder ein Thier in so einen verdammten Kasten sperrten und es dann verbrennen ließen in so einem verdammten Feuer,‘ und dann wäre er aufgestanden und hätte sich den Ruß aus dem Gesichte gewischt und gefragt, wie man den Rauchgeruch aus den Kleidern brächte.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 365. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_365.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)