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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

und verwundert den Kopf gewiegt. „An den Maler Max Werner –“ und Irmgards Handschrift. Und da unten stand sie auch als Absenderin genannt. Ein freudiger Gedanke durchzuckte sie mit Blitzesschnelle. Irmgard hatte sich zu einem herzlichen Entgegenkommen entschlossen, ehe Robert Harder ihr noch seine Liebe gestand. Aber warum kam der Brief zurück? Er trug mehrere Poststempel – er mußte aus der Schweiz zurückgekommen sein. Sie wandte ihn nur und – sank mit einem gellenden Schrei gegen die Lehne des Sessels. Der Kopf fiel auf die Brust; sie war ohnmächtig.

Harder sprang auf und ihr zu Hülfe. Irmgard folgte ihm eiligst. Sie sah einen geschlossenen Brief auf der Erde liegen, hob ihn auf und erkannte ihn auf den ersten Blick. „Mein Brief – an Werner –“ rief sie; „o Gott! Mutter – ich wollte ja … liebe Mutter –!“

„Sie kommt zu sich,“ sagte Robert, sie öffnet die Augen. „Was ist’s mit dem Brief?“

Irmgard hatte ihn in der Hand gedreht. Nun starrte sie mit einem Blicke des Entsetzens aus die Aufschrift der Rückseite. Es stand dort von der Hand des Thuner Postboten der Vermerk: „Adressat ist gestern auf dem See verunglückt.“

Todtenbleich wankte sie zurück, bis ihr die Zeltstange eine Stütze bot. „O, nun – bin ich – für alle Ewigkeit – gebunden –“ stammelten kaum vernehmbar die farblosen Lippen.


9.

„Auf dem See verunglückt –“ das war eine grausame Trauerbotschaft.

Und recht als sollte Irmgard für den Bruch ihres Gelöbnisses gestraft werden, brachte sie ihr Versöhnungsbrief. So faßte sie selbst dieses traurige Begebniß auf, und nicht die zärtlichste Zusprache Robert’s, nicht die mildesten Worte ihrer Mutter konnten den schreckhaften Gedanken bannen, daß sie mittelbar an Werner’s Tode schuld sei, daß der Todte selbst sie an ihr Wort mahne, daß sie es ihm halten müsse. Sie erklärte das Verlöbniß für aufgehoben. „Ich bin gebunden – der Tod bindet.“

Frau von der Wehr hatte sich nie eingestehen wollen, daß in ihrem Herzen noch das letzte Fünkchen Hoffnung nicht erloschen sei. Nun es wirklich erlosch, merkte sie erst, wie dunkel es in ihr war. Aber sie fühlte es wie eine Erleichterung, daß Irmgard sich mit Werner ausgesöhnt.

„Gott selbst hat Dir’s eingegeben,“ sagte sie beruhigend, „diesen Brief zu schreiben, traf er ihn auch nicht mehr unter den Lebenden. Von Deiner Seite ist alles geschehen, das Unrecht gut zu machen, das Du ihm zufügtest – mehr konntest Du nicht thun. Hättest Du gezögert, ihm die Hand zu bieten, und seinen Tod erfahren, dann vielleicht hättest Du Dich schwer bekümmern müssen. Jetzt kann es Dir ein reicher Trost sein, daß Du ihn und mich glücklich zu machen wünschtest, ehe Du noch Deines eigenen Glückes gewiß warst.“

Irmgard schüttelte den Kopf. „Es mag alles so sein, Mutter,“ antwortete sie, aber mir kann das nichts bedeuten. Ich fühle in mir die Unmöglichkeit, nach diesem schweren Schlage mein Schicksal von dem Deinen zu trennen. Und auch seinetwegen kann es nicht anders sein. Es ist mir eine Gewißheit, die Nichts erschüttern kann, daß meine Liebe ihn nicht zu beglücken vermöchte.“

Robert fügte sich nicht. „Ich weiß, daß Du mich liebst,“ sagte er, „und gebe Dich nicht frei. Wie sehr Dich auch dieses unerwartete Ereigniß im Augenblicke erschütter, die Zeit wird den Eindruck mildern. Ich dringe jetzt nicht in Dich, aber vergessen darfst Du nicht, daß die Liebe mächtiger bindet als der Tod. Die Liebe überwindet den Tod.“ –

Frau von der Wehr hatte sofort einige Zeilen an ihren Vetter, den Gerichtsrath, geschrieben. Er kam noch denselben Abend und wurde nun in alle Verhältnisse eingeweiht. Vor Allem, meinte er, sei jetzt erforderlich, festzustellen, was das heiße: „auf dem See verunglückt.“ Der Jurist fand diese Nachricht zu unbestimmt, den Nachrichtgeber zu unzuverlässig. „Man muß sofort von den Behörden einen genauen Bericht verlangen.“

„Aber wie läßt sich bezweifeln –?“ wendete Elise ein. „Die Post hätte den Brief nicht mit dieser Aufschrift zurückgehen lassen, wenn es sich nicht um ein stadtkundiges Ereigniß handelte, das die Beförderung an die Adresse gänzlich ausschloß. Nein, nein; es läßt sich dieser Nachricht nur die schlimmste Auslegung geben.“

