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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

vereinigt haben, eine bedeutendere, bis zum Fuße des Abhanges sich hinabziehende Furche bildet. Natürlich ist die Auswaschung da am stärksten, wo die größere Wassermenge wirkt, also am Fuße des Abhanges. Hier wird daher auch die Thalbildung ihren Anfang nehmen, indem das fließende Wasser, wenn es den Grund und die Seiten seines Bettes genugsam ausgewaschen hat, ein Nachstürzen der umgebenden Schuttmassen der Ufergehänge verursacht. Je lockerer diese Schuttmassen sind, desto flacher wird das Ufergehänge werden, je compacter, desto steiler. Ja, im Gestein von fester Structur können sie sogar senkrecht werden. Hat nun das Wasser in seinem unteren Laufe so viel ausgewaschen, daß sein ursprüngliches Bett sich zu einem Thale erweitert hat, dessen Sohle nicht viel höher als der Fuß des Abhanges liegt, so läßt hier in Folge des jetzt eintretenden geringen Gefälles die Kraft der Erosion nach, und das Wasser beginnt weiter oben in seinem Laufe, wo das Gefälle noch bedeutend ist, vorzugsweise auszuwaschen und zu nagen, wenngleich wegen seiner geringeren Menge in schwächerem Grade. Die Thalbildung schreitet somit von unten nach oben fort; unten verbreitert und vertieft sich das Thal; nach oben schneidet es sich weiter ein und vergrößert auf diese Weise sein Wasserabzugsgebiet.

Nicht immer aber geht die Thalbildung so regelmäßig und ohne alle Störung vor sich. Nicht selten stellen sich im Verlaufe der Thalauswaschung der Strömung des Wassers mächtige Querhemmnisse entgegen, sei es, daß diese in festeren, nicht so leicht zu erodirenden Gebirgstheilen oder in Bergvorsprüngen, sei es, daß sie gar in Hebungen des unteren Thalbodens oder in anderen Ursachen bestehen. Die Folge davon wird jedenfalls sein, daß das Wasser sich allmählich zu einem See ansammelt, dessen Abfluß dann, wenn jener das gehörige Niveau erreicht hat, an der niedrigsten Stelle des Querdammes stattfindet und sich über den in der Regel steilen Hang des Hemmnisses als Wasserfall hinabstürzt. Erst wenn das Hindernis, gänzlich durchwaschen ist, was jedenfalls außerordentlich lange Perioden erodirender Thätigkeit bedingt, wird der See entleert werden und sein Grund fortan wieder trockenen Thalboden bilden. Der Ort der Durchwaschung selbst wird sich gewöhnlich, besonders wenn das durchbrochene Material ein festes war, als eine enge Schlucht, als ein Felsdefilê darstellen. – Dies ist im Großen und Ganzen der Hergang bei der Thalbildung.

Eine besondere Erwähnung verdienen die Wasserfälle. Bei diesen muß natürlich die Erosion sich am kräftigsten zeigen, da das Wasser dort die stärkste mechanische Kraft äußert, wo es am schnellsten fließt. Stürzt es sich als Wasserfall über eine senkrechte Wand, so lassen sich wieder zwei Punkte seiner vornehmsten Wirksamkeit unterscheiden: oben die Schwelle seines Absturzes, unten die Stelle seines Aufpralles, während die senkrechte Wand direct desto weniger angegriffen wird, je weniger das im größeren oder kleineren Bogen herabschießende Wasser dieselbe berührt.

Daß das Wasser auf die Schwelle seines Absturzes und weiter oberhalb durch die ganz außergewöhnliche Schnelligkeit seiner Strömung einsägend wirkt, ist leicht einzusehen, besonders wenn man bedenkt, daß in Thälern mit steilem Gefälle das Wasser meistens Steingerölle, ja sogar mitunter mächtige Felsblöcke mit sich führt, welche nach Maßgabe ihrer Schwere den Boden in ausgiebiger Weise ausschleifen und ausnagen. An der Stelle seines Aufpralles wirkt das Wasser vorzugsweise ausgrabend. Zunächst bildet sich hier in Folge der besagen Stoßkraft des Wassers eine kesselartige Vertiefung, die sich mehr und mehr ausbreitet und namentlich den untersten Theil der Absturzwand selbst angreift, weil dem zwischen der Wand und dem herabfallenden Wasserstrome befindlichen, aufwallenden und wirbelnden Wasser durch den Strom selbst der Abfluß gesperrt wird. Diese Unterwühlung dauert nun so lange fort, bis endlich die unterminirte Felswand in Folge ihrer eigenen Schwere zusammenstürzt, worauf der ganze Vorgang von neuem beginnt. Selten jedoch wirkt die Erosion sowohl oben wie unten in gleichem Maße, meistens wird das Wasser, zufolge verschiedener Bedingungen, bald oben, bald unten überwiegend stärker angreifen. In beiden Fällen jedoch ist eine Folge der Erosion die, daß der Wasserfall, indem er vor sich, das heißt stromabwärts, eine Schlucht mit senkrechten Wänden zurückläßt, stetig so lange thalaufwärts rückt, bis er die Thalstufe gänzlich durchbrochen hat und nun das Wasser mit gleichmäßiger Schnelligkeit abwärts fließen kann. Es ist einleuchtend, daß die hier geschilderten Vorgänge in um so großartigerem Maße auftreten, je größer die Wassermasse und ihre Triebkraft und je weniger hart das ihrer Einwirkung unterliegende Gestein ist.

