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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Ein leutseliger Herr!“ sagte der Papageifarbene geschmeichelt zu seinem Nachbar, einem grauen Holländer, neben dem er Platz nahm.

„Recht niederträchtig,“ antwortete der Holländer einsilbig, indem er das „nieder“ betonte und demnach beistimmte.

Cleve aber begrüßte erst noch am vorderen Tische zwei Notare, die eben Documente vor sich ausbreiteten, und folgte dann Verno, der den Präsidenten geleitet hatte und ihm selbst jetzt ehrerbietig entgegenkam.

„Nehmt zu meiner Linken Platz!“ raunte er ihm zu. Dann trat er vor den mittleren Sessel, links vom Vicepräsidenten und überschaute die Versammlung. Aller Blicke waren erwartungsvoll auf ihn gerichtet. Da ertönte ein summendes Geräusch, wie von nahendem Menschenschwarme, und zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Schloßhof.

In der That wälzte sich ein Haufe von ein paar Hunderten aus der niedersten Volksclasse daher, verzweifelte Gestalten, wie sie in gährenden Zeiten der Schrecken des Bürgers zu werden pflegen. Voran schritt, ein seltsames Instrument, wie ein Scepter, vor sich tragend, eine baumlange, schwindsüchtig hagere Figur mit schlotternden Gliedmaßen, in rother Gugel, barfüßig und barhaupt, einen spitzen Bocksbart am Kinn, mit langflatterndem, blondem Haar und einem so unstäten Ausdruck des Auges und so unbeschreiblichem Hochmuth in der Haltung des Kopfes, daß man glauben konnte, hier habe der Irrsinn in Gestalt des Größenwahnes seinen Thronsitz aufgeschlagen. Und nicht viel anders war es auch. Das schwindende Hirn Nikol’s, des Basses, war durch seinen jähen Aufschwung vom Flickschneider zum Gebieter des Pöbels und Freunde eines Herzogs bis zum Wahnwitz überreizt. Er hatte die fixe Idee, der erste Würdenträger des künftigen Königs von Burgund zu werden, und sah schon jetzt in seiner klafterlangen, unten keulenartigen, oben spitzen Eisenstange, jener unter dem Namen „Goedentag“ bekannten mörderischen Waffe, nichts Anderes, als seinen künftigen Marschallsstab. Um aber der erstaunten Welt zu zeigen, daß er nach Art großer Männer sich seiner Herkunft nicht schäme, hatte er das obere Ende der Stange mit rothen Streifen zum Ellenmaß umgewandelt.

„Platz da für das Volk von Gent!“ donnerte Nikol’s Stentorstimme, und widerstandslos, wie farbige Muscheln von brandender Fluth, waren die „bunten Krähen“ augenblicklich hinweg geschwemmt; unaufhaltsam hatte in wenigen Minuten der ganze Schwarm den Säulengang besetzt, ja Einzelne drückten sich schon, die Hände mit auffallender Absichtlichkeit hinter sich verbergend, frech neugierig bis in den Saal hinein, als der Herzog seine Rechte erhob.

Nikol, in vorderster Reihe stehend und mit vorgestrecktem Halse jeder Bewegung des Herzogs folgend, erkannte sofort die Bedeutung des Signals und erwiderte dasselbe, indem er sein Eisenscepter hoch hielt. Augenblicklich verstummte der Lärm, die Vorgedrungenen zogen sich in die Reihe zurück, und der Herzog, mit unbeschreiblichem Wohlwollen in den wasserblauen Augen, nahm das Wort:

„Ah, sieh da! Auch das liebe Volk von Gent dränget sich herzu. Wir haben es zwar erst zum Abendschmause geladen, aber – unserer Berathung, ihr werthen Herren, darf Jedermann beiwohnen. Wir haben nicht Augen und Ohren des Volkes zu scheuen. Unser Wahlspruch ist und sei fortan immerdar“ – wieder erhob er die Rechte – „Freiheit und Oeffentlichkeit!“

Nikol schwang sein Scepter und „Freiheit und Oeffentlichkeit! Heil dem Herzog!“ scholl es hundertfältig seinem Donnerrufe nach.

Cleve ließ die Hand sinken, Nikol sein Scepter.

„Still, ihr lieben Brüder, still!“ fuhr der Erstere fort. „Ich danke euch für eure Begrüßung und bitte euch, fortan unsere Berathung nicht zu stören. ... Ihr aber, meine Herren Abgeordneten, vernehmet, was ich euch mitzutheilen habe! – Es ist euch bekannt, daß eure erhabene Gebieterin, den vereinten Bitten ihres Landes nachgebend, sich einen Gemahl erkoren hat. Ihre Wahl ist, dem Wunsche des Volkes gemäß, auf meinen Sohn gefallen. Mich aber hat sie mit dem Auftrage beehrt, in ihrem Namen das Weitere vorzukehren. So habe ich euch denn eingeladen, um nicht nur als Zeugen bei dem feierlichen Verlobungsacte im Thronsaale zu dienen, sondern jetzt schon hier mit mir zu berathen, was weiter zum Heile des Landes ersprießlich sein möchte. Vor Allem werdet ihr, liebe Getreue, eure Gebieterin nicht im Zweifel über eure freudige Zustimmung lassen wollen, und so fordere ich euch auf, ihr, wenn sie in ihre Hofburg heimkehrt, eure Glückwünsche in dem einstimmigen Zurufe darzubringen: 'Heil der Herzogin und dem neuen Herzog!'“

Da Cleve dieses Mal, um der Loyalität der Abgeordneten nicht vorzugreifen, seine Rechte nicht erhob, statt der erwarteten Begeisterung aber nur ein überraschtes Umsichblicken erfolgte, so entstand augenblicklich eine peinliche Pause. Cleve’s Gesicht zuckte, aber es glättete sich sogleich wieder, als der Vicepräsident, sich neben ihm erhebend, das Schweigen brach.

