Seite:Die Gartenlaube (1877) 496.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Sind Sie nicht sechszehnmal wegen Vagabundirens und Landstreichens bestraft worden?“

„Mag sein.“

„Sind Sie nicht das letzte Mal vom Kreisgericht in Kassel zu zwei Jahren Correctionshaus verurtheilt worden und am dritten Tage nach Ihrer Unterbringung in dasselbe entsprungen?“

Der Vagabund biß sich die Lippen blutig, dann sagte er trotzig: „Ich frage Sie, wer da den Verräther gespielt hat?“

Ich antwortete ihm demnächst mit der Verurtheilung zu vier Wochen Haft, nach deren Verbüßung er in die Besserungsanstalt zurückzuliefern sei. Als ich ihm das Urtheil verkündigt hatte, wurde ihm die Frage gestellt, ob er gegen dasselbe Berufung einlegen wolle. Er erwiderte: „Das wäre ungefähr so, als wenn ich mich über den Teufel bei seiner Großmutter beschweren wollte,“ und ließ sich, ergeben in sein Schicksal, abführen. –

Etwa sechs Wochen später sagte mir eines Tages meine Frau, es sei ein fremder Mensch dagewesen, mit einer krummen Nase und stechenden Augen. Er habe sie gefragt, ob sie meine Frau sei, und auf die Bejahung der Frage gebeten, mir mitzutheilen, er hieße Delbrück und wäre in der Besserungsanstalt nur zwei Tage geblieben, es sei ihm da zu langweilig gewesen. Uebrigens ließe er mich freundlichst grüßen.

Gott weiß, welcher Vagabundenrichter sich jetzt mit ihm abquälen mag, um seinen Namen zu erfahren.

C. S.




Parlamentarische Photographien aus Versailles.[1]
Von Julius Walter.
4. Der Vicekaiser.


Herr von Beust hat Oesterreich einmal das „Land der Unbegreiflichkeiten“ genannt; es war dies – zu seiner Rechtfertigung sei es gesagt! – zur Zeit, als er zu Austria’s Leibkutscher avancirte. Wie soll man aber Frankreich bezeichnen, wenn schon Oesterreich als unbegreiflich apostrophirt wird? Ist es nicht mehr als unbegreiflich, wenn in Frankreich so kurze Zeit nach der Schlacht von Sedan, dem Verlust zweier Provinzen und fünf Milliarden, dem Verlust des Kriegsruhmes und der Einbuße seiner dominirenden Stellung bis zur Unbedeutendheit der Bonapartismus nicht etwa heimlich und vorsichtig auftaucht, sondern offen und frech sein Haupt erhebt, sich vordrängt, einschüchtert und droht, den Löwenantheil an der Regierung fordert, nicht nur in seinen Journalen die bestehende Staatsform höhnt und begeifert, sondern sie auch in der Nationalversammlung und diese selbst von einem solch verkommenen Bravo, wie dieser Paul Cassagnac, höhnen und begeifern läßt? Und ist es nicht wunderbar, daß heute, wo die legitime Dynastie und die Orleans abgethan sind, die Republik und das Kaiserthum noch um den Erfolg würfeln, die imperialistische Partei beide monarchische Fractionen an Stärke übertrifft und die Republikaner bei allen Wahlen mit den Bonapartisten ringen müssen? Und da sage man nicht, daß ihnen die Gunst von oben leuchtet! Der Marschall Mac-Mahon ist kein Monk; ebensowenig wie Heinrich der Fünfte hat der kaiserliche Erbe in Chislehurst Etwas von ihm zu erwarten.

Hören wir den Mann, der am besten Auskunft darüber geben kann, der wie keiner mehr dem verstorbenen Kaiser nahe stand, in dessen Hand alle Fäden des engmaschigen Netzes, welches der Imperialismus über das Land zieht, zusammenlaufen: hören wir den Vormund Napoleon’s des Vierten, den Vicekaiser, wie ihn Olivier einst nannte, als er noch auf der harten Bank der Opposition saß! Die Gelegenheit ist günstig. Dort im Salon der russischen Fürstin, welche in ihren alten Tagen das Sprüchwort Lügen straft und anstatt unter die Betschwestern unter die Diplomaten ging, dort am Kamin steht der mittelgroße, breitschulterige Mann mit dem weitläuftigen von zwei weißgrauen Cotelettes eingerahmten Gesichte, den energischen Lippen, der fleischigen, aber doch scharf geschnittenen Nase und der hohen Stirn, in die er sich die grauen Haare des Nackens mit den fleischigen Händen fortwährend hineinkämmt – Rouher. Er führt soeben das Wort. Er hält einem russischen „zugereisten“ Diplomaten, der dieselben Fragen aufwarf, mit denen ich diese Skizze anhob, einen Cursus über die Aussichten des dritten Kaiserreiches:

