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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


der Bahn in Jassy war in diesem Augenblicke eine sehr kritische. Es wurde schleunigst nach Bukarest und Wien, an die Regierung und die Generaldirection telegraphirt. Die Antwort der ersteren ließ lange auf sich warten. Die Russen wurden ungeduldig und drängten. Natürlich! Jede Minute war ihnen kostbar. Sie verlangten Weiterbeförderung zum rumänischen Militärtarif, eine Concession, welche die Betriebsleitung ohne Ermächtigung von Bukarest nicht gewähren wollte.

Dort scheint man einen Moment rathlos gewesen zu sein. Man hatte den Einmarsch der Russen erst am 28. April erwartet, um inzwischen die vom Ministerium mit Rußland abgeschlossene Durchzugsconvention von der Kammer formell votiren zu lassen. Endlich kam telegraphische Ordre nach Jassy, den Russen Concessionen zu gewähren. Hier wollte das russische Commando den früh um sieben Uhr regelmäßig nach Bukarest abgehenden Personentrain für sich in Beschlag nehmen. Die Eisenbahnleitung protestirte. Endlich fuhren dreihundertfünfzig Russen mit, aber gegen volle Bezahlung, als gewöhnliche Passagiere. Die Ordnung wurde bald wieder hergestellt, und die Militärtransporte nahmen ungehindert ihren Verlauf.

In Jassy fing es inzwischen an, immer bunter auszusehen. Dem günstigen Wetter der ersten zwei Tage folgten stark regnerische. Die Bäche und Flüsse der Moldau wurden nach alter Gewohnheit ihres Bettes überdrüssig und traten über. Das Pruththal und das Bachluithal, an dem Jassy liegt, glichen großen Seen, und wo sich dem anströmenden Wasser Chaussee- und Eisenbahndämme in den Weg stellten, wurden sie arg mitgenommen. Bald waren letztere auf der russischen sowie auf der rumänischen Linie auf drei bis vier Stellen durchbrochen oder so arg beschädigt, daß Lastzüge nicht passiren konnten. Diese plötzliche Verkehrsstörung bewirkte manche Unordnung, aber auch in Folge dessen manches komische Intermezzo, von denen ich Ihnen hier eines erzähle.


Braila, vom türkischen Ufer aus gesehen.
Nach einer Photographie.


Ein russischer General, ein kleiner runder Herr mit höchst jovialem Gesicht, saß bei einer Flasche Bordeaux im Bahnhofe zu Jassy, während seine Division einwaggonirt wurde. Sei es die amüsante Gesellschaft, in der er sich befand, seien es andere Ursachen, kurz, als sich nach einiger Zeit der alte Herr seiner Soldaten erinnerte und einmal nachsehen wollte, was sie machten, fand er zu seinem Erstaunen den ersten Zug, mit dem er ebenfalls fahren sollte, schon abgegangen. Darüber Zetermordio, welches der russische Militär-Stationschef nur mit der Versicherung beschwichtigen konnte, daß der nächste Zug seiner Division in einer Stunde abgehen und sich Alles in Pasdschani, der Zweigstation, zusammenfinden würde. Inzwischen langte eine Depesche an mit der Nachricht: der abgegangene Zug sei nur mit Mühe und Noth über die vom Wasser bedrohte Stelle der Bahn gelangt, ein weiterer Verkehr sei aber unmöglich. Neuer Verzweiflungsausbruch des alten Herrn, aber da doch weiter nichts zu machen war, tröstete er sich mit dem Gedanken, daß eine schleunige Reparatur des Dammes bald Alles wieder in’s Geleise bringen würde. Doch hatte ihn die Erfahrung klug gemacht und sein Mißtrauen erweckt. Er quartierte sich sofort mit Pferden und Bagage in seinen zur Abfahrt stehenden Zug ein, um sie ja nicht wieder zu versäumen. In seinem Waggon dritter Classe, andere waren nicht vorhanden, schlief, aß und rauchte er, und wenn er einen Bekannten auf dem Perron erblickte, winkte er ihn herbei und lud ihn in schlechtem Deutsch oder ebenso schlechtem Französisch ein, mit ihm eine Flasche Bordeaux in der Restauration zu trinken. Aber auch da setzte er sich so, daß er seinen Zug stets im Auge behalten konnte; die Furcht, daß er ihm wieder durchginge, war ihm aus den Augen zu lesen. Es verging aber ein Tag; es vergingen deren zwei – der Regen goß unaufhaltsam herab. Das Gesicht des alten Herrn wurde immer trübseliger, und die Bekümmerniß um seine ‚Jungens‘, und was sie wohl bei diesem Hundewetter ohne ihn machten, und ob auch für sie genügend gesorgt wäre, fand immer lauteren Ausdruck.

Der Stadtcommandant, Oberst P., lud ihn ein, sein Zimmer auf dem Bahnhofe zu benutzen, wo er sich ihm ein Feldbett aufzuschlagen erbot, aber dazu war General R. um nichts in der Welt zu bewegen.

Endlich am vierten Tage kam die Nachricht von der Wiederherstellung der Bahnstrecke. Zur Feier dieses glücklichen Ereignisses wurde ein halbes Dutzend Bordeauxflaschen geleert, und ich erinnere mich nicht, ein freudiger erregtes Gesicht gesehen zu haben, als jenes unseres alten Freundes, des Generals R., als er uns beim Abgange des Zuges aus seinem Coupéfenster den Abschied zuwinkte. Die Sorge um das Schicksal ‚seiner Jungens‘ sollte ja nun bald gehoben werden.

Die Bevölkerung sah dem Einmarsch der Russen anfangs mit Besorgniß entgegen. Man sprach von Kosaken, Tscherkessen, Tataren, Turkmanen und anderen fragwürdigen Völkerschaften, denen der Ruf voranging, in Bezug auf Eigenthumsrecht stark communistischen Anschauungen zu huldigen. Nun, wir haben sie gesehen und von Kosaken namentlich sehr viele gesehen, und sie haben sich bereits den Ruf von gutmüthigen Burschen errungen, die genügsam alles dankbar annehmen, was man ihnen bietet, und ein Glas Schnaps dem Galgen vorziehen, mit dem man ihnen gedroht hat, für den Fall, daß sie die rumänischen Hühnerställe und Viehheerden nicht gehörig respectirten. Die donischen Kosaken haben bekanntlich für verschiedene Begünstigungen, die ihnen schon seit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_353.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)