„Ich bin weit entfernt, Hoffnungen erwecken zu wollen,“ antwortete der Rath, „an die ich unter diesen Umständen selbst nicht glauben kann. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Werner ertrunken, aber man verlangt in solchem Falle Gewißheit. Wollen Sie mich mit den näheren Ermittelungen beauftragen, beste Cousine, so stelle ich meine Dienste zur Verfügung.“

„Ich habe eine größere Bitte an Sie,“ sagte Frau von der Wehr nach kurzem Bedenken. „Schon vor Ihrem Eintreffen hatte ich mir vorgenommen, sogleich selbst nach der Schweiz zu reisen und, wenn ich zum Begräbniß zu spät käme, wenigstens dem Grabe des lieben Geschiedenen die letzten Ehren mit einem Kranz aus der Heimath zu erweisen. Auch in seinem kleinen Haushalt wird Manches zu ordnen sein, was am besten eine weibliche Hand ordnet. Wer auch sein Erbe sein mag, einen Theil seiner Hinterlassenschaft möchte ich gern mir erwerben, namentlich ein gewisses Bild, an das sich gemeinsame Erinnerungen knüpfen. Auch das Haus, in dem er wohnte, möchte ich ankaufen und künftig zu meinem Sommeraufenthalt wählen; von der Gemeinde hoffe ich die Genehmigung zu erwerben, dem Künstler einen Denkstein zu setzen. Bei allen diesen Verhandlungen wäre mir Ihr Beistand wünschenswerth. Würde es Sie nicht zu sehr beschweren, lieber Vetter, mich zu begleiten? Aber schon morgen in der Frühe möchte ich fort.“

Der alte Herr stimmte sofort zu. Es sei der gescheiteste Gedanke, meinte er, an Ort und Stelle selbst zuzusehen, wie die Sachen stünden. Sein Ferienurlaub laufe zwar in den nächsten Tagen ab, aber ein so außerordentlicher Anlaß werde sicher ein längeres Ausbleiben entschuldigen. „Da muß mein junger Freund Hell zur Vertretung heran,“ schloß er, „und er wird mich nicht im Stich lassen, ob ihn schon die zartesten Bande halten. Ich denke, seine Herzensangelegenheit ist geordnet.“

Irmgard blieb in der Stadt. Es geschah nicht nur, weil sie mit Recht erwartete, auch Robert Harder werde nach der Schweiz eilen und ein Zusammentreffen mit ihm an der Unglücksstätte nicht zu vermeiden sein, sie fühlte sich auch so leidend, daß sie ihrer Mutter bei der eiligen Reise nur ein Hinderniß gewesen wäre.

Frau von der Wehr und Rath Pfaff fuhren Tag und Nacht ohne Aufenthalt. Harder folgte zwölf Stunden später nach, um sie durch keinerlei Rücksichtnahme auf seine Person zu binden. Er hatte es natürlich gefunden, daß die verehrte Frau einen älteren Mann und Verwandten zum Reisebegleiter wählte.

Noch nie war ihr eine Eisenbahnfahrt so qualvoll lang erschienen. Im Hotel zu Thun erkundigte sie sich sogleich nach dem Unglücksfall. Man wußte ihr dort wenig mehr zu sagen, als daß die Zeitung einen kurzen Bericht gebracht habe, bei dem heftigen Sturm, der auch sonst viel Unheil angerichtet, sei ein Maler Namens Werner um’s Leben gekommen, der stets waghalsig in seinem kleinen Boot Wind und Wellen zu trotzen liebte. Es solle schon längere Zeit mit seinem Verstande nicht ganz richtig gewesen sein. Im Gasthause fand der traurige Vorfall kaum Beachtung.

Frau von der Wehr bestellte, ohne sich auch nur eine Stunde Ruhe zu gönnen, einen Wagen und dirigirte ihn nach der einsamen Villa am See hinaus. Sie ließ ihn eine Strecke vor dem Hause auf der Wiese halten und ging den Rest des Weges zu Fuß, auf den Arm des Rathes gestützt. Alle ihre Kraft mußte sie zusammennehmen, nicht umzusinken. Daß der Rath voraus Erkundigungen einziehe, wollte sie nicht leiden.

Die Thür war verschlossen. Sie gingen um das Haus herum nach dem hinteren Eingange. In der Küche fanden sie die alte Ursel. Sie erkannte nach aufmerksamem Betrachten die Dame wieder, die sie nur das eine Mal gesehen hatte, als sie in Begleitung ihres Herrn kam und ihr freilich auch viel zu denken gab. „Ach, liebe gnädige Frau,“ sagte sie, „warum sind Sie nicht früher gekommen? Ich glaube, Herr Werner hat immer auf Sie gewartet – und nun ist’s zu spät. Gott habe ihn selig!“

„Ich weiß das Schlimmste,“ antwortete Frau von der Wehr, sich mit größter Anstrengung fassend, „und komme deshalb –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 128. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_128.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)