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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


„Er schläft, Johannes, und ich hoffe, er wird am Leben bleiben.“

Da drückte der alte Mann die dargebotene Hand wie mit eisernen Klammern und fuhr sich mit dem Aermel über die Augen.

„Gott sei gepriesen! – Wollen Sie wirklich gehen, Herr Doctor?“

„Ich muß ein Stündchen in’s Freie hinaus; später komme ich wieder. Wenn er Durst bekommt, geben Sie ihm zu trinken!“

Als der Arzt an den Zimmern Toni’s vorbei ging, stand die Thür ein wenig offen und die Frau des Kutschers, wie er an der Stimme erkannte, steckte den Kopf heraus und flüsterte: „Das gnädige Fräulein ist in Todesängsten, Herr Doctor, und möchte gern wissen, wie es dem Herrn Commerzienrath geht; von uns hat sich Keiner hinüber getraut.“

Urban faßte nach der Thürklinke, aber da verschwand der Kopf mit einem Male und die Thürspalte verengte sich bis zu einer schmalen Ritze. „Bitte, Sie möchten nicht hereinkommen,“ hörte er sprechen.

„Nun dann – Bestellen Sie einen Gruß an meine Braut, und daß ich ihr sagen ließe, es sei Alles gut! Alles – hören Sie wohl? Das müssen Sie betonen.“

Er stieg die Treppe hinunter; die Hauseingänge waren unverschlossen; in der Verwirrung hatte sich Niemand um sie gekümmert. Er wählte den nächsten Weg in’s Freie, der auf die Chaussee nach der Erlenfuhrt führte.

Als er in die Nähe der Schmiede kam, in welcher noch gearbeitet wurde, erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Eine menschliche Gestalt schlenderte langsamen Schrittes vor ihm her, und als sie den Feuerschein passirte, der aus dem thorartigen Eingang der Schmiede strömte, glaubte Urban in dem Spaziergänger Bandmüller zu erkennen.

Eine rasche Combination wollte ihm diesen Einfall bestätigen: er gedachte der Zigeunerin und der Mittheilungen, welche der Fabrikleiter ihm in der Morgenfrühe gemacht. Zugleich aber kamen ihm die Eröffnungen des Commerzienrathes in die Erinnerung. „Doppelzüngiger Schurke,“ murmelte er, und es wallte zornig in ihm auf, „jetzt dürfte ich die Macht in Händen haben, dich zur Rechenschaft zu ziehen.“

Sein Auge folgte scharf den Bewegungen des Mannes vor ihm, und seine Schritte beschleunigten sich unwillkürlich, indem er zugleich so leise wie möglich auftrat. Er sah, daß der Mann um die Schmiede bog und am Rande des Buschwerks verschwand.

Urban ging quer über das flache Stück Terrain vor ihm und fand unschwer den Eingang des Weges, in welchen jener eingetreten war. Er stand einen Augenblick und horchte, aber er vernahm nur in ziemlicher Entfernung etwas wie ein leises Rascheln und schritt alsbald entschlossen, aber mit Vorsicht das Anstreifen vermeidend, den schmalen Pfad hin. Ein paar erschreckte Vögel, welche von ihm aufgescheucht sein mußten, schwirrten ihm entgegen, und der Flügel des einen streifte fast sein Gesicht. Der Weg dehnte sich weiter und weiter und lenkte immer mehr nach rechts ab. Plötzlich tauchte die Gestalt des Verfolgten wieder vor ihm auf, aber nur auf einen Augenblick. Und nun tönte ein Aufkreischen durch die nächtliche Stille, grell wie der Schrei eines Raubvogels, um auf's Neue dem geheimnißvollen Schweigen Platz zu machen.

Der Arzt beflügelte seine Schritte, hielt aber dann plötzlich inne und drückte sich zwischen das Gesträuch. Unter einem Baume hervor schleppte der Mann den kraftlosen Körper eines Weibes, den er um die Brust gefaßt hielt, und ließ ihn an der Berglehne niedergleiten. Der Hut war dem Manne vom Kopfe gefallen und Urban hörte seinen Athem keuchen.

Es drängte ihn vorwärts, aber er bezwang sich.

In der Hand des Menschen flammte ein Zündholz auf. Kein Zweifel – es war Bandmüller, der ihm da den Rücken kehrte; auf dem Rasen aber lag die braune Juschka, völlig wehrlos, ein Tuch im Munde, die Handgelenke zusammengeschnürt. Die kleinen braunen Hände zerrten an dem Tuche, und das Gesicht arbeitete krampfhaft, während die großen, schwarzen Augen Blicke voll Angst und tödtlichen Hasses auf den Gewaltthätigen schleuderten.

