Seite:Die Gartenlaube (1877) 349.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

größte Sorge für diese Thiere, trägt sie davon, wenn das Nest aufgedeckt wird, oder führt sie, wenn sie zu groß sind, um getragen zu werden, in die noch unverletzten Galerien. Auch die „gelbe Ameise“ lebt ausschließlich vom Safte der Blatt- oder vielmehr Wurzelläufe, welche sie in ihren in der Umgebung von Baumwurzeln angelegten Nestern unterhält. Deckt man ihr Nest auf, so tragen sie ihre geliebten Milchkühe mit derselben Sorgfalt davon, wie ihre eigenen Larven. Dr. Forel hat oft in der Schweiz Gelegenheit gehabt, das zu sehen. Manche Arten bauen ihnen sogar auf Bäumen und Pflanzen besondere Ställe, das heißt Dächer und Galerien aus Erde, um sie möglichst gegen äußere Unbilden zu schützen. Andere wieder verstehen es sogar, im Inneren ihrer Wohnung aus den im Herbste gesammelten Eiern die Pflanzenläuse selber zu erziehen und zu erhalten. „Sie sorgen,“ sagt Schmarda in seinem 1846 erschienenen „Seelenleben der Thiere“, „für diese Eier so sorgsam wie für die eigenen.“

Auch die auf Pflanzen und Bäumen lebenden sogenannten Gall-Insecten können bei den Ameisen ganz dieselben Dienste verrichten und im Verein mit den Pflanzenläusen liefern sie in unseren Gegenden der Ameise den größten Theil ihrer Nahrung, obgleich hierin und im Einzelnen, in Bezug auf die Arten, große Verschiedenheiten herrschen und die körnersammelnden Ameisen die Pflanzenläufe gänzlich verschmähen. Sieht man aber Ameisen in großer Menge an Baumstämmen auf- und absteigen, so geschieht das fast immer nur wegen der aus dem Baume befindlichen Blattläuse. Namentlich gehen sie deswegen auf Obstbäume, rühren aber die unverletzten Früchte selber niemals an. Leiden Bäume und Pflanzen, welche viel von Ameisen besucht werden, dennoch Noth, so sind diese nur die indirecte Ursache des Schadens, da die der Pflanze schädlichen Blattläuse sich unter ihrer Zucht und Pflege stärker als ohne dieselbe vermehren und außerdem noch der Pflanze desto mehr Stoff entziehen müssen, je mehr sie den Ameisen in Folge ihrer Liebkosungen und Reizungen abgeben. Wo übrigens die Natur nicht freiwillig für das Vorhandensein ihres geliebten Melkviehs gesorgt hat, da haben sorgfältige Beobachter die Ameisen sogar neue Blattlaus-Colonien eigens gründen sehen, zu denen sie die Colonisten von entfernten Sträuchern her trugen und damit das Laub in der Nähe ihres Aufenthalts besetzten.

Für den weiten Kreis der vollständigen Laien muß es immer von Neuem betont werden, daß wir es in allen diesen Mittheilungen nicht mit Erfindungen von Fabeldichtern oder Spaßvögeln zu thun haben, sondern mit Dingen, die von dem nüchternen Scharfblicke ernster Männer gesehen, und die meistens nicht eher veröffentlicht wurden, als bis sie nach jahrelanger unablässiger Beobachtung und Vergleichung als erkannte Wahrheiten sich herauswagen durften. Muß aber Alles uns eigenthümlich berühren, was bisher in einer ganzen Reihe glaubwürdiger und durchaus wissenschaftlicher Darlegungen von dem Benehmen und den Charaktereigenthümlichkeiten, den kriegerischen und friedlichen Thätigkeiten der Ameisenwelt erzählt worden ist, so wird dies Alles doch von einer anderen Einrichtung in den Schatten gestellt, welche die Forschung in dem bewundernswürdigen Gemeinwesen dieser kleinen Geschöpfe entdeckt hat. Es ist nämlich erwiesen – und Darwin hat in seiner „Entstehung der Arten“ eine mächtige Ausführung über diesen Punkt – daß die Ameisen sich Sclaven halten.

Möge man aber deshalb den Ameisen nicht einen zu niedrigen Grad sittlicher Cultur beimessen, ihre Sclaverei ist ohnehin eine sehr milde. Denn die Ameisenräuber stehlen keine Erwachsenen, sondern meistens nur Larven und Puppen anderer Arten, aus denen sie dann im Innern ihrer eigenen Wohnung wirkliche Sclaven erst erziehen, sodaß diese niemals die Süßigkeit der Freiheit gekannt haben. Daher denn auch alle diese Sclaven – so weit es die in der Schweiz beobachteten Arten betrifft – in der Regel mit ihren Herren alle für Erhaltung der Colonie nöthigen Arbeiten gern und ungezwungen verrichten, ja sogar mit denselben gegen ihre eigenen Stammesangehörigen kämpfen. Sie werden mehr als Freunde, denn als Sclaven betrachtet, wie sie auch nicht daran denken, sich ihrer Lage durch die Flucht zu entziehen.

