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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


und noch ist ihre Entwickelung nicht abgeschlossen. Ich bin überzeugt, sie versteht schon heute nicht mehr, was ihr noch vor wenigen Monaten das allein Richtige schien und –“

Frau von der Wehr unterbrach ihn mit allen Zeichen der Unruhe. „Es giebt Entschlüsse,“ sagte sie, „die man nicht bereuen darf, weil man die Thatsachen nicht mehr ändern kann, auf denen sie beruhten. Irmgard wird bestätigen, daß es nicht von meinem Willen abhängt, den Dingen einen andern Lauf zu geben.“

Irmgard war das Blut in’s Gesicht geschossen. Obgleich sie den Baumeister, der hinter seinen Plänen abwartend stand, nicht ansah, glaubte sie doch zu errathen, daß sie von ihm scharf beobachtet würde. Nun ihre Mutter sich auf sie berief, wich plötzlich wieder alle Farbe aus ihrem Gesicht. Sie lehnte den Kopf an deren Schulter und sagte: „Es war mein Wille.“

Die Worte hatten einen zaghaften Klang, schienen aber doch weitere Einwendungen des alten Herrn nicht zu gestatten. Er fügte sich denn auch und ging auf das Project selbst ein. Irmgard betheiligte sich nun bei dem Gespräche, das zwischen ihm und dem Architekten sehr lebhaft geführt wurde, gar nicht. Es machte auch auf sie keinen bemerklichen Eindruck, daß der Rath sich schließlich für den Entwurf entschied, dem sie selbst den Vorzug gegeben hatte.

Der wackere alte Herr hatte aber seine Bedenken keineswegs als beseitigt angesehen. Sobald sich die Gelegenheit fand mit Harder allein zu sprechen, sagte er diesem: „Es mag ein wunderliches Ansinnen an einen Baumeister sein, seinen Bau selbst vereiteln zu sollen, aber wenn Sie sich einen Gotteslohn erwerben wollen, thun Sie das Ihrige, ihn nicht zu Stande kommen zu lassen! Will meine Cousine eine barmherzige Schwester werden – das mag sich begreifen lassen. Aber Irmgard! Das alte Herz thut mir weh, wenn ich mir vorstelle, daß sie damit wirklich Ernst machen könnte. Lassen Sie’s an Weiterungen nicht fehlen, zögern Sie die Sache hin, erfinden Sie Schwierigkeiten, vertrösten Sie von einem Monat zum anderen! Aus zwölf wird ein Jahr, und in einem Jahre kann sich die Gestalt der Dinge sehr verändern.“

Harder glaubte diesem vertraulichen Ansinnen gegenüber sich die Frage erlauben zu dürfen, welcher Grund denn eigentlich die Damen zu einem so entscheidenden Schritte veranlasse.

„Ja, darüber kann ich nur sehr unvollkommene Auskunft geben,“ antwortete der Rath achselzuckend, „denn daß der Tod des Mannes und Vaters diese Gemüther so tief erschüttert habe, daß sie alle Hoffnung des Gesundens aufgeben müßten, halte ich selbst für unwahrscheinlich. Ich denke mir und reime mir’s aus allerhand Andeutungen zusammen, daß im vorigen Jahre, als die Damen in der Schweiz waren, etwas vorgegangen ist, woraus sie ein Geheimniß machen. Ich sah sie dort in Begleitung eines Herrn, der ganz absonderliche Beziehungen zu haben schien.“

„Zu Irmgard?“ fragte der junge Mann lebhaft.

Der Rath schüttelte den Kopf. „Zu ihrer Mutter. Elise war so froh und glücklich … sie schien vergessen zu haben, was sie Schmerzliches durchlebt hatte. Als ich sie dann wiedersah, hatte sich der traurige Umschlag vollzogen, der seine Nachwirkung noch jetzt äußert. Irmgard aber, die ich damals sehr unliebenswürdig fand, war nun ganz Zärtlichkeit für sie. Reimen Sie sich’s zusammen, wenn Sie’s können! Meinem alten Kopfe will nur so viel einleuchten, daß zwischen Mutter und Tochter eine Differenz gewesen ist, die in diesem wunderlichen Project ihren Abschluß gefunden hat.“

Irmgard war den ganzen Tag über still und nachdenklich. Abends, als das Boot des Müllers, mit hellen Ampeln behängt, unter den Linden vorglitt und das Quartett sich in getragenen Liedern vernehmen ließ, stand sie am Staketenzaun und sah träumend auf den Deich hinab. Robert Harder trat zu ihr und lauschte ebenfalls dem Gesange. Es schien wenigstens so. Aber seine Gedanken waren nur bei seiner schönen räthselhaften Nachbarin.

