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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

bitte mir aus, daß Sie künftig bei Ihren Spaziergängen eine wärmere Umhüllung wählen, als dieses leichte Mäntelchen. Die Arzenei, die ich Ihnen verschrieben habe, nehmen Sie fortgesetzt und im Uebrigen kann ich nur meine früheren Verordnungen wiederholen: Luft, Bewegung, Zerstreuung! Werden Sie das alles pünktlich befolgen?“

„Ja,“ versicherte Agnes, völlig eingeschüchtert durch den Commando-Ton des jungen Doctors, der sich trotz des hofräthlichen Verbotes nach wie vor als Hausarzt benahm und dabei immer noch ihre Hand festhielt.

„Ich verlasse mich darauf. Was meine Kranke betrifft, so können wir uns ja in die Behandlung theilen. Bereiten Sie die Frau in Gottes Namen auf den Himmel vor; ich werde mein Möglichstes thun, sie dem Himmel so lange wie möglich vorzuenthalten, und ich glaube, der Mann und die Kinder werden mir dankbar dafür sein. – Ich empfehle mich Ihnen, mein Fräulein.“

Damit zog er den Hut und schlug die Richtung nach der Stadt ein, während Agnes den Weg nach Hause fortsetzte. Sie hielt dabei gehorsam den vorgeschriebenen langsamen Schritt inne, innerlich aber war sie empört über den Doctor Brunnow. Er war jedenfalls ein ganz entsetzlicher Mensch, ohne Religion, ohne Grundsätze, voll Spott und Hohn über die heiligsten Dinge und dabei von einer unglaublichen Rücksichtslosigkeit. Freilich, was konnte man Anderes von dem Sohne eines Mannes erwarten, der den Staat und die Regierung hatte umstürzen wollen und seinen Kindern ähnliche verderbliche Neigungen einflößte! Der Hofrath hatte das seiner Tochter in den schwärzesten Farben ausgemalt, sie war vollkommen mit ihm einverstanden, daß die beiden Brunnows, der Vater wie der Sohn, zu verabscheuen seien – und im Uebrigen nahm sie sich vor, morgen wieder zu der Kranken zu gehen, denn es war selbstverständlich ihre Pflicht, dem Einflusse eines Arztes entgegenarbeiten, der seine Patienten vielleicht gesund machte, aber zugleich ihr Seelenheil gefährdete, indem er den geistlichen Trost für überflüssig erklärte.




In dem Zimmer der Baronin Harder hatte soeben eine längere Unterredung stattgefunden. Der Freiherr hatte seiner Schwägerin rückhaltlos eröffnet, in welchen Beziehungen Gabriele zu dem Assessor Winterfeld stand, und die Baronin war außer sich darüber. Sie hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung von dem Sachverhalte gehabt, es war ihr nie eingefallen, daß der junge, bürgerliche und vermögenslose Assessor die Augen zu ihrer Tochter erheben, oder daß diese eine solche Neigung erwidern könne. Gabrielens dereinstige Vermählung war in den Augen der Mutter stets mit dem Begriffe von Glanz und Reichthum verknüpft gewesen. Eine Verbindung, wie die in Rede stehende, schien ihr ebenso unmöglich wie lächerlich, und sie erging sich in den heftigsten Aeußerungen über den unverzeihlichen Leichtsinn ihrer Tochter und die „Tollheit des jungen Menschen“, der da glaubte, daß eine Baroneß Harder so ohne Weiteres für ihn erreichbar sei. Raven hörte finster und schweigend zu, endlich aber schnitt er der erzürnten Dame das Wort ab.

„Lassen Sie endlich diese Erörterungen, Mathilde, die an dem Geschehenen auch nicht ein Jota ändern! Sie haben am wenigsten Grund, so außer sich zu gerathen über Dinge, die sich unter Ihren eigenen Augen zutrugen. Daß es überhaupt bis zur Erklärung und zum Einverständnisse zwischen den Beiden kommen konnte, setzt doch mindestens eine grenzenlose Unaufmerksamkeit von Ihrer Seite voraus. Jedenfalls muß jetzt irgendetwas geschehen, und darüber wollte ich Rücksprache mit Ihnen nehmen.“

„O, ich bin froh, Sie zur Seite zu haben,“ rief die Baronin, welche die Ausfälle ihres Schwagers gegen ihre eigene Person stets grundsätzlich ignorirte. „Ich weiß es ja, daß ich Gabriele von jeher zu viel nachgegeben habe; jetzt glaubt sie sich mir gegenüber Alles erlauben zu dürfen. Sie haben zum Glück mehr Autorität. Greifen Sie mit voller Strenge ein, Arno! Ich bitte Sie selbst darum. Setzen Sie der Anmaßung dieses verwegenen jungen Meschen einen Damm entgegen! Ich werde es versuchen, meiner Tochter begreiflich zu machen, wie sehr sie sich und ihre Stellung vergaß, als sie solchen Anträgen Gehör schenkte.“