Was die Sclavenhalter unter den Ameisen betrifft, so hat man deren in Europa bis jetzt drei Arten kennen gelernt. Die interessanteste unter ihnen ist die berühmte oder berüchtigte Amazone, deren merkwürdiges Thun und Treiben zuerst von dem Genfer Huber genauer beobachtet und beschrieben worden ist. Es ist eine große, starke, sehr lebendige, glänzendröthliche Ameise, die aber, wie auch manche menschliche Herrscher, gar nicht arbeitet, sondern sich Alles von ihren Dienern, Sclaven und Arbeitern besorgen läßt. Ja, sie frißt nicht einmal allein, sondern läßt sich von ihren Sclaven füttern wie der Dalai-Lhama in Tibet. Freilich hat sie dafür eine sehr triftige Entschuldigung in ihren langen, schmalen und starken Kiefern, die nicht, wie bei den anderen Arten, in einen gezähnten Rand, sondern in eine scharfe Spitze auslaufen, sodaß sie als wahre Zangen zu betrachten sind. Diese Zangen sind ganz ausgezeichnet als fürchterliche Waffen oder Bekämpfungsmittel zu gebrauchen, machen aber dem Thiere das Arbeiten und Alleinfressen ganz unmöglich. Die Amazone ist also eigentlich die Sclavin ihrer Sclaven, ohne deren Hülfe sie verhungern und die ganze Amazonencolonie zu Grunde gehen müßte. Huber brachte etwa dreißig Amazonen mit ihren Larven und Puppen und etwas Erde in eine Schachtel und versah sie mit hinlänglicher Nahrung. Nach Verlauf von nur zwei Tagen war ein Theil der Amazonen verhungert oder vielmehr verdurstet, während man nach Dr. Forel’s Erfahrung Ameisen vier Wochen lang ohne Nahrung erhalten kann, wenn Luft oder Erde hinlänglich feucht sind. Die Amazonen waren weder im Stande, zu fressen, noch ihre Brut zu besorgen, noch die Erde zu bearbeiten. Nun brachte Huber eine einzige Ameise von der Sclavenart hinzu, und diese stellte in kurzer Zeit die Ordnung wieder her. Sie fütterte Jung und Alt mit dem vorgelegten Honig, fing an Zellen für die Puppen und Larven zu bauen, reinigte dieselben etc. Um nun diese von Huber zuerst gemachte Beobachtung zu controliren, legte Lespès eines Tages ein Stück angefeuchteten Zuckers vor ein Nest der Amazonen, und bald darauf wurde der Zucker von einer Ameise der Sclavenart entdeckt. Sie nahm so viel zu sich wie möglich und kehrte in die Wohnung zurück. Bald erschienen weitere Liebhaber, und es wurde dem leckeren Mahle fleißig zugesprochen. Endlich sah Lespès auch die Amazonen herbeikommen. Sie liefen anfangs in verwirrter Weise umher, ohne den Zucker anzurühren, bis sie schließlich anfingen, ihre pflichtvergessenen Sclaven an der Beinen zu ziehen und sie aufmerksam zu machen, daß sie auch bedient sein wollten. Dies geschah, und alle Theile schienen nunmehr befriedigt.

Auch Dr. Forel hat niemals eine Amazone allein fressen sehen. Hat sie Hunger, so bearbeitet sie mit ihren Fühlern den Kopfschild eines Sclaven, bis dieser einen Tropfen Nahrung aus seinem Vor-Magen hergiebt und seinem Herrn von Mund zu Mund darreicht. Die Amazone läßt eben alle Nothwendigkeiten ihres Lebens und Haushaltes durch die Sclaven besorgen; ihr einziges Geschäft ist der Krieg. Ueber das Soldatenwesen, die Schlachten, Feld- und Raubzüge der Ameisen überhaupt ist in den Darstellungen Büchner’s Ausführliches zu finden. Was uns betrifft, so haben wir hier aus dem Leben dieses Thieres nur einzelne Züge mitgetheilt, um auf die Freuden hinzuweisen, welche jedem denkenden Menschen aus der genaueren Beschäftigung mit den unerschöpflichen Wundern der Insectenwelt sich ergeben müssen.


Besuch der Blindenanstalt zu Steglitz.
Von Gustav Schubert.

Es gab eine Zeit – und sie gehört verhältnißmäßig noch nicht sehr lange der Vergangenheit an –, wo diejenigen Individuen der menschlichen Gesellschaft, welchen die Natur einen der fünf Hauptsinne vorenthalten hatte, Blinde und Taubstumme, auf Grund irriger Anschauungen Seitens der Vollsinnigen von der Cultur ausgeschlossen, ja in vielen Fällen von ihren gefühllosen Mitmenschen gehaßt und als „Gezeichnete“, an denen sich irgend ein Strafgericht Gottes vollzog,[1] gemieden und verstoßen wurden. Die Humanitätsbestrebungen der neueren Zeit ist es vorbehalten

  1. Vergl. Joh. 9, 1–2. Vom Blindgeborenen.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_349.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)