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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Wir haben unsere bestimmten Wege, Herr, und ich weiß, wo sie Halt machen auf der Fahrt und die Dascha ausspannen.“

„Aber es ist unverantwortlich von den Deinigen, Dich allein zurück zu lassen.“

„Sie wollten nicht mit der Juschka bleiben; da hat sie heimlich den Wagen verlassen,“ sagte die Zigeunerin trotzig. „Sie sind wie die Schafe; sie wollten fortlaufen, weil der Hund sie gebissen hatte. Meine Mutter liegt unter der Pappel, und ihr Blut trocknet auf der Erde, und der Mann, der sie in das Zelt geworfen hat, geht herum und lacht, weil der Muth von unsern Männern gegangen ist. Wer todtgeschlagen hat, soll sterben, sagen die alten Leute in unserm Volke.“

„Du bist toll, Mädchen.“ Urban lachte hell auf, und doch berührte ihn die trotzige Energie des jungen Geschöpfes sympathisch. Juschka wandte sich plötzlich verletzt um und machte Miene, sich zurückzuziehen.

„Bleibe, Kind! Ich spotte Deiner nicht. Gieb mir die Hand!“

Sie zögerte, aber endlich fühlte er die zarte, warme Hand in der seinen; er blickte lächelnd in die großen, furchtsamen Augen und sagte: „Kleine Juschka, ob Ihr unter einander Blut mit Blut vergeltet nach dem Spruche Eurer alten Leute, das weiß ich nicht. Aber wer in unserm Lande lebt, Mädchen, der muß sich nach unsern alten Leuten richten, und wenn Du gethan haben würdest, was Du wolltest, dann würde man Dich einfangen, meine arme kleine Juschka, und so lange zwischen Mauern sperren, bis Deine glänzenden Augen trübe, Dein schwarzer Krauskopf grau und die Blüthe Deiner Haut welk geworden wäre. Du wirst mir versprechen, die Gegend hier zu verlassen und Deinem Wagen nachzugehen. Die Nacht ist hell und warm, und es ist besser für Dich, im Dunkeln zu wandern, als im Tageslicht.“

„Laßt die Juschka bleiben, Herr!“ sagte sie flehend. „Sie wird sich nicht wieder fangen lassen.“

„Du wirst gehorchen, Mädchen.“

„Und doch nicht, Herr!“

Urban schleuderte ihre Hand weg.

„So werden morgen Leute zu Fuß und zu Pferd durch die Gegend streifen, so lange bis sie Dich gefunden haben, und dann wird man Dich mit Gewalt zu Deinen Männern bringen.“

Der zornige Ton, in dem er das sprach, übte eine merkwürdige Wirkung. Sie stürzte ihm zu Füßen und brach in Schluchzen aus, so heftig, daß es ihm warm zum Herzen strömte. Er bückte sich und faßte sie um den schlanken, jugendlichen Leib, um sie aufzurichten; sie hing willenlos und kraftlos in den Armen des blühenden Mannes, und er sah in die strömenden, halb geschlossenen, dunklen Augen und auf den kleinen, zuckenden, halb offenen Mund –

Plötzlich ward sie lebendig; blitzschnell spannte sich jede Muskel ihres Körpers, und sie glitt ihm unter den Händen weg. Er hielt noch das Leere umarmt, als ihr weißer Oberkörper schon in einiger Entfernung durch das Schattendunkel leuchtete.

„Die Juschka geht, Herr,“ hörte er sie sagen.

Die Büsche rauschten auf und verschlangen sie.




18.


Der Herbst ging hin, und der Winter ging hin, ein kalter, schneereicher Winter. Die Weltgeschichte hatte die Siebenmeilenstiefeln angezogen:

In Italien Aufstände. In der Schweiz der Sonderbund gesprengt, die Jesuiten vertrieben, die Verfassung regenerirt. In Frankreich die Reformbankets verboten, und trotzig und drohend die Einladung zum Februarbanket durch die Gassen und Straßen von Paris fliegend. In Baiern Sturz des Ultramontanismus; Straßenkampf in München. Ueberall düstere Stirnen, zuckende Nerven, eine gährende Zeit!

Wer die Augen schließt und aufhorcht, der vernimmt Geräusche, welche wie das Murmeln und Schwatzen, das Kichern und Flattern der Sturmgeister klingen, das dem Seemanne den nahenden Orkan verkündigt, während um das Schiff herum die Windstille lagert. Die Zeit der Vorboten, der spielenden Windwirbel, von denen die Segel aufflatterten, ist vorüber; was jetzt kommt, das ist der wuchtige Sturm mit seinen Schrecken.

Das letzte Februardrittel des Jahres Achtzehnhundertachtundvierzig hat begonnen, und es ist Windstille auch innerhalb der engen Grenzen, zwischen denen unsere Geschichte spielt – die nämliche Windstille, in welche das bedrohliche Geräusch des heranziehenden Sturmes herüberklingt.

Ein halbes Jahr verstrichen, und welche Veränderung!

