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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Priesterschaft bei demselben tief erschüttert. Der Staatsanwalt der Vereinigten Staaten wird, wie es heißt, bald einen energischen Versuch machen, auch die anderen Haupttheilnehmer am Morde der Emigranten dem Arme der Gerechtigkeit zu überliefern. Bis jetzt ist es immer noch nicht erwiesen, wer den ersten Befehl zur Metzelei bei Mountain Meadows erlassen hat. George A. Smith ist, wie schon erwähnt wurde, gestorben, und Dame, Haight, Higby und Lee befanden sich nur in abhängiger Stellung unter ihm. Vermuthlich war Lee nicht der erste Urheber des schändlichen Bubenstücks, doch es stempelt ihn der Verrath, den er dabei an den Emigranten ausübte, zu einem Ungeheuer in Menschengestalt. Brigham Young aber, in dessen Hand es zweifelsohne lag, die Schandthat zu verhindern, hat das „Mene tekel“ gewiß schon deutlich an der Wand erkannt. Es ist Abend bei ihm geworden, und sein Stern ist im Untergehen. Seinen nicht zu verkennenden Verdiensten um die Cultur, für welche er aus einer Wüste im Innern des Continentes einen blühenden Garten geschaffen hat, verdankt der jetzt sechsundsiebenzigjährige Prophet es wohl allein, wenn die Centralbehörde der großen Republik ihn seine Tage in Frieden beschließen läßt und nicht weiter den Schleier zu lüften versucht, der seine etwaige Mitwissenschaft um die Metzelei von Mountain Meadows verhüllen mag.




Aus gährender Zeit.
Erzählung von Victor Blüthgen.
(Fortsetzung.)
16.

Die Cholera in der Stadt!

Lakonisch und so versteckt wie möglich hatte das locale Blatt von jenem ersten Falle der gräulichen Seuche Meldung gethan, welcher in dem verfallenen Häuschen in der Nähe des Wassers ein Menschenleben ausgelöscht hatte, und der hinzugefügte kurze Wunsch, daß dieser Fall vereinzelt bleiben möge, war nicht in Erfüllung gegangen.

In den ersten zwei Tagen starben fünf Menschen, in den folgenden beiden ihrer acht. In dem nämlichen Verhältnisse ungefähr schwoll das Verderben weiter.

Auf den Todtenhöfen traf man Vorbereitungen. Wagen mit Kalk gefüllt langten an und entledigten sich ihrer Last an der Mauer. In einer Ecke klaffte eine Grube; Arbeiter in ihren blauen Blousen standen darin und warfen mehr und mehr Erde heraus, und sie waren merkwürdig still bei ihrem Thun und tranken häufiger als sonst wohl aus ihren Flaschen. Die Zeit, wo diese Grube eine Nothwendigkeit wurde, sollte rasch genug kommen. Die ersten vierzehn Tage strichen über hundert Menschen aus dem Buche der Lebendigen.

Ein dumpfes Gefühl der Unsicherheit, eine heimliche Angst brütete in den Stuben der festgesperrten Häuser und auf den verödeten Straßen. Aus den reichen Stadttheilen rollten dann und wann Wagen, mit Kisten und Koffern bepackt, in’s Freie hinaus, ohne wieder zurückzukehren. Die Insassen, vermummt und verstört, hielten bis weit vor die Stadt die Hitze hinter verschlossenen Fenstern aus, fürchtend, daß der giftige Hauch sie im letzten Augenblicke der Flucht noch anwehen könnte, und schlossen die Augen, wenn der Zufall wollte, daß sie einem Sarge begegneten oder daß von einer Thürklinke her ein schwarzer Flor ihnen entgegenwehte. Die Todtenhäuser mit den schwarzen wehenden Floren waren noch durch etwas Anderes gekennzeichnet: sie hatten die Laden und Jalousien zugeschlagen.

Wer die Wege des Windbuckels beschreiten mußte, auf dem der Friedhof lag, schlich scheuen Blickes bei den langgezogenen Mauern vorüber. Die Glocken auf den Thürmen, welche sonst jeden feierlichen Einzug in das stille Reich der letzten Ruhe mit ihrem dumpf gewaltigen Klange begleitet, schwiegen jetzt, wenn dunkle Trauerzüge jene schmalen Holzgehäuse einführten, welche zerfallene Menschenruinen bargen.

