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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


welche die Schule zu Bach, diesem Meister aller Meister, gefunden hat und noch fortdauernd unterhält. Wer wüßte es nicht, daß der größte Theil seiner unsterblichen Meisterwerke in Leipzig entstanden ist? Für die Thomasschule hat er seine Passionsmusiken, die große Zahl seiner Motetten und Choralbearbeitungen geschrieben, in der Thomaskirche sind sie zuerst gesungen worden, und hier werden sie noch heute mit besonderer Sorgfalt gepflegt. Darum gelten Thomaskirche und Thomasschule aber auch als classischer Boden. Schon Mancher hat die Stätte, da der große Bach gelebt und gewirkt, mit frommer Rührung betrachtet, das Orgelchor, auf dem er gestanden, das bescheidene Eckfensterlein der Schule, hinter welchem er gearbeitet hat. Und das Gefühl, an solch geweihter Stätte zu stehen, das ist es auch, welches den Thomanerchor heute noch begeistert, wenn es gilt, „Bach“ zu singen. Es läßt sich behaupten, daß der Thomanerchor lediglich durch Bach zu dem geworden ist, was er heute ist, ein Kunstinstitut ersten Ranges.

Zwar weiß man auch aus früheren Zeiten schon, daß das Alumneum der Thomasschule als Gesanginstitut eines großen Ansehens genossen. So wird vom Anfange des 17. Jahrhunderts berichtet, daß „Jünglinge aus aller Herren Ländern, aus Preußen, Ungarn, Polen Dänemark, Schweden nach Leipzig zusammengeströmt seien, um neben dem wissenschaftlichen Unterrichte an der Thomasschule hauptsächlich auch die hier zu erwartende musikalische Unterweisung, die man für die Verherrlichung des Gottesdienstes wünschte, genießen zu können.“ Schwerlich sind aber die Leistungen des Chores damals schon so bedeutend gewesen, wie heute. Was jenen Reiz ausübte, war wohl mehr die Neuheit des protestantischen Kirchengesanges überhaupt, als die Art der Ausführung desselben.

Heute läßt sich vom Thomanerchor, der gegenwärtig unter Leitung des Professor Ernst Friedrich Richter steht, nur als von einem Kunstinstitute sprechen. Professor Richter, dieser ausgezeichnete Mann (geboren im Jahre 1808 in Großschönau bei Zittau, Cantor an der Thomasschule seit 1868), berühmt als gründlicher Theoretiker und nicht minder geachtet als Tonsetzer, hat die Leistungen des seiner Leitung unterstellten Chores auf eine Höhe gebracht, die wohl nicht noch überschritten werden kann. Durch tägliche Uebung geschult, haben es diese jugendlichen Sänger zu einer Ausdauer, Fertigkeit und Sicherheit in der Ausführung der schwierigsten Tonwerke gebracht, die den Kenner mit freudigem Erstaunen erfüllen. Besonders hervorstechend sind diese beneidenswerthen Eigenschaften im Vortrage Bach’scher Werke, die bekanntlich sehr schwierig sind und an die Ausführenden Anforderungen stellen, denen nur die geübtesten Sänger bei viel Lust und Liebe zur Sache zu entsprechen vermögen. Andererseits läßt sich aber auch behaupten, daß ein energisch betriebenes Bachstudium den besten Einfluß auf die musikalische Bildung des Sängers äußert. Das hat der Thomanerchor an sich selbst erfahren.

Man wird von einem aus Knaben und Jünglingen zusammengesetzten Gesangskörper nicht eine besonders mächtige Klangwirkung erwarten können. Den Sopranen und Alten fehlt das Glänzende der Frauenstimmen, den Tenören und Bässen die Fülle des Mannestones. Nichtsdestoweniger ist aber auch in Bezug auf das Verhältniß der Stimmen beim Thomanerchor Alles Ebenmaß. Der Grundton ist in allen vier Stimmen derselbe gedämpfte; keine deckt die andere, jede weiß ihren Platz mit Ehren zu behaupten. Die reiche Scala der im Thomanerchor vorhandenen Ausdrucksmittel steigt etwas weniger an, läßt, wie bereits gesagt, die höchsten Stärkegrade vermissen, bewegt sich aber dafür um einige Grad weiter nach unten, überrascht durch ein selten schönes pp. Und wann ist die Wirkung des Gesanges am nachhaltigsten? Ich möchte behaupten im Pianissimo, wenigstens habe ich an mir selbst erfahren, daß der leise Flüsterton viel leichter in’s Herz hinein dringt, als der mächtige Tonstrom, der die Sinne berauscht. Jenes sanfte Tongesäusel ist aber gerade in der Kirche, wo es an der ahnungsvollen Stimmung des Hörers einen mächtigen Verbündeten hat, von besonderer Wirkung. Und so mag auch der Thomanerchor schon Manches gewirkt haben. Mozart soll von seinem Gesange zu Thränen gerührt worden sein. Wie viel Thränen der trostreiche und erhebende Gesang der Thomaner aber im Laufe der Jahrhunderte getrocknet hat, wer möchte das sagen?