„Sie werden Gabrielen keine Vorwürfe machen,“ sagte der Freiherr mit Bestimmtheit. „Sie hat von mir bereits gehört, welchen Standpunkt Sie und ich zu der Sache einnehmen, und das ist genug. Vorwürfe und Quälereien würden sie nur mehr in den Trotz hineintreiben. Uebrigens ist ihre Neigung weder so lächerlich noch der junge Mann so unbedeutend, wie Sie annehmen; die Sache ist im Gegentheile sehr ernst und erfordert ein sofortiges energisches Eingreifen; hoffentlich ist es noch Zeit dazu.“

„Gewiß, gewiß,“ stimmte Frau von Harder bei. „Es ist ja unmöglich, daß meine kindische, flatterhafte Gabriele so tief und ernst gefesselt sein sollte. Sie hat sich von äußeren Eindrücken bestechen, von einer schwärmerischen Liebeserklärung blenden lassen. Junge Mädchen ihres Alters übersetzen ja so gerne die Romane, die sie lesen, in die Wirklichkeit. Sie wird zur Besinnung kommen und einsehen, zu welcher Thorheit sie sich hat fortreißen lassen.“

„Das hoffe ich,“ sagte Raven, „und darauf hin habe ich bereits meine Maßregeln genommen, um eine Begegnung der Beiden in Zukunft zu verhindern. Ihre Sache ist es, dafür zu sorgen, daß kein Briefwechsel stattfindet, und ich bin überzeugt, Mathilde, Sie werden etwaigen Bitten und Thränen unzugänglich sein und sich einzig von der Rücksicht auf die Zukunft Ihrer Tochter leiten lassen. Sie werden begreifen, daß meine testamentarischen Verfügungen nur dann in Kraft bleiben, wenn ich über Gabrielens Zukunft und Vermählung bestimme. Ich bin nicht geneigt, die offenbare Auflehnung gegen meinen Willen durch jene Verfügungen zu sanctioniren, und am allerwenigsten gesonnen, mit meinem Vermögen dereinst dem Herrn Assessor Winterfeld zu Reichthum und Ansehen zu verhelfen. Gabriele ist noch viel zu jung und unerfahren, um solchen Erwägungen überhaupt zugänglich zu sein. Sie überschauen die Verhältnisse, und ich darf daher wohl Ihrer Unterstützung gewiß sein.“

Der Freiherr wußte, was er that, als er diese ganz unzweideutige Drohung aussprach. Er kannte die unbeschränkte Macht Gabrielens über ihre Mutter und die Charakterlosigkeit der Baronin, die heute eine Sache in der heftigsten Weise verdammte und sich morgen von Trotz und Thränen zur Nachgiebigkeit bewegen ließ. Seine Drohung schob jeder etwaigen Schwäche einen Riegel vor und machte die Mutter zur aufmerksamsten Hüterin der Tochter. Frau von Harder war in der That ganz bleich geworden, als sie von Testamentsänderung hörte.

„Ich werde meine Mutterpflicht im vollsten Maße erfüllen,“ versicherte sie. „Seien Sie überzeugt, daß ich mich nicht zum zweiten Male täuschen lasse!“

Der Freiherr stand auf. „Und nun wünsche ich Gabriele zu sehen. Sie hat sich zwar seit unserer gestrigen Unterhaltung für krank erklärt, ich weiß aber, daß das nur ein Vorwand ist, um mir auszuweichen. Sagen Sie ihr, daß ich sie hier erwarte!“

Die Baronin kam dem Wunsche ihres Schwagers nach; sie ging und kehrte schon nach wenige Minuten in Begleitung ihrer Tochter zurück.

„Darf ich Sie bitten, uns zu verlassen, Mathilde?“ sagte Raven.

„Sie wünschen –?“

„Daß Sie mich und Gabriele auf eine Viertelstunde allein lassen. Ich ersuche Sie darum.“

Die Baronin vermochte kaum, ihre Empfindlichkeit zu verbergen. Sie hatte doch ohne Zweifel das nächste und erste Recht, der nun folgenden Gerichtsscene beizuwohnen, und jetzt sandte der Freiherr sie mit seiner gewohnten Rücksichtslosigkeit fort und behielt sich die entscheidende Unterredung allein vor, ohne ihre Mutterrechte im Geringsten zu respectiren. Hätte die Dame nicht eine so große Furcht vor ihrem Schwager gehegt, sie würde sich diesmal gegen seinen Willen aufgelehnt haben, aber sein Ton und seine Haltung zeigten ihr, daß er heute weniger als je Widerspruch vertrug, und so fügte sie sich denn oder vielmehr, wie ihre eigene Meinung lautete: sie wich mit tiefverletzten Gefühlen dieser unerhörten Tyrannei und verließ das Zimmer.

Der Freiherr war allein mit Gabriele, aber diese blieb im Hintergrunde des Gemaches stehen. Er erwartete vergebens eine Annäherung.

„Gabriele!“

Sie that einige Schritte ihm entgegen, hielt dann aber mit sichtbarer Scheu inne. Raven trat jetzt zu ihr.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_293.jpg&oldid=- (Version vom 11.7.2016)