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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Boden Berlins hat er mit Blut getränkt, vielhundertfachen Tod gesäet, viel tausend Wunden geschlagen.

Höher und höher, von milden Frühlingswinden umfächelt, steigt die Sonne des 19. März am unbewölkten Himmel empor und beleuchtet grell den Schauplatz der Empörung und Zerstörung. Durch Waffenstillstand für den Augenblick im Zaum gehalten, jedoch zu neuem, wilderem Kampfe bereit, stehen die Söhne Eines Vaterlandes, Grimm und Haß im Busen, wie zwei feindliche Brüder sich gegenüber. Und die Zunge in der Wage von Preußens Geschick steht still: hier die blutgefüllte Schale, dort die Schale des Friedens. Mit banger Erwartung und fiebernder Ungeduld wenden sich Aller Blicke nach dem stolzen Königshause zu Köln an der Spree, wo die Entscheidung in den Händen eines Mannes liegt, dessen Rachen aus „der Schönheit und des Wissens stillem Schattenlande“, aus dem mondbeglänzten träumerischen See in das sturmgepeitschte wilde Meer des Lebens gerissen, halt- und steuerlos zu schwanken begann. Aller Augen sind nach dem Schlosse gerichtet - da schnellt die blutgefüllte Schale hoch empor, und blitzesschnell von Mund zu Mund bis in die entfernteste Hütte getragen, ertönt das Wort: Ich will Frieden haben mit meinem Volke.

Es war gegen neun Uhr Morgens, als die Truppen die Ordre zum Abzuge empfingen. Nicht als Sieger, doch unbesiegt, dem Befehle ihres Kriegsherrn gehorsam, scheiden sie von dem Schauplatze eines Kampfes, in dem für sie kein Lorbeer zu pflücken war. Und hätten die Krieger, wie es ja vielleicht in ihrer Macht lag, mit gewaltiger Faust den Aufstand niedergeschlagen, hätten sie über Blut und Leichen, über dem eingeäscherten Berlin ihr Banner aufgepflanzt - war hier Lorbeer zu ernten, war hier Ehre zu mehren?

In ernstem und düsterem Schweigen sehen wir die Colonnen sich ordnen und zum Brandenburger Thor hinausrücken hier links nach dem Potsdamer Thor abschwenkend. Manches Knie, mancher Arm zittert, doch nicht vor körperlicher Schwäche, krampfhaft umklammert die festgeschlossene Hand das Gewehr, fest drückt sich Lippe auf Lippe, und sogar Thränen, große Thränen rollen aus manchem gesenkten Soldatenauge. Dem Befehle ihres Kriegsherrn gehorsam, haben sie die schwere Schlacht geschlagen gegen die Brüder in der Hauptstadt, dem Befehle ihres Kriegsherrn gehorsam, kämpfen sie jetzt den schwereren Kampf, den Kampf der Selbstverleugnung. Gedemüthigter Stolz, gekränktes Ehrgefühl bäumen sich ohnmächtig auf gegen die höhere, die höchste Pflicht: die deutsche Mannestreue. Und die Weltgeschichte ist gerecht. Wie sie jede Ueberhebung, jeden Frevel endlich doch noch rächt, so sühnt sie endlich auch jede unverdiente Schmach. Die damals mit umwölktem Blicke dem gegen sie empörten Berlin den Rücken gewendet: die Garden, die Brandenburger, die Lausitzer und Pommern - noch ahnten sie nicht, daß aus jener Saat des Blutes und der Schmerzen ihnen dereinst eine Ernte des herrlichsten Ruhmes ersprießen würde. Noch leuchtete vor ihrem umflorten Auge nicht das Zukunftsbild, die Victoria, aus dem hohen Siegesdenkmal über den Eichen des Thiergartens schwebend. Dieselbe Straße, die sie damals so traurig gewandelt, sie schmückte sich später für sie wie eine Braut in frischer Blumenpracht mit unverwelklichen Kränzen, vom begeisterten Danke der Hauptstadt den Ueberwindern von Alsen, den Siegern von Sadowa, den Helden von Sedan gewunden - die damalige Marterstraße verwandelt zur stolzesten Triumphbahn die je eines preußischen, eines deutschen Kriegers Fuß durchschritten hat.

