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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

„Ich ihnen? Oder sie mir? Doch das kommt schließlich auf eins heraus. Das sind Dinge, die Du noch nicht beurtheilen kannst, Gabriele. Du hast keine Ahnung davon, was es heißt, mit einer Lebensstellung, wie die meinige war, in eine hocharistokratische Familie und in deren Gesellschaftskreise zu treten. Ich habe dort stets nur einen Freund gehabt, Deinen Großvater; bei allen Anderen habe ich mir meinen Platz erst erobern müssen, und dazu giebt es nur zwei Wege. Entweder man beugt sich geduldig all den Demüthigungen, die auf das Haupt des Emporkömmlings gehäuft werden, man zeigt sich tief durchdrungen von der hohen Ehre, deren man gewürdigt ist, und begnügt sich damit, geduldet zu sein – darnach war meine Natur nicht geartet. Oder man wirft sich zum Herrn der ganzen Gesellschaft auf, man läßt sie fühlen, daß es noch eine andere Macht giebt, als die ihrer Stammbäume, und setzt bei jeder Gelegenheit ihrer Ueberhebung und ihren Vorurtheilen den Fuß auf den Nacken; dann lernen sie sich beugen. Es ist im Allgemeinen viel leichter die Menschen zu unterdrücken, als man glaubt; man muß es nur verstehen, ihnen zu imponiren, darin liegt das ganze Geheimniß des Erfolges.“

Gabriele schüttelte leise den Kopf. „Das sind harte Grundsätze.“

„Das sind die Erfahrungen der dreißig Jahre, die ich vor Dir voraus habe. Denkst Du, ich habe nicht auch meine Ideale gehabt, meine Träume und meine Begeisterung? Denkst Du, es hat hier nicht auch geflammt mit all den heißen Empfindungen der Jugend? Aber das nimmt ein Ende, wenn man im Leben vorwärtsschreitet. In eine Laufbahn wie die meinige konnte ich die Träume nicht mit hinübernehmen. Sie halten am Boden fest, und ich wollte emporsteigen und bin emporgestiegen. Ich habe freilich einen hohen Preis dafür gezahlt, zu hoch vielleicht – gleichviel, ich habe es erreicht.“

„Und bist Du glücklich dadurch geworden?“ Die Frage kam fast unwillkürlich von den Lippen des jungen Mädchens.

Raven zuckte die Achseln. „Glücklich! Das Leben ist ein Kampf, keine Glückseligkeit. Man wirft den Gegner oder wird geworfen; ein Drittes giebt es nicht. Du freilich siehst das alles noch mit anderen Augen an. Dir ist das Leben noch ein Sommertag, wie er da draußen leuchtet. Du glaubst noch, daß dort in jener schimmernden Ferne, hinter jenen blauen Bergen ein ganzes Eden voll Glück und Seligkeit liegt – Du täuschest Dich, Kind. Die goldene Sonne scheint über unendlich viel Jammer und Erbärmlichkeit, und hinter den blauen Bergen ist auch nichts weiter, als der mühselige Weg von der Wiege zum Grabe, den wir uns noch mit so viel Haß und Streit würzen. Das Leben ist nur dazu da, um jeden Tag neu überwunden zu werden, und die Menschen – um sie zu verachten.“

Es lag eine unbeschreibliche Härte und Herbheit in diesen Worten, aber auch die ganze Entschiedenheit des Mannes, der einen ihm unerschütterlich gewordenen Glaubenssatz ausspricht. Die tiefe Bitterkeit freilich, welche hindurchwehte, entging dem jungen Mädchen, das halb beklommen und halb empört zuhörte.

„Aber schließlich kommt doch die Zeit, wo man dieses ewigen Kampfes überdrüssig wird,“ fuhr Raven fort, „wo man sich fragt, ob die einst erträumte Höhe es denn werth war, sein Alles dafür einzusetzen, wo man die Summe all dieses ruhelosen Jagens und Ringens, all dieser Erfolge zieht und des ganzen Spiels herzlich müde wird. Ich bin oft müde – recht müde.“

Er lehnte sich zurück und sah in die Ferne hinaus, es lag ein finsterer Schmerz in diesem Blicke, und die tiefe Müdigkeit, von der er sprach, verrieth sich auch in seiner Stimme. Gabriele schwieg, auf’s Höchste betroffen von der tiefernsten Wendung, die das Gespräch genommen hatte, das auch sie auf ganz unbekannte Bahnen führte. Sie hatte bisher nur den eisernen, unzugänglichen Mann gekannt, mit seiner kalten Ruhe und seinen Gebietertone. Selbst sein Benehmen gegen sie war immer nur die Herablassung zu dem Ideenkreise eines Kindes gewesen; er hatte nie anders zu ihr gesprochen, als in jener halb gütigen, halb spottenden Weise, in der auch heute ihr Gespräch begann. Zum ersten Male öffnete sich diese sonst so streng verschlossene Natur in einem Augenblick der Selbstvergessenheit, Gabriele sah in eine Tiefe, die sie nicht geahnt hatte, und die sich auch wohl keinen Anderen aufthat, aber sie fühlte instinctmäßig, daß sie nicht daran rühren und nicht heraufbeschwören durfte, was sich da unten regte.