Außer dieser ideellen Seite hat das Alumneum der Thomasschule aber auch eine materielle, und auch diese darf nicht unberücksichtigt bleiben. Der praktische Gesichtspunkt, aus welchem sich die Einrichtung des Instituts betrachten läßt, ist folgender. Die Schule ist durch milde Stiftungen in den Stand gesetzt, eine bestimmte Anzahl Schüler in Kost und Wohnung zu nehmen und ihnen unentgeltlichen Unterricht zu gewähren. Dafür müssen sich dieselben dem Gesangschore einreihen lassen, dem die Ausführung der Gesänge sowohl beim Gottesdienste, wie auch bei den verschiedenen gottesdienstlichen Verrichtungen, als Trauungen, Begräbnissen etc., und zwar in allen Kirchen der Stadt, beziehungsweise in ihren Parochien obliegt. Aus diesem Grunde ist musikalische Befähigung die erste Bedingung zur Aufnahme in das Alumneum. Man wird das Wohlthätigkeitsprincip in dieser Einrichtung nicht verkennen. Schon mancher arme Knabe ist auf diese Weise zu einer wissenschaftlichen Bildung gelangt, die ihm die beschränkten Mittel des Vaters nicht hätten gewähren können. Andererseits ist aber auch nicht zu leugnen, daß das, was das Alumneum leisten muß, ein ganz artiges Capital von Zeit und Mühe repräsentirt.

Noch vor Kurzem war das Loos der Thomaner wahrlich kein beneidenswerthes. Neuerdings ist insofern eine Besserung eingetreten, als das überaus zeitraubende und anstrengende Begräbnißsingen abgeschafft worden ist. Mag auch durch den Ausfall der verschiedenen „ganzen und halben Leichen“ (technischer Ausdruck für große und kleine Begräbnisse, die besonders vergütet wurden) das Budget manches armen Thomaners nicht unwesentlich vermindert worden sein, das Institut des Alumneums ist dadurch von einem wirklichen Krebsschaden befreit worden. Wie manche Unterrichtsstunde ist unter der Parole „zur Leiche“ geschwänzt worden, ohne daß der Lehrer auch nur das Mindeste hätte einwenden können! Seitdem das Begräbnißsingen abgeschafft worden ist, sieht man auch keinen Thomaner mehr in seiner Chortracht. Auch das ist kein Fehler, denn der hohe Hut und schwarze Mantel wollten Manchen nicht recht kleiden und haben vielfach zum Spott Veranlassung gegeben.

Wenn das Alumneum der Thomasschule in dieser Weise reformirt und unsern gegenwärtigen Zeit- und Ortsverhältnissen angepaßt worden ist, so wird das Jedermann nur für recht und billig halten. Im Uebrigen aber ist die Einrichtung des Alumneums, die noch ganz kürzlich der Gegenstand lebhafter Anfechtungen war, nur zu vertheidigen. Man hat gegenwärtig ein übles Vorurtheil gegen die Internate (das Wohnen der Schüler in der Anstalt selbst) überhaupt. Auch ich billige es nicht, wenn, wie dies z. B. in den königlich preußischen Schullehrerseminarien noch vor etwa zehn Jahren der Fall war, (ich rede aus Erfahrung) Jünglinge von siebenzehn bis dreiundzwanzig Jahren in einer unwürdigen Weise bevormundet, dadurch zu Ausschreitungen veranlaßt und in der Entwickelung ihres Charakters übel beeinflußt werden. Aber ich kann in dem Zusammenleben überhaupt nichts Gefährliches erblicken. Alles, was man den Internaten an verderblichem Einflusse nachgesagt hat, und was wohl auch durch einzelne Fälle bestätigt sein mag, das gilt in viel größerem Maße von jedem Pensionat. Was speciell die Thomasschule anlangt, so vermöchte das Alumneum die ihm für den Einzelnen zu Gebote stehenden geringen Subsistenzmittel nicht besser anzulegen, als in der Weise, wie es wirklich geschieht, nämlich durch gemeinsame Verpflegung. Eine mit denselben Mitteln bewirkte Einzelverpflegung könnte noch weit geringere Sicherheit für das leibliche und geistige Gedeihen der Zöglinge bieten.

Und dann wolle man doch auch den musikalischen Gewinn, der durch die Vereinigung einer so stattlichen Anzahl stimmlich begabter, intelligenter junger Leute, die sich eins wissen zu einem Zwecke, erzielt wird, nicht gering anschlagen. Die Musik steht nicht so außer allem Zusammenhange mit dem Gesammtzwecke des Gymnasiums, wie Viele glauben. Würde sonst ein Mann, wie Dr. Martin Luther, der keinen Schulmeister oder Pfarrer achten wollte, wenn er nicht singen könne, sich so nachdrücklich für die Aufnahme des Gesanges unter die Disciplinen der Schule verwandt haben? Wenn aber der bildende Einfluß der Musik, insbesondere des Gesanges, auf die sittlichen Kräfte des Menschen unbestritten ist, so muß auch jedes Bestreben,

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