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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


türkischem Regimente glaubten: sie hatten, ehe sie die amtliche Stube betraten, die Stiefel ausgezogen. Der Gouverneur, ein kräftig aussehender Mann von fünfzig Jahren mit intelligenten Gesichtszügen, trug die Kleidung, wie sie jetzt dem Civilisten am besten steht, der einen Theil des Kriegerlebens mitmachen muß, hohe Reitstiefel, eine Zwilchhose und ein leichtes Röckchen. Er gab mir mit der größten Bereitwilligkeit alle Aufschlüsse über das eingeführte bulgarische Selfgovernment. Vorläufig, sagte er mir, habe man einfach die türkische Ordnung beibehalten, nur an die Stelle der muselmännischen Beamten christliche gesetzt, für die höheren Stellen meistens solche Bulgaren, die in Rußland erzogen wurden und selbst im Staatsdienste des Czaren ergrauten.

Ich wagte die höchst delicate Frage, wem das türkische Viertel in Sistowa eigentlich den trostlosen Zustand verdanke, in dem es sich befindet. Herr Zarkoff antwortete mit großem Freimuthe, daß von bulgarischem und walachischem Gesindel die Plünderung begonnen und von russischen Soldaten vollendet worden sei.

„Die eigentliche Schuld liegt an den türkischen Behörden,“ bemerkte Herr Zarkoff, „hätten sie uns benachrichtigt, daß sie die Stadt mit der muselmännischen Bevölkerung verlassen, so hätten die ordentlichen Bürger von Sistowa für Aufrechterhaltung der Ordnung und Wahrung des Eigenthums gesorgt.“

Das war recht schön gesprochen, und möglicherweise hätten die guten Absichten der „ordentlichen Bürger von Sistowa“ ausgereicht gegen das bulgarische und walachische Gesindel – aber gegen den kühnen Griff der Kosaken? Ja, der alte Napoleon hatte Recht: „C’est la guerre!“ Der Krieg bringt immer das Schlimmste mit – auch wenn er „für Christenthum und Humanität“ geführt wird.

Nach dem Besuch beim Gouverneur stattete ich einer „französischen Restauration“, die sich seit dem Donauübergang in Sistowa etablirt hatte, meine Visite ab. Der Herr des Hauses wendete seine ganze Aufmerksamkeit einem noch ziemlich jungen Manne zu, mit blondem Bart, der an einem kleinen Brettertische in Gesellschaft von zwei Herren saß, von welchen man den einen sofort als französischen Adeligen von echtem Schrot erkannte. Die drei Gäste hatten die Hitze des Tages mit Sect recht ausgiebig bekämpft, wenn man nach den auf dem Grase kollernden Flaschen mit silbernem Halse urtheilen darf. Und wieder brachte der Wirth eine neue Auflage der Cliquot’schen Werke, die er mit einer tiefen Verbeugung dem jungen Manne mit blondem Barte präsentirte. „Votre Altesse veut-elle que je verse?“ frug der Wirth devot, und als er nach vollbrachter Credenzarbeit an mir vorüber huschte, raunte er mir „C’est Don Carlos“ in’s Ohr. Und richtig! Es war der Prätendent mit seinem Adjutanten, dem Marquis de Montserrat, und noch irgend einem Champagner vertilgenden Spanier ohne Bedeutung. Der ehemalige Brodherr des braven Pfarrers von Santa Cruz bummelt in der That auf den Schlachtfeldern, wie sich’s der gewissenhafteste und eifrigste Kriegsreporter nicht besser wünschen könnte. Er macht seine Touren auf einem prachtvollen arabischen Hengste, den er bei seiner Ausweisung aus Paris mitgenommen hat. Sein Gepäck folgt ihm in einem großen Wagen. Wie es heißt, will Don Carlos nun nach Plewna, wo es blutig hergeht. Und in der That, während wir uns in dem Garten des Franzosen gütlich thun, sehen wir durch die geöffnete Thür den langen, langen Zug der Verwundetenwagen, die sich nach der Richtung des Spitals, welches sich in der türkischen Stadt befindet, bewegen, all die unglücklichen Kosaken von jenem Plewna, wo, wie ein dumpfes Gerücht geht, die russischen Waffen schwere Demüthigung erfahren haben sollen. Aus den Karren ertönt leises Wimmern, mit Mühe unterdrücktes Stöhnen und Geächze. Ein junger Mann mit feinen Gesichtszügen und sympathischem Aussehen gesellt sich zu uns; es ist der Hauptdelegirte der Gesellschaft des rothen Kreuzes, welche in Sistowa ein bedeutendes Depot errichtet hat. Der junge Mann ist außer sich. Man hat ihn gar nicht verständigt, daß eine Schlacht bevorstehe, und jetzt verlangt man plötzlich Hülfe für Tausende von wackeren Leuten, die nun wegen Mangel an Fürsorge seitens ihrer Chefs hülf- und trostlos an ihren Wunden verbluten müssen. Ja, „Christenthum und Humanität“ sind schöne Worte, aber sie verpflichten nicht einmal dazu, gegen die eigenen Leute christlich und human vorzugehen.