„Monsieur Thiers,“ hob Rouher an, „sagte: 'die Monarchie ist in Frankreich unmöglich; denn Frankreich hat drei Dynastien und nur einen Thron.' Aber das ist die Monarchie des Herrn Thiers; die constitutionelle Monarchie – und da stimme ich mit Herrn Thiers überein – sie ist unmöglich in Frankreich, weil gegen seine Natur, und das habe ich dem Kaiser wiederholt gesagt, als er daran ging, die liberale Aera zu eröffnen. – Frankreich will eine starke Regierung, ein persönliches Regiment. Das ist die Geschichte des 18. Brumaire, des 2. December und des 24. Mai 1873. Der Marschall ist wahrlich mit keiner geringern Machtvollkommenheit ausgestattet, als der Kaiser am 2. December sie errang; die ‚nothwendigen Freiheiten‘, von denen Herr Thiers immer spricht, sobald er nicht an der Regierung ist, können den Vergleich mit dem Kaiserreiche nicht aufnehmen; sehen Sie das Preßgesetz, das Associationsrecht und dazu die zweite Kammer – man arbeitet in allen Zweigen der Regierung mit dem Apparate des Kaiserreichs. Die Personen haben gewechselt, aber die Einrichtungen sind geblieben, weil diese vom Geiste des französischen Volkes eingegeben sind und man keine besseren zu substituiren weiß.

Der Franzose hat keinen Sinn für Selbstregierung; er will eine solche in der Gemeinde nicht; er braucht den Beamten, der für ihn denkt, arbeitet und die Verantwortlichkeit trägt. Frankreich ist unfähig für die Republik, wie sie die Schweiz und Nordamerika haben. Deutschland hat alle Vorbedingungen für eine Republik ohne sociale Umwälzung, ohne persönliches Regiment; denn der ganze Staat ist nur eine Conföderation kleiner Gemeinderepubliken. Bei uns ist aber die Republik stets nur das persönliche Regiment unter tricolorer Etiquette; das fällt, sobald es sich dem Andrängen des Radicalismus zu schwach zeigt. Das war auch die Ursache des Sturzes Thiers’.“

„Aber für dieses persönliche Regiment halten sich drei Dynastien bereit,“ meinte ein jugendlicher Attaché.

„Wo sind diese drei Dynastien?“ rief Rouher; „sie existiren nur auf dem Papier ihrer Journale, im Munde ihrer Parteigänger; sie sind eingepökelt in der Geschichte und aufgeführt im Almanach von Gotha, aber für Frankreich existirt nur eine Dynastie, die der Napoleoniden.“

„Und Heinrich der Fünfte und die Fusion?“ interpellirte ein hervorragendes Mitglied der österreichisch-ungarischen Colonie.

„Der Graf von Chambord hat seine Unmöglichkeit richtiger erkannt als seine Partei. Jeder Dynast hat die Traditionen seiner Dynastie zu wahren; das ist für den Grafen Chambord und für die Orleans ein Unglück, für den Prince impérial die Zukunft.

Die Legitimsten träumten von einer constitutionellen Monarchie mit Heinrich als König. Herr von Bismarck erzählte uns einmal, als er noch in Paris war, daß im Jahre 1848 in einem kleinen deutschen Fürstenthume die Republik mit dem Fürsten an der Spitze ausgerufen wurde. Das ist die constitutionelle Monarchie mit Heinrich dem Fünften. Der Graf von Chambord wollte nur mit der weißen Fahne Frankreich betreten; er vertritt das Princip der 'Legitimität von Gottes Gnaden' in Europa. Er kann die Revolution nicht anerkennen; er muß an 1788 anknüpfen, aber die Geschichte hat taube Ohren, und die weiße Fahne ist eben so gefürchtet wie die rothe.“

„Und die Orleans?“

„Die Fusion war die Abdankung des Grafen von Paris. Die Orleans glaubten, dadurch den einzigen Concurrenten um den Thron Frankreichs aus dem Wege zu räumen. Der Graf von Paris glaubte, Chambord werde ihn adoptiren und zu seinen Gunsten abdanken. Aber das Gegentheil geschah, weil es geschehen mußte. Die Fusion war die Abdankung der Orleans und Frohsdorf ihr Canossa. Der Graf von Chambord sah in der Wallfahrt nur die Sühne des Enkels des Egalité und des Sohnes des Straßenkönigs. Und so auch Frankreich. Der

  1. Dieser Artikel wurde uns bereits im Februar übersandt, also lange vor den letzten Ereignissen.
    D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_496.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)