Die Seuche ist längst erloschen. Sie verschwand, wie sie gekommen – plötzlich. Der Commerzienrath Seyboldt schlich noch auf matten Füßen durch sein Zimmer. Einige Zeit nachher glänzten die stattlichen Räume des Fabrikantenhauses vom Festgepränge einer Hochzeit; der Bräutigam war, einigermaßen zur Verwunderung befreundeter Kreise, Doctor Urban. Die Häupter der Union waren zugegen, und der Geheimrath Rehling gratulirte dem Doctor mit feinem Lächeln zu seiner Bekehrung. Was diesen veranlaßt hatte, einer solchen offenen Manifestation seiner veränderten Parteistellung zuzustimmen? Nun: man hatte ihm im Wiedenhofe sehr unverhohlen gezeigt, daß er dort ein Fremder geworden, und sein Trotz antwortete mit dem nackten Abfall. Aber das war nicht der alleinige Grund. Urban war seit der Krankheit des Commerzienrathes von einer Aufmerksamkeit und Nachgiebigkeit gegen denselben, die um so gewinnender war, je fremder sie an dem rücksichtslos selbstsüchtigen und stolzen jungen Manne erschien. Aber die Union sah sich in ihrer Hoffnung getäuscht, mit dem Arzte zugleich die Geheimnisse der demokratischen Partei gewonnen zu haben. Derselbe Mann, welcher durch Donner die Partei um Luft und Sonnenschein gebracht hatte, erklärte: er wolle sich der Union dadurch empfehlen, daß er sich weigere, ein Verräther zu sein.

Uebrigens schwärmte der Doctor sofort nach der Hochzeit mit seiner jungen Gemahlin in den Süden Europa's. Die weichen Lüfte Italiens, Griechenlands, des Mittelmeeres sollten wieder Rosen auf die noch blassen Wangen der Genesenen zaubern. Erst die Furcht, für unbestimmte Zeit durch die drohenden Februarunruhen von der Heimath abgeschnitten zu werden, führte den sonnengebräunten jungen Ehemann und die zierliche, blühende, glückliche Gazelle, welche sein eigen geworden, in die für sie hergerichtete obere Etage des Vaterhauses. Da saßen sie am lodernden Kamin, in dessen Schlot der Thauwind heulte, und Toni Urban war der nämliche Sonnenstrahl, der Toni Seyboldt einst gewesen war. – –

In den Fabrikräumen waltete kein Bandmüller mehr. Urban hatte leicht siegen, als er den Sturz des Fabrikleiters bewirken wollte; ein Bruchtheil des Materials, das ihm zur Verwerthung gegen denselben zur Verfügung stand, genügte, um den Kündigungsbrief zu erlangen. Bandmüller blieb in der Stadt; er hatte viel Verkehr, namentlich mit den Leuten aus der Seyboldt'schen Fabrik, und wenn er an den Karyatiden vorüberging, grub er die Hände in die Taschen und lächelte boshaft und vergnügt. – –

Auch in den Räumen des Zehren'schen Hauses, welche jetzt mit allem Comfort ausgestattet waren und wunderbar wohnlich anheimelten, waltete ein junges, schönes Weib als Gattin des Besitzers. Ernst und bestimmt, wie sie das Ja vor dem Altare der kleinen Dorfkirche gesprochen, glitt sie durch die Zimmer, wirthschaftlich sorgend und ordnend, freundlich, aber selten ein Lächeln auf den Lippen, das wie ein flüchtiger Sonnenblick mahnte, der über eine wolkenbeschattete Landschaft streift. Zehren küßte ihr die Hand; er küßte sie auf die Stirn, aber er hatte ihr nur einmal den Mund berührt, – vor dem Altar. Je wärmer und verlorener sein Auge auf der wundervollen Gestalt, auf dem feinen, stolzen Kopfe ruhte, den der schlanke Hals so vornehm trug, desto fröstelnder strömte ihm aus ihrem Wesen eine Kühle entgegen, welche so unnatürlich wie genau berechnet erschien. Wie viel Franz Zehren auch beneidet und beglückwünscht wurde, – glücklich war er nicht geworden. Aber die Welt wußte nichts davon, wenn er saß und den Kopf in die Hand stützte und mit trüben, großen Augen die Bewegungen seiner jungen Frau verfolgte, welche aussahen wie die Bewegungen einer Königin, und die Welt hörte es nicht, wenn die hohe Gestalt zu dem Seufzenden hinglitt und ihm, mit den weißen Fingern über die bewölkte Stirn streifend, die Worte sprach: „Nicht traurig sein, mein Freund, und nicht bereuen!“ Dann lächelte er bitter und fuhr fort, sie zu lieben und mit jenen tausend zarten Aufmerksamkeiten zu überhäufen, welche so wohlthun, weil sie niemals die Absicht verrathen.

An die Taubheit ihres Gatten gewöhnte sich Emilie merkwürdig schnell. Zuweilen vergaß sie ganz, daß ein solches Hinderniß ihres Verkehrs bestand. Zehren sprach selber gern und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_343.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)