Paul d’Abrest.



Blätter und Blüthen.

Der Kampf bei einer Wassermühle und – Plewna. Die S. 551 mitgetheilte Kriegs-Illustration des Herrn Capitain N. Karasine hat den Vorzug, einen wirklich malerischen Anblick zu bieten. Diese Mühle bildete das Hauptdepot der türkischen Position in Sistowa. Einer weiteren Erklärung bedarf es hier nicht, und das ist gut, denn die Ereignisse haben jene Donaukämpfe der Russen bereits so weit in den Hintergrund gerückt, daß dieses Bild uns nur veranlassen kann, der gegenwärtigen Situation der Kriegführenden (erste Augustwoche) unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden.

Plewna! Da steht das Wort, das mit der Macht des Schalls der Posaune von Jericho den Reichskoloß Rußland zum Zittern brachte. Wir haben damit wieder einmal eine Erscheinung erlebt, wie frühere Zeiten sie selten, unser wandlungsreiches Jahrhundert sie schon mehrmals gebracht, die Erscheinung, daß ein Schlag, mitunter auch ein Doppelschlag genügt, um ein lange angestauntes absolutistisches oder reactionäres Herrscherthum trotz erprobtester Machtfülle und Starrheit zu erschüttern oder zu brechen.

Es sind ungeheuerliche Träume gewesen, von welchen der panslavistische Hochmuth bei der bisherigen Führung des Türkenheeres in Europa sich umgaukeln ließ. Der „kranke Mann“ galt schon als besiegt, und der Siegesrausch spornte die politische Phantasie des Moskowiterthums bereits so heftig, daß man hocherhabenen Geistes erkannte, auf wie ungesunden Grundlagen die gesammte Cultur der westlichen Nachbarn beruhe und wie nothwendig es sei, daß der slavische Genius auch über jene verkommenden Staaten, namentlich der Germanen, seine veredelnde Herrschaft ausbreite.

Da blasen die türkischen Posaunen von Plewna, und die so hoch aufgeschwollene Donner- und Triumphwolke, die nach Ost und West hin droht, patscht mit einem Schlage zusammen, verschwindet vollständig und läßt dem verdutzten Europa plötzlich zwei Bilder contrastirendsten Inhalts sehen: hier das Hauptquartier auf der Flucht und dort den schon vielbedauerten kranken Mann plötzlich die imponirendsten Proben einer ganz respectablen Gesundheit zeigend. Nicht die verlorene Schlacht, sondern die bedenkliche Art der nächsten und die großen Hoffnungen der ferneren Folgen derselben können den Tag von Plewna zu weltgeschichtlicher Bedeutung erheben.




Die Schnelligkeit des Gedankens ist zum Sprüchwort geworden. Dieses bezieht sich natürlich lediglich auf die Schnelligkeit, mit welcher man die subjective Vorstellung zu fassen vermag, an einem weit entlegenen Orte zu sein; es wird hier also in der That eine Entfernung gar nicht durchmessen, denn diese Vorstellung entspringt in uns und bleibt in uns. Die Schnelligkeit aber, mit welcher die auf die Werkstätte der Gedanken, das Gehirn, wirkenden Reize und Anregungen durch die Telegraphendrähte dieses Organs, die Nerven, in Wirklichkeit fortgepflanzt werden, ist eine überraschend geringe und erreicht noch nicht die der Dampfkraft, geschweige denn die des Telegraphen. Diese ist von den Physiologen festgestellt worden, und zwar durch ungefähr folgenden Versuch. Durch Schließung eines galvanischen Apparats wird ein Zeichenstift dergestalt vorgeschoben, daß er auf einem durch ein Uhrwerk bewegten vorüberstreichenden Cylinder einen Strich vorzeichnet. Dieser galvanische Apparat wird durch einen zweiten galvanischen Apparat geschlossen, bei welcher Gelegenheit ein Funke überspringt. In dem Augenblicke also, in welchem der Funke überspringt, fängt der Zeichenstift an zu markiren. Hat nun Derjenige, welcher das Experiment ausführt, sich vorgesetzt, sobald er den Funken erblickt, mit seinem in Bereitschaft gehaltenen Fuße auf eine an der Erde befindliche Vorrichtung zu drücken, welche durch einen elektromagnetischen Telegraphen den zeichnenden Apparat wieder öffnet, so hört der Zeichenstift auf zu markiren.