Ein sehr lehrreiches Beispiel von Wasserfällen, die vorzugsweise durch Unterminirung rückwärts schreiten, liefert der berühmte Wasserfall, welchen der Niagara in Nordamerika auf seinem Laufe vom Erie-See bis zu dem etwa hundert Meter tiefer gelegenen Ontario-See bildet. Die Fallwand besteht hier aus Schichten von härterem Kalkstein mit einer unterlagernden Schicht von weichem Schiefer (Niagaraschiefer). Von dem ungeheuren Wasserschwall wird der Schiefer bald weggewaschen, und die nun überhängende Kalkwand stürzt zusammen, sobald ihr die Unterlage in genügendem Maße entzogen ist. Nach Berechnungen von Hall und Lyell beträgt das Zurückschreiten des Niagarafalles im Durchschnitt etwa ein drittel Meter jährlich, und ist nach derselben Quelle die drei Stunden lange Schlucht mit den schroffen Wänden vom Falle abwärts bis Queenstown in der Nähe des Ontario, wo die von dem Strome durchflossene Hochebene plötzlich abfällt, in sechsunddreißigtausend Jahren gebildet worden, und wird der Fall den Erie-See in weiteren siebenzigtausend Jahren erreichen und denselben entleeren. Aehnliche Bewandtniß hat es mit dem Rheinfall bei Schaffhausen, der auch fortwährend rückwärts schreitet und so lange rückwärts schreiten wird, bis er den Bodensee erreicht und wenigstens theilweise entleert.

Die Klammen dagegen liefern Beispiele von Erosion, die vorzugsweise durch Einsägung von oben her wirkt, besonders dann, wenn die Wasserfallwand nicht geradezu senkrecht, sondern nur in höherem Grade steil ist oder wenn dieselbe aus gleichartig festem oder gar in ihren unteren Schichten aus härterem Gestein besteht. Hierher gehören denn auch die Klammen der Großarl, sowie die engen Schluchten in den benachbarten Tauernthälern. In diesen Thälern finden sich aber auch alle Vorbedingungen zur Klammbildung gegeben. Sie haben alle ein steiles Gesenke, ein bedeutendes Wassersammelgebiet, dieses letztere nicht sowohl wegen seiner Ausdehnung, als vielmehr deshalb, weil sie größtentheils aus Gletschern in Fülle gespeist werden und weil die atmosphärischen Niederschläge hier sehr reichlich sind. Fast alle stürzen mit ihrer Sohle kurz vor ihrem Eintritt in’s Salzachthal sehr steil oder geradezu senkrecht ab, wie das Großarler, das Gasteiner, das Rauriser Thal und andere. Dabei bestehen dieselben in ihrem unteren Gebiete aus nicht allzu hartem Kalkgestein.

Im Frühling ist es, wo sich hier die Erosion in vollster Thätigkeit zeigt. Nicht nur, daß dann unter der Einwirkung der die Schnee- und Eismassen des Gebirges schmelzenden Frühlingswärme die Wassermenge eine außergewöhnlich mächtige wird, die sich mit tobender Wuth und zerstörender Gewalt, Alles mit sich reißend, die steilen Thäler hinabstürzt, sondern es werden ihnen auch in reichlicherem Maße als sonst größere Felstrümmer dadurch zugeführt, daß das in die Fugen und Spalten des Gesteins der Thalwände einbringende Schneewasser bei dem zu dieser Jahreszeit besonders häufig eintretenden Temperaturwechsel sehr oft wieder gefriert und, da es in gefrorenem Zustande einen größeren Raum einnimmt, wie ein Keil absprengend und lösend thätig ist.

In dieser Weise hat das Wasser, der fallende Tropfen, seit unermeßlichen Jahren, seit Jahrtausenden gewirkt und in unermüdlicher, rastloser Thätigkeit, die einen Begriff von der Unendlichkeit beizubringen geeignet ist, im harten Fels diese unheimlichen Abgründe und Klüfte gegraben; so wirkt es noch fort, und so wird es weiter wirken, abermals Jahrtausende vielleicht, bis es endlich, gleichsam wie im demokratischen Nivellirungsdrange, einen

Theil der Gebirge abgetragen und sich einen gleichmäßigen, bequemen Abfluß verschafft hat.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_198.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)