„Heil der Herzogin und ihrem erwählten Gemahl!“ rief er würdig, mit Betonung der wohlerwogenen beiden letzten Worte. Und „Heil, Heil!“ fielen die Abgeordneten ein, und „Heil, Heil!“ pflanzte es sich im Volke fort.

„Ich danke euch, lieber Herr und werthe Freunde,“ fuhr der Herzog mit sichtbarer Zufriedenheit fort. „Mein Sohn wird euren Beifall zu verdienen wissen, denn er ist wohl in der Kriegskunst unterwiesen und wird noch in dieser Nacht zum Heere abgehen, um eurem tapferen Präsidenten Hülfstruppen zuzuführen. Wer aber soll in der Bedrängniß dieser Zeit, und wenn der Feind vor unseren Thoren hält, der jungen Herzogin an seiner Statt als Berather und Beistand zur Seite stehen?“

Wieder erhob sich der Vicepräsident.

„Verzeihet, Herr Herzog! Diese Eigenschaft dürfte wohl erst Eurem Sohne selbst gesetzlich zuzusprechen sein, und dazu bedarf es noch vor dem Verlöbnisse der feierlichen Verbriefung unserer Privilegien von seiner Seite.“

„Sehr richtig bemerkt, Herr Vicepräsident! Umsichtig und pflichttreu, wie es das Volk von Euch gewohnt ist. Wie Ihr aber sehen wollet, so sitzen dort zwei Notare, welche bereits sämmtliche Documente bis zur Unterschrift vorbereitet haben, indeß ich mir vorbehalte, die Ehepacten genau nach den Wünschen der Staaten mit Euch und dem Kanzler zu vereinbaren. Somit dürfte die Frage der Stellvertretung eine wohlberechtigte, ja Angesichts des drohenden Feindes eine Pflicht sein.“

„Euer Gnaden weise Vorsicht ist bekannt,“ antwortete mit höflicher Zähigkeit der Andere, „allein das Wohl der Staaten würde die Vertagung der Frage doch bis dahin verlangen, daß die Befugnisse eines 'Berathers und Beistandes' gesetzlich festgestellt sind.“

„Da hören wir den gewiegten Beamten und den Vertreter des öffentlichen Rechtes,“ lobte Cleve mit verhaltenem Grolle. „Aber scheinet Euch nicht, daß die Worte 'Berather und Beistand' schon so treffend diejenigen Befugnisse ausdrücken, welche nicht überschritten werden dürfen, daß es unnöthig Zeit verlieren hieße, sie noch zu interpretiren? Denn der 'Berather' der Krone hat nicht zu handeln, und ihr 'Beistand' kann ihr nach der Logika nicht mehr Rechte ausüben helfen, als sie selber verfassungsmäßig hat.“

„Nichts Anderes als diese treffliche Auslegung ist es auch,“ nahm gleich verbindlich, wenn auch nicht ohne Ironie, der Vicepräsident das Wort, „was ich Namens der Staaten documentirt sehen möchte.“

„Schreibet es, ihr Herren Notare, schreibet es so, daß keinerlei 'Mißtrauen' aufkommen kann!“ rief fast unwillig der Herzog, indem er seinen Blick im Vorüberschweifen mit vielsagendem Ausdrucke auf Nikol haften ließ.

Ein unwilliges Gemurmel, in leisem Basse beginnend und in verdächtiger Weise sich fortpflanzend, war die Folge dieses Blickes. Dann ertönte grollend das Wort „Mißtrauen!“, und „Mißtrauen!“ rollte es drohend weiter von Mund zu Mund. Ein offener Ausbruch stand bevor. Aber Cleve selbst war es, der ihn hemmte. Seine Loyalität litt keinen Act der Drohung.

„Ruhe, meine Kinder, Ruhe!“ rief er den Murrenden zu. „Der Herr Vicepräsident ist im vollsten Rechte! Selbst übergroße Vorsicht ist besser, als leichtfertige Nachsicht, wo es sich um eure Privilegien handelt, und läge auch eine Kränkung eurer besten Freunde darin. Erst der Staat, dann der Herzog und sein Stellvertreter! Jetzt aber, werthe Herren, nachdem jedes Bedenken beseitigt, dünkt es mich an der Zeit, wenn es euch genehm ist, zur Wahl des Stellvertreters zu schreiten. Gefällt es noch Jemand, darüber zu sprechen?“

Einer der Abgeordneten erhob sich.

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