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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


bei der gegenwärtigen Fassung unserer Strafbestimmungen überhaupt ein genügender Beweis nicht zu erwarten ist, wenn die Chemie gerade den gefährlichsten Hopfensurrogaten gegenüber ihre Unzulänglichkeit erklären muß, sollte es da nicht andere Mittel geben, dem Unwesen auf die Spur zu kommen und die Fälscher dem Richter zu überliefern? Es ist ganz seltsam, und wenn wir es nicht täglich erlebten, würden wir es nicht glauben, daß die deutsche Polizei alle die im Publicum und in der Presse laut werdenden Klagen über Lebensmittelverfälschung so vollständig ignorirt. Die Verabfolgung winzig kleiner Quantitäten Gift in den Apotheken unterliegt einer strengen polizeilichen Ueberwachung, und das ist eine löbliche Maßregel. Wenn dagegen, um aus einer Unzahl Notizen eine herauszugreifen, das „Berliner Tageblatt“, eine Zeitung von gegen fünfzigtausend Abonnenten, berichtet, daß eines Tages auf dem Anhalter Bahnhof achtzig Centner Herbstzeitlosesamen für Berlin angelangt sind, und zwar mit dem nicht mißzuverstehenden Hinweis, daß dieses Gift bestimmt sei, den theuren Hopfen zu ersetzen, so regt sich keine Hand, und keine Andeutung ist zu den Ohren des Publicums gelangt, aus der zu schließen wäre, daß man nachgeforscht hätte, wo dieses Gift hingekommen sei. Noch mehr! Notorisch schädliche Surrogate, nicht blos Schmierartikel, wie in unserer Nr. 36 bereits gesagt worden ist, haben sich auf landwirthschaftlichen und industriellen Ausstellungen ungestraft an's Licht wagen dürfen, und ich habe nirgends gefunden, daß die von vielen Zeitungen gebrachte Geschichte widerrufen wäre, der zufolge ein hoher Herr auf der Bremer Ausstellung nach einem ihm unbekannten Product, das in schönen weißen Säcken dastand, gefragt und die unverfrorene Antwort bekommen hätte: „Das ist Quassia, Eure – ; es dient zur Bierbereitung.“ Dieses Quassiaholz, als Fliegengift allgemein bekannt, wirkt auch selbst auf kräftige menschliche Organismen, wie von Autoritäten nachgewiesen worden ist, höchst nachtheilig.

Während so die schlimmsten Surrogate im Großhandel unverhüllt auftreten, wandern sie natürlich in die Brauereien noch verstohlener, als die Schmierartikel, unter unverdächtigen Declarationen. Und doch, sollte es nicht einer rührigen Sanitätspolizei (die wir allerdings leider nicht haben) gelingen, diesen plumpen Betrug aufzudecken? Ich bin principiell gegen jeden Eingriff in persönliche Rechte, aber wo es sich um die Gesundheit von Millionen Menschen handelt, sollte sich da nicht einmal eine gründliche Razzia auf Güterbahnhöfen und Speichern empfehlen, aus denen Brauereien Sendungen empfangen? Muß sich doch der Reisende an der Grenze wegen ein paar lumpiger Pfennige Steuer die Durchsuchung seines Gepäckes und, wie beispielsweise an der französischen, seiner Privatpapiere und Manuscripte gefallen lassen. Ich bin überzeugt, daß eine solche Nachsuchung vom besten Erfolge begleitet sein würde, und wenn je, so kann es hier heißen: suchet, so werdet ihr finden.

Natürlich wären hierzu gesetzlich autorisirte Beamte erforderlich, und die giebt es leider nicht, wie denn auch das neue humane Strafgesetzbuch nirgends eine hinlängliche Handhabe zur Bekämpfung des Unwesens bietet, das bei der Wurzel erfaßt werden muß. Das Schmieren ist ja durch die neueste Gesetzgebung förmlich sanctionirt, das Fälschen aber, welches ältere, strengere Maßregeln und Verordnungen nicht unterdrücken konnten, ist, wie Dr. jur. A. Löbner in seiner Skizze über die Verfälschung der Nahrungsmittel schlagend nachweist, durch die mildernden Aenderungen und die Herabminderung der Strafbestimmungen wesentlich gefördert worden, und wohl auf keinem Gebiete hat sich deutlicher gezeigt, wie wenig gesetzgeberischen Beruf unsere Zeit hat, als bei der Aufstellung des Brausteuergesetzes, bei den einschläglichen ganz unzulänglichen Bestimmungen des Strafgesetzbuches und der Polizeiverordnungen, sowie bei der Schöpfung und dürftigen Dotirung des Reichsgesundheitsamtes, das mit der vorliegenden Frage im engsten Zusammenhange steht. Gewiß waren wir berechtigt, von dem neuen Institut einen Schutz gegen das furchtbare Fälschungsübel zu erwarten, das wie ein Krebsschaden an der Volkskraft nagt, aber jedes Lebenszeichen, jede Publication des neuen Amtes brachte uns eine Enttäuschung.