„Ich habe mit den Herren etwas verabredet,“ sagte er nach einer Weile, „das Sie interessiren wird.“

„Und das wäre?“

„Wir wollen morgen früh im Buchenwäldchen eine der Kapurnen öffnen, die Sie entdeckt haben.“

„Ohne mich?“

„Nein, gerade für Sie.“

„Um welche Zeit soll ich mich bereit halten?“

„Wir werden einige Stunden mit Spaten und Hacke zu arbeiten haben, bis wir auf das Steinlager stoßen, und wir können nicht verlangen, daß Sie uns dabei Gesellschaft leisten, mein Fräulein. Aber ich verspreche Ihnen, daß kein Stein gehoben werden soll, bevor Sie im Walde eintreffen. Richten Sie sich also ganz nach Ihrer Bequemlichkeit ein!“

„Ich danke Ihnen. Sie sollen nicht zu lange auf mich warten dürfen.“

Das bekannte „integer vitae –“ schallte hinauf. „Was heißt das?“ fragte sie.

Er übersetzte ihr die erste Strophe. „Das ist gewißlich wahr,“ sagte sie. „Und im Gegentheile: wer ein unruhiges Herz hat … Spricht der Dichter auch von dem?“

„Nein! Er schildert als höchsten Lohn eines schuldlosen Lebens die Freuden einer das Herz beglückenden Liebe. Hören Sie nur: eines reizenden Mädchens gedenkt er da am Schlusse – seiner Lalage, der hold kosenden und wonnig lächelnden. Die Sänger da auf dem Wasser wissen wohl, was sie singen, plötzlich heben sich die Stimmen und hallen jubelnd aus.“

Sie schwieg darauf. Nach einer langen Pause fragte sie: „Glauben Sie, daß ein Mensch, den wir lieben, uns sterben kann?“

Er wartete verwundert, ob sie sich deutlicher erklären würde. „Sie meinen, ob in unserm Gefühle für ihn …?“

„Nein, nein! Ob er mit dem Tode aufhören kann zu sein, was er uns war, ob wir in Ewigkeit mit ihm verbunden bleiben, ob er immer Anspruch auf unsere Treue hat und uns einmal für sich fordern wird? Wenn die Seele unsterblich ist –“

„Wenn!“

„Zweifeln Sie daran?“

„Man kann da leider nur eine Gewißheit haben.“

„Und welche?“

„Daß es uns Menschen unmöglich ist, zur Gewißheit darüber zu gelangen.“

„Außer durch den Glauben.“

„Ueber den man nicht disputiren soll. Es ist auch ein Glaube an die Sterblichkeit der Seele denkbar, ein sehr frommer Glaube, der jede Selbstsucht abstreift und sich nicht beunruhigt fühlt durch die Zuversicht, daß es nach dem Tode kein Ich und Du geben werde, sondern nur eine Rückkehr der Seele in die große Weltseele, aus der sie der Leib abgeschieden hatte.“

„Und es bliebe uns keine Rückerinnerung?“

„Würden wir ihrer dann bedürfen? Wir wären ja Eins mit Allem.“

Sie stützte den Kopf in die Hand und sah ihn eine Weile fragend an, ohne zu sprechen. Dann sagte sie: „Kann man einen Todten beleidigen?“

„Ihn in uns und uns in ihm,“ antwortete er.

„Und er selbst hätte kein Gefühl der Kränkung, die unsere Untreue ihm zufügt?“

„Wie sollte er? Ist er nicht auch nach Ihrem Glauben ein Wesen, das ganz geistiges Ich ist, nur beschäftigt mit seiner eigenen Vervollkommnung, nur zugewandt dem Lichte, in dem es sich zu verklären trachtet? – Aber sagen Sie mir, warum beschweren Sie sich mit solchen Gedanken?“

„Sie sind nun einmal in mir,“ sagte sie leise, „und Sie wissen nicht …“

„Was weiß ich nicht?“

„Ach! es ist unsagbar.“ – –

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_078.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)