„Wie nun, mein Engelchen?“ sagte höhnisch die Stimme des Fabrikleiters. „Noch immer so rachsüchtig? Glaubst Du denn, daß wir hier in einer Wildniß leben, wo jeder thut, was er will und kann? Hast Du niemals gehört, daß es verboten ist, nach anderen Leuten mit Dolchen zu stechen, und daß man Leichtsinnige, welche der Lust dazu nicht widerstehen können, zwischen vier nackte Wände sperrt, um ihnen das klar zu machen? Und nun gar ein Mädchen! Und wie liederlich Du aussiehst – die Brust halb offen –“

Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter; er wandte sich jäh um und blickte in das finstere Gesicht des Arztes. Das Feuerzeug, welches er hielt, entfiel ihm; der Brand an dem einen Zündholz erlosch auf dem feuchten Rasen, und die ganze Gruppe tauchte in das Dunkel der Nacht.

„Sie hier?“ stammelte der Ueberraschte, „muß Sie der Teufel mir überall in den Weg führen?“

„Ich denke, Sie sparen sich den übrigen Theil Ihrer Anstandslection,“ sagte Urban mit erzwungener Kälte. Er bückte sich und nahm der Zigeunerin das Tuch aus dem Munde.

„Was wollen Sie hier? Warum mischen Sie sich in meine Angelegenheiten?“ fragte Bandmüller zornig, der seine ganze Frechheit wieder gefunden hatte.

Urban richtete sich rasch auf und trat dicht vor ihn hin. Er sah das Weiße im Auge seines Gegenüber blitzen.

„Was ich will?“ grollte es aus ihm hervor. „Sie vor einem neuen Lumpenstreiche schützen –“

„Oho! Sie wissen, daß Sie nicht zu allen Zeiten ein Feind solcher Streiche gewesen sind.“

Dem Doctor schoß das Blut in's Gesicht. Gerade das Treffende dieser boshaften Bemerkung raubte ihm die Selbstbeherrschung, und er packte mit eisernem Griffe die Arme des Fabrikleiters und schüttelte ihn wie einen leeren Rock.

„Mensch,“ sagte er dumpf. „Du bist der Letzte, der ein Recht hat, mich für die häßlichste Sünde meines Lebens zur Verantwortung zu ziehen. Du wirst Dich hüten, sie zu verrathen, wie Du unsere Revolutionspläne verrathen hast.“

„Ah! Wissen Sie schon?“ entgegnete der Gepackte mit schmerzhaftem Lachen, wie im Gefühl seiner Ohnmacht einlenkend. „Hat mich der Alte doch verrathen? Nothwehr, nichts als Nothwehr! Ich kann mir freilich denken, daß Sie nicht sehr erbaut über den Verlust einer solchen Braut sind. Aber schließlich will Jeder zu etwas Rechtem kommen. Lassen Sie mich doch los! Ihre Hände sind ja wahre Schraubstöcke.“

„Sie haben Recht,“ sagte Urban ironisch und trat einen Schritt zurück. „Wir wollen einmal versuchen, wer von uns Beiden den Anderen aus seinem Wege zu räumen vermag. Im gegenwärtigen Falle werden Sie kein Bedenken tragen, das Terrain mir zu überlassen.“

„Angenehmes Schäferstündchen, werther Herr Doctor!“ war die grinsende Antwort. Bandmüller drehte sich um. „Ja so – ich will meinen Hut nicht im Stiche lassen,“ sagte er plötzlich und verlor sich, an Urban vorbeistreifend, im Dunkeln.

Urban kehrte sich der Stelle zu, wo die Zigeunerin gelegen – sie war leer. Er schränkte die Arme in einander, bis er den Fabrikleiter durch die Büsche brechen hörte, – ferner und ferner.

„Juschka!“

Keine Antwort.

„Thörichtes Mädchen, ich will Dein Bestes. Ich habe Dich gerettet und fordere Vertrauen.“

Es knisterte, wie wenn Waldmäuse durch dürres Haidekraut schlüpfen, aber es kam nichts. Er stampfte ungeduldig mit dem Fuße auf und war im Begriffe zu gehen. Da knackte ein Zweig hinter ihm; er wandte noch einmal das Gesicht, und da stand die Zigeunerin, kaum fünf Schritt von ihm entfernt, den Kopf geneigt und die aus den Fesseln gelösten Hände schlaff zur Seite hängend.

„Die Juschka muß Euch danken, Herr, daß Ihr sie aus seiner Gewalt befreit habt,“ sagte sie mit unsicherer Stimme. „Was wollt Ihr, Herr?“

„Ich habe Dich zu finden gewünscht, Mädchen, seit ich erfuhr, daß Du Dich noch in der Gegend aufhältst. Ich bin noch tief in Eurer Schuld und will einen Theil meiner Rechnung abtragen. Wo sind Deine Leute?“

„Die sind weiter gezogen über die Berge,“ gestand sie zögernd.

Er trat überrascht einen Schritt näher.

„Also Du bist wirklich allein hier? Und wie willst Du sie wiederfinden bei Eurem Vagabundenleben?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_342.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)