Die Zeit, welche zwischen dem Anfangen und Aufhören des Markirens verflossen ist und die durch die Länge des Strichs auf dem Cylinder dargestellt wird, ist mithin erforderlich gewesen, eine mit unserm Auge gemachte Wahrnehmung nach unserm Gehirn und von dort nach unserer Fußspitze fortzupflanzen. Da man weiß, wie viel Umdrehungen der Cylinder in der Secunde macht, und seinen Umfang kennt, kann man die verflossene Zeit berechnen. Diese beträgt – es weichen natürlich die einzelnen Untersuchungen in ihren Resultaten von einander ab – durchschnittlich etwa 1/5 bis 1/6 Secunde, und zwar für die Fortpflanzung auf eine Strecke, die ungefähr der Länge des menschlichen Körpers entspricht, also nicht ganz zwei Meter. Wir vermögen also unsern Willen, der, wenn auch nicht gerade identisch mit unsern Gedanken, doch immerhin ein Resultat derselben und gleich ihnen der Ausfluß unserer geistigen Kräfte ist, in den Bahnen unseres Körpers mit einer Schnelligkeit von ca. zehn Meter in der Secunde fortzupflanzen.

Der Geschäftsmann aber, beispielsweise in Berlin, würde mit dem „Flug der Gedanken“ sehr unzufrieden sein, wenn er seine Absichten in Bezug auf ein Gewinn versprechendes Börsengeschäft seinem Agenten in Wien nur mit verhältnißmäßig derselben Schnelligkeit mittheilen könnte, mit der er seine Absichten bis zu seiner Fußspitze zu befördern vermag – er zieht sicher den Telegraphen vor.

V. K.

Vermißt. Der Schmiedegeselle Fritz Woigk, vierundzwanzig Jahre alt, untersetzt und kräftig, mit blauen Augen und blonden Haaren, aus Barleben bei Magdeburg, ist seit 4. Mai dieses Jahres verschwunden. Aller Nachforschungen ungeachtet ist bis jetzt nicht in Erfahrung gebracht worden, ob derselbe noch lebt oder verunglückt ist. Die tiefbekümmerten Eltern bitten dringend um jede bezügliche Mittheilung.


Kleiner Briefkasten.

P. V. M. in H. Ihre Anfrage beantworten wir mit den folgenden Versen von Helene von Götzendorff-Grabowski, welche vor vielen andern uns zugegangenen spruchartigen Poesien wohl der Veröffentlichung werth sind:

Pilgerloos.

     Stammbuchblatt für’s Leben.

Unter allen dunkeln Stunde eine,
Wo des Glückes Sonnenlicht Dir scheine!
Unter allen kampfesheißen Tagen
Einen, der des Sabbaths Stern darf tragen!
Und erblüht inmitten harter Steine
Eine duftig junge Rose – eine!
Endlich, nach des langen Wegs Beschwerde
Schlummer – und ein Häuflein kühler Erde!
Mehr ist, Wandersmann, Dir nicht beschieden.
Lebe fromm und gehe hin in Frieden!

Eine blutige That in W. war nicht zu gebrauchen und ist den Weg aller Maculatur gegangen.

K. in S. Nein, Blumenthal’s Monatshefte für Dichtkunst und Kritik sind wieder eingegangen.

G. v. K. Gedicht nicht verwendbar. Von guten Schriften über Ulrich von Hutten können wir Ihnen nur das wissenschaftliche Werk von Strauß (Bonn) und die populäre Biographie von Reichenbach (Leipzig) empfehlen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_562.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)