Es kann mir nicht einfallen, dem Gesundheitsamte selbst einen Vorwurf zu machen, daß es sich bisher, wie es nach den Mittheilungen desselben scheint, auf die Ermittelung von Sterblichkeits- und Witterungsverhältnissen beschränkt hat; bei einer so mangelhaften Strafgesetzgebung und bei so dürftigen Mitteln kann natürlich höchstens so viel geschehen, daß von Zeit zu Zeit der Nachweis geführt wird, wie viel Menschen durchschnittlich jede Woche in den Großstädten sterben, fast möchte man sagen, der gewissenlosen Geldgier der Fälscher zum Opfer fallen. Ich möchte dem Bundesrath, den Volksvertretern, den Sanitätsbehörden zurufen: lasset die Todten ruhen und sorgt endlich dafür, daß die Lebenden nicht mehr vergiftet werden dürfen! Man kann kaum noch eine Zeitung in die Hand nehmen, ohne den ernstesten Klagen über das Umsichgreifen der Lebensmittelverfälschung zu begegnen, und wer nicht Partei ist, wer sehen will, der muß nun gesehen haben, daß etwas faul im Staate ist, und wenn je, so haben wir jetzt Veranlassung dem nächsten Reichstage ein „Habt Acht!“ zuzurufen.

Abgesehen von einer nothwendigen Verschärfung der strafgesetzlichen Bestimmungen über Lebensmittelverfälschung würden folgende Maßregeln von wesentlichem Nutzen sein:

  1. Strenge polizeiliche Ueberwachung der Güterbahnhöfe, Lagerräume etc. in der oben angedeuteten Weise.
  2. Verbot, Güter unter falschen Declarationen zu versenden, und strenge Handhabung dieses Verbotes.
  3. Möglichst hohe Besteuerung aller Surrogate, namentlich des Glycerins.
Dr. Gustav Dannehl.




Eine Geschichte aus Westfalen.


Mit dem nordwestlichen Zuge des Teutoburger Waldes läuft in paralleler Richtung die Mindensche Bergkette. Die blauen Linien ihres Höhenzuges durchschneiden, vom linken Weserufer ausgehend, weithin Westfalens Land und ziehen sich gen Osnabrück. Sie umkränzen blühende Landschaftsbilder und Stätten von historischer Bedeutung. An ihr reich gesegnetes Gebiet grenzt aber ebenfalls sehr oft ein ödes, düsteres Moor und eine baumlos kahle Haide, wo nur der Ginster wächst und die einfachen Blüthen der Erika den braunen Boden schmücken. Dennoch ist dieses öde, unfruchtbare Haideland nicht gänzlich unbewohnt. „Die Senne“ bei Bielefeld, wo im dreißigjährigen Kriege die Schweden von dem kaiserlichen Heere geschlagen wurden, wo sechszehn Jahrhunderte vordem schon die berühmte Schlacht zwischen den Römern und Deutschen unter Arminius ihren blutigen Schauplatz hatte – dieses alt-historische Terrain ist zur Zeit und seit langen und vielen Jahren bereits die Heimath der Besenbinder und Mattenflechter. Die Ansiedler in den übrigen Haiden Westfalens ahmen mit lobenswerther Energie denen der großen Bielefelder Senne nach und verdienen sich ihr Brod mühselig durch den rauhen, schlichten Wuchs jener unfruchtbaren Districte. – Noth und Armuth hatten die ersten Bewohner der Haiden einstmals sicher einzig und allein veranlaßt, dort sich ihre Hütten mit dem landesüblichen Strohdache zu erbauen. Einmal aber heimathberechtigt auf der kahlen Scholle, pflanzte selbst dieses trostlose Heim auf Erden jenes wunderbare Gefühl fester Anhänglichkeit in ihre Seele, das in dem Boden wurzelt, wo unsere Wiege gestanden und wo unser Herz seine ersten Eindrücke empfing.

Charakteristisch und bezeichnend für die Stärke dieses Gefühls ist der oft beobachtete Umstand, daß unter den hunderten von Auswanderern, die ein Schiff so oft über den heimathlichen Weserstrom gen Bremen trug, trotz der glänzenden Versprechungen der Agenten selten, sehr selten die sogenannten „Haidelüe“ und „Törfer“ (die Anwohner aus Haiden und Mooren, wo der Torf gestochen wird) bemerkt wurden.

Die „goldenen Berge“ der Herren Agenten regten die Haideleute wenig auf. So verächtlich der beredte „Herr Agente“ auf die Stube, auf den über dem Herdfeuer baumelnden Kessel geblickt, so zärtlich schauten sie auf beides, das ihnen lieb und gewohnt war seit Urgroßmutters Zeiten, und freundlich aber fest entgegneten Alle, bis auf einzelne wenige Ausnahmen: „Nö, Härre, nämme Sä es us nich vor übel, aber wä blieve doch lieberst hier; wä häbbe nu eimal nich’s abbekriegt vum Amärikafiever.“ –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 651. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_651.jpg&oldid=- (Version vom 27.9.2019)