Ewig denkwürdig wird jedem Augenzeugen der Anblick Berlins nach jenem Abzuge der Truppen bleiben. Wie nach geöffnetem Wehre der gehemmte Gießbach donnernd und schäumend in das in die Felsen gegrabene Bett hinabstürzt, so wälzte sich nun in unbeschreiblichem Wogen und Tosen die Volksmenge über die Barricaden und brauste in neuen, immer neuen Massen aus allen Vierteln Berlins dem Schlosse zu. Von der Königsstraße her, vom Hake’schen Markte, vom Petri-Platze, aus der Friedrichs-, aus der Dorotheen-Stadt ziehen langgestreckte, ganz unübersehbare Reihen heran, Verwundete und Sterbende tragend, um sie im Souterrain und in den Prunksälen des Schlosses zu betten, wohin ein Frauenherz voll Sehnsucht nach Versöhnung sie ruft, wo liebevolle Pflege ihrer wartet. Doch voran, noch erhitzt von dem Kampfe, nicht gewöhnt an Selbstbeherrschung, an Zähmung der einmal zur Wildheit entfesselten Leidenschaften, trunken, zu jeder Gewaltthat, zu jeder Rohheit ohnehin stets allzu bereit - voran stürmt unter wildem Gejauchze, in chaotischem Getümmel der Pöbel, die Hefe jeder Hauptstadt, jene Hefe der Menschheit, die ja leider noch im Schooße aller dicht bevölkerten Orte unter äußerem Glanze und Firnisse pestaushauchend den unheimlich dunklen Untergrund der Gesellschaft bildet und bei jedem die Tiefen aufwühlenden Sturme auf die Oberfläche gespült wird. Mit Blut bespritzt, Mordwerkzeuge jeder Art, neben Feuerwaffen verschiedener Construction Aexte und andere Eisenwerkzeuge, riesige Stangen mit Bajonnet und Sense, mit Zinken und Haken, Rappiere und Säbel, kurz, das mannigfaltigste Gewaffe aus der Urväter Hausrath in schwieligen Händen schwingend, bekleidet mit verschlissener Joppe, mit zerrissener Blouse, mit erbeuteten Uniformstücken, gräßlich verstümmelte Leichen mit sich schleppend, so rückt näher und näher dieser entsetzliche Vortrab. Und schon hat der wirre und wüste Haufen das Schloß erreicht und umzingelt, schon ergießt er sich vom Lustgarten, vom Schloßplatze aus in die hochgewölbten Portale.

Warum aber stockt plötzlich die reißend schnelle Bewegung der Menge, warum staut sich der entfesselte Strom? Verstummt auf eine Secunde ist das ohrzerreißende grausige Getöse; Niemand will glauben, was er sieht, wie auf ein Trugbild starren die zweifelnden Blicke. Doch nur einen Augenblick - und vorwärts drängen die Massen, ein wildes Gekreisch aus tausend und aber tausend Kehlen, Wuth- und Hohngeschrei durchschrillt, von dem Gewölbe zurückgeworfen und in den inneren Höfen des Schlosses verhallend, unheilkündend die Lüfte.

In der Passage des Schlosses, nach dem Schloßplatze zu, vor der großen Treppe, die nach den Gemächern führt, in denen die königliche Familie weilte, stand, Gewehr bei Fuß, in zwei Reihen geordnet, die Schloßwache vom Kaiser Franz Grenadierregiment, von einem Premierlieutenant befehligt, einem „Jüngling, näher dem Manne“, der später und noch bis vor kurzer Zeit als General eine einflußreiche Stellung bekleidete. War bei der Ueberstürzung, der überwältigenden, schnellen Aufeinanderfolge der Ereignisse während des Abzuges der Truppen die Ablösung der Wache übersehen und vergessen worden? Oder verstieg sich die Verblendung, der Wahnwitz irgend eines subalternen Geistes bis zu dem Grabe, die verkehrteste aller Maßregeln anzuordnen, die in diesem Augenblicke denkbar war?

Mag dem sein, wie ihm wolle: die Thatsache bleibt dieselbe. Nicht abgelöst, ohne jegliche Ordre standen die letzten dreißig Mann der Berliner Garnison vor der Treppe, die zu den Gemächern des Königs führt, und in hochfluthender Brandung stieß nun auf diese kleine Schaar die leidenschaftentflammte, von blutigem Kampfe noch glühende, dem allerrohesten Haufen angehörende Masse. Ein Tropfen Blutes an dieser Stelle, in diesem Augenblicke vergossen - kaum auszudenken ist die Kette der ungeheueren Folgen, welche dann ganz nothwendig hätten eintreten müssen. Und das Bewußtsein der schweren Verantwortlichkeit, die ein fürchterliches Verhängniß auf seine Schultern gewälzt, prägte sich aus in der entschlossenen energischen Haltung, der gewaltsam erzwungenen Ruhe jenes commandirenden jungen Officiers. Regungslos wie eine Bildsäule stand er da, regungslos seine kleine Mannschaft. Auszuharren auf dem ihm anvertrauten Posten heischt das Gesetz, befiehlt ihm die Pflicht, gebietet ihm die Ehre, und auszuharren war er gewillt bis zum letzten und äußersten Moment. Die düster zusammengezogenen Brauen, das entschlossen blitzende Auge sprachen eine nicht mißzudeutende Sprache: nicht als Lebender wird er ohne Ordre seiner Vorgesetzten vom Platze weichen; nur über seine Leiche geht der Weg.

Einem gewaltig tragischen Loose scheint das Geschick den Pflichtgetreuen weihen zu wollen. Stürzte die drohend und durch den Nachschub immer drohender anschwellende und andrängende, von den edleren Elementen der Bürgerschaft wenig oder kaum durchsetzte, geschweige denn geleitete Rotte auf ihn und seine kleine Schaar, so durfte er diesem feindlichen Angriffe nicht tapfere Gegenwehr entgegen stemmen, nicht in männlichem Kampfe sein Leben theuer verkaufen - morden, ruhmlos hinschlachten mußte er sich lassen, ohne nur die Hand zum Widerstande regen zu dürfen, wenn er nicht die von Neuem entfesselte Furie zu sinnloser Wuth, zu den entsetzlichsten Thaten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 83. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_083.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)