Es folgte eine lange Pause. Beide blickten schweigend in die weite Landschaft hinaus, die in dem heißen Lichte eines der letzten Augusttage vor ihnen lag. Der Sommer schien vor seinem Scheiden noch einmal all seine Gluth und Pracht über die Erde auszuschütten. Der hellste Sonnenschein umfloß die alterthümliche Stadt, die mit ihren Häusern und Thürmen sich am Fuß des Schloßberges ausbreitete; er lag über all den Wiesen und Feldern, über all den Ortschaften, die sich bald näher, bald ferner dem Auge zeigten, und blitzte in den Wellen des Flusses, der in mächtigen Windungen durch das Thal zog. Um dasselbe schlossen sich die Berge, wie zu einem Kranze, bald in weichgeschwungenen Linien, bald in zackig kühnen Formen aufstrebend, mit grünen Triften und dunklen Wäldern, aus denen hier und da eine weiße Wallfahrtskirche hervorleuchtete, oder eine altersgraue Bergveste sich erhob. Ganz in der Ferne stieg in blauen Dust verloren das Hochgebirge auf, das als erhabener Hintergrund den Horizont begrenzte, und über dem Allen lächelte ein tiefblauer Himmel und schwebte goldiger Sonnenduft, der den ganzen Aether zu erfüllen schien. Es war einer jener Tage, wo Alles wie in Licht und Glanz getaucht, Alles davon überfluthet ist, als gäbe es auf der ganzen Welt nichts weiter, als nur Sonnenschein.

Es konnte keinen schärferen Gegensatz geben, als diese sonnige Landschaft und den tiefen, kühlen Schatten des Schloßgartens mit seiner düstern Einsamkeit. Die riesigen Kronen der Linden, mit ihren dicht verschlungenen Aesten, hielten den ganzen Raum wie mit einer grünen Dämmerung umsponnen und unter den hohen Baumwipfeln rauschte einförmig die Fontaine. In ewigem Wechsel stieg der helle Strahl empor, um dann tausendfach zersprüht wieder niederzusinken. Bisweilen, wenn ein Sonnenstrahl, der sich hier unten verlor, die fallenden Tropfen streifte, funkelte und glänzte es, wie mit Diamantenpracht, aber sie erlosch schon im nächsten Moment. Alles lag wieder im kühlen Schatten, und durch den nebelhaften Wasserschleier blickten die grauen Gestalten der Nixen mit den langen Haaren und den steinernen Häuptern gespenstig hindurch.

Die stille, schwüle Mittagsstunde schien Alles in träumerische Ruhe zu wiegen; kein Vogel flatterte auf; kein Blatt regte sich mehr, nur der Nixenbrunnen rauschte geheimnißvoll durch die tiefe Stille. Es war die Sprache des Quelles, der seit undenklichen Zeiten hier auf dem Schloßberge rieselte, und seit länger als einem Jahrhundert in diesem Steingewand, in das man ihn gezwungen, der treue Gefährte des Schloßgartens gewesen war. Auch an ihm waren jene Zeiten vorübergehuscht, die einst die alte Bergveste geschaut hatte, die ursprünglich an der Stelle des Schlosses stand, wilde, gewaltthätige Zeiten, voll Kampf und Streit, voll Sieg und Niederlage und dann wieder Jahre des Glanzes und der Pracht, als der Fürstensitz sich hier erhob. Weltereignisse waren vorübergezogen; Geschlechter waren gekommen und gegangen, bis endlich die neue Zeit kam, die Allem eine andere Gestalt gab. Allen, nur dem Quelle des Schloßberges nicht, um den Sage und Aberglauben eine heilige Schutzmauer gewoben hatten. Aber jetzt war auch seine Zeit gekommen; die alten Steinbilder, welche ihn so lange schützend umgaben, sollten fallen, und er selbst sollte niedersteigen aus dem hellen Tageslichte in die dunkle Erde, um dort auf immer gebannt zu bleiben.

Ob es Klagen oder Erinnerungen waren, die der Quell flüsterte, sein träumerisches Rauschen übte eine seltsame Macht auf den ernsten, finsteren Mann, der nie das einsame Träumen und seine Poesie gekannt hatte, wie auf das junge, blühende Mädchen an seiner Seite, das bisher lachend und spielend durch das Leben geflattert war, ohne seinen Ernst auch nur zu ahnen. Es löste all jenes heiße Ringen und Streben, all diese frohen Kinderträume in eine einzige räthselhafte Empfindung, welche die Beiden halb süß und halb beängstigend umspann. Unter diesem einförmigen und doch so melodischen Rieseln und Rauschen wich die Welt da draußen mit ihrer schimmernden Ferne und ihrem leuchtenden Sonnengold weit und weiter zurück, und endlich versank sie ganz. Dann legte es sich um die beiden Zurückgebliebenen wie düstere Schatten, wie kühle Wasserschleier, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_208.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2018)