Am Ende jener vierzehn Tage gab es kaum ein Trauergeleite mehr, nur daß hier und da ein Familienglied sich der Todtenfrau und dem Polizeidiener zugesellte, welche hinter dem rumpelnden Wagen hergingen, um draußen das Begräbniß zu constatiren. Und endlich flüchteten sich diese Acte unter den Schleier der Nacht; an der Wagenleiter schimmerte gelbröthlich die schwankende Laterne; schattenhaft bewegten sich das Pferd und ein paar Menschen neben dem Fuhrwerke. Den Wagen stellte die Stadt, und das Volk nannte ihn die „Petruskarre“.

Und zu allem dem schien den Tag über am wolkenlosen Himmel eine lachende Sommersonne. Kaum ein Hauch bewegte die Luft; die Blumen dufteten, und die Vögel sangen in das Menschenelend.

Eines Nachmittags hielt ein Wagen vor dem Hause, in welchem Urban wohnte. Der Doctor, welcher seine volle Kraft wiedergewonnen hatte, war eben von einem Berufsgange nach Hause gekommen und saß auf dem Sopha, um sich einen Augenblick Ruhe zu gönnen, als eine Hand an sein Fenster klopfte und das Gesicht des Kutschers Johannes sich spähend an die Scheibe drückte.

Der Gestörte sprang, ein paar ärgerliche Worte zwischen den Zähnen murmelnd, auf und öffnete das Fenster.

„Was giebt es denn, Johannes?“

„Der Herr Doctor möchten sich nur gleich in den Wagen setzen und mitkommen, denn unser gnädiges Fräulein ist krank geworden.“

„Fräulein Toni krank? Um des Himmels willen doch nicht an der Cholera?“ –

„Wie Gott will; ich habe sie nicht gesehen und weiß es nicht, ob es die Cholera ist.“

Urban war blaß geworden; es war das erste Mal seit dem Ausbruch der Epidemie, daß ihn bei der Nachricht von einer Erkrankung ein Schauer überrieselte.

Das reizende, blühende, muntere Mädchen in der Gewalt des Scheusals: – „Es wäre entsetzlich,“ sagte der eiligst Hinausstürzende. Er warf sich in die Kissen und rief: „Vorwärts in Dreiteufelsnamen! Je eher wir kommen, desto besser!“

Die Apfelschimmel flogen; die Räder rasselten, und doch dünkten die Minuten, welche der Wagen brauchte, ehe er vor dem Hofthore des Commerzienraths still hielt, dem Darinsitzenden eine halbe Ewigkeit. Auf dem Balcone über den Karyatiden stand der Commerzienrath in Ungeduld und winkte hinunter.

„Halten Sie hier, Johannes!“ sagte Urban im Hinausspringen. „Vielleicht müssen Sie sofort zur Apotheke fahren.“

Auf der Treppe kam dem hastig Hinausstolpernden der Fabrikant entgegen.

„Das haben Sie davon,“ warf ihm Urban fast zornig entgegen, „daß Sie dieses Nest nicht bei Zeiten verlassen haben. Aber da kann man sich von seinen Schnurren und Spulen nicht trennen und von den dicken Hauptbüchern und meint, ohne Unsereinen ginge das Geschäft zu Grunde. Hätten Sie doch Alles drunter und drüber gehen lassen und gethan, wie ich Ihnen gesagt habe! Es hätte auch nichts geschadet.“

„Sie haben Recht, Doctor,“ erwiderte der Commerzienrath, dessen fahles Gesicht von Angst verstört war und dessen sonst peinlich sorgfältige Toilette Verschiedenes zu wünschen übrig ließ. „Es ist auch schon Alles gepackt, und noch heute Abend wollten wir abfahren; da fängt mir das Mädchen nach Tische zu klagen an. Vergebens, daß ich sie zu bewegen suche, das Bett zu Hülfe zu nehmen – Sie wissen, Herr Doctor, daß Sie mir dies für den Fall eines Unwohlseins sofort zu thun verordnet haben – sie hält sich bis vor ungefähr einer Viertelstunde aufrecht, inzwischen ist ihr aber übler und übler zu Muthe geworden, und nun liegt sie da. Mein Gott, nur nicht diese fürchterliche Krankheit – jede andere, nur diese nicht!“

„Treffen denn die Symptome zu? Doch wozu alles Reden! Führen Sie mich zu ihr! Ich will selbst sehen.“

Sie stiegen noch eine Treppe höher, und der Commerzienrath klinkte rasch an einer Thür –

Sie öffnete sich nicht.

„Lisette!“

„Herr Commerzienrath?“ antwortete es drinnen.

„Hat Sie die Thür zugeriegelt?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_306.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)