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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Waldow empfing mich auf der Eisenbahn in G. Sein Händedruck war herzlich und freundschaftlich warm wie ehedem. Der Mann hielt sich aufrecht, als habe er die Last der Sorgen abgeschüttelt; er sah stattlich und vornehm aus, aber die verheerende Spur der durchkämpften Jahre zeigte sich in dem frühergrauten Kopf- und Barthaar, welches das edle, geistig belebte Antlitz älter erscheinen ließ, als es den Jahren nach sein durfte.

Tiefer Ernst und eine gewisse Beklommenheit fielen mir an ihm auf, als er mich an die elegante Equipage geleitete, dem Diener meinen Gepäckschein übergab und zu mir in das bequeme Coupé stieg. Jene ruhige Beherrschung und vornehme Sicherheit, die uns gewöhnlich nur mit dem Reichthum kommt, war ihm jetzt in Fleisch und Blut übergegangen, den ich in der Erinnerung noch immer als den verschüchterten, ängstlichen Menschen vor Augen hatte, den jedes Schellen an der Hausglocke schreckhaft emporfahren ließ. Seine Vermögensverhältnisse mußten sich sehr verändert haben. Ich durfte mir schon die kleine Vertraulichkeit erlauben, lächelnd ihm darüber eine halb scherzhafte Bemerkung zu machen.

„Ich sehe, mein lieber Professor,“ meinte er freundlich, während der Diener meinen Koffer auf den Bock schob und sich zu dem alten, würdig aussehenden Kutscher behende hinaufschwang, „Ihr Ruf ist zwar in unsere Verbannung gedrungen, aber zu der vielbeschäftigten, vielberühmten Koryphäe ist nicht Kunde von dem großen Ereigniß gelangt, das ein paar Jahre hindurch schon unsere Provincialklatschbasen alarmirte. Der exotische Goldonkel, von dem die Mehrzahl der Menschen träumt und der die Bedrängten so selten erlöst, ist wie ein deus ex machina in mein sorgenschweres Leben getreten. Ein überseeischer war’s freilich nicht,“ bemerkte er lächelnd, „sondern ein fürchterlich gewöhnlicher kleiner Emporkömmling aus dem Quartier Latin in Paris, wohin sein Glücksstern ihn vor einigen fünfzig Jahren als Kleiderhändler, Geldleiher, was weiß ich noch, verschlagen.

Vor ein paar Jahren kommt der kleine Mann von traditioneller Familienliebe nach Deutschland, um seine Verwandten einmal wieder aufzusuchen. Kein Mensch hatte sich um das Dasein des verschollenen Onkels meiner Frau bekümmert. Der Tod hatte ihm seine beiden Kinder geraubt, und er mußte für sein mühsam zusammengescharrtes kolossales Vermögen Erben suchen. Natürlich dachte er zuerst an seine nächsten Angehörigen. Da aber begegnete er fast nur noch Gräbern. Nun kam die zweite Generation an die Reihe. Dem schäbig gekleideten, alten, kleinen Manne mögen die eleganten Cousinen und Cousins meiner Frau wohl kein allzu freundliches Gesicht zum Willkommen gezeigt haben. In dem schüchternen, zusammengeschrumpften Greise, der ihnen mit einem Herzen voll sehnender, überströmender Liebe entgegenflog, haben sie am Ende gar einen Bittsteller erwartet und ihn durch vornehme Schroffheit sich fern halten wollen. Empört, erbittert, bis in die Seele erkältet, wollte er nun den letzten Versuch bei dem Kinde seiner jüngsten Schwester, meiner Frau, wagen, um sich, im Fall des Mißerfolges, beleidigt zurückzuziehen und sein Vermögen der Kirche zu vermachen.

Zum Glück war meine Frau gerade verreist. Sie hatte meine beiden ältesten Töchter mitgenommen. Sie wissen, mir gilt der Mensch, nicht sein Kleid. Der arme, vereinsamte, verletzte Greis mit seinem liebelechzenden Herzen, der von den Verwandten so verächtlich bei Seite geworfen worden war, dauerte mich, und ich nahm mich seiner herzlich an.

Er war schon ein paar Tage bei mir und meiner kleinen Blanche eingebürgert, als meine Frau und meine Töchter von ihrem Ausfluge zurückkehrten; ihre hochmüthige Kälte konnte daher sein Heimgefühl in meinem Hause nicht mehr beeinflussen.

Er schied von Blanche und mir in herzlicher Zuneigung, Thränen in den alten treuen Augen.

Und nun geben Sie Acht, Freund! Nun folgt der Lohn der unbewußten guten That, wie die märchenhafte Vergeltung in den moralischen Geschichten für artige Kinder.“

„Der alte Herr setzte Sie und Blanche zu Erben ein, nicht wahr?“ unterbrach ich den eifrigen Erzähler.

„Sie erinnern sich meiner kleinen Blanche noch, Professor?“

„Wie sollte ich nicht! Ich müßte sonst ein sehr ungetreuer Knappe sein. Wissen Sie nicht, Oberst, daß wir damals im Schulzimmer, als ich Ihren Söhnen E … Ed …“

„Egon und Alwin; sie stehen jetzt bei der Garde in P.,“ vervollständigte er mein tastendes Herumrathen.

„– den Cornelius Nepos einpauken half, ein Trutz- und Schutzbündniß für alle Zeiten abgeschlossen? Das kleine Dämchen stürzte mit ihrem Canarienvogel, dem der Bursche die Pfoten im Bauer halb abgequetscht hatte, außer sich zu uns herein, den kleinen Patienten in der Schürze. Die hartherzigen Jungen lachten über ihre strömenden Thränen, und ich nahm mich ihrer und des kleinen Invaliden an und heilte das kranke Bein mit Essigumschlägen und Heftpflastern. Ihre Dankbarkeit kannte keine Grenzen. Ich hatte mehreren leidenschaftlichen Liebeserklärungen zu widerstehen. Das kleine Fräulein wird ihre erste Liebe aber wohl längst vergessen haben.“

Der Oberst seufzte schwer auf, in einer Weise, die mein leichter Scherz in keiner Weise rechtfertigen konnte, und ich richtete daher die directe Frage nach dem Ergehen seiner Familie an ihn, und ob Blanche nicht der kleine leicht- und gutherzige Singvogel sei, dem ich den Beinamen Weihnachtslamm gegeben, weil es mit seinem weißblonden Krauskopf, dem vollen weißrosigen Körperchen, den großen unschuldsvollen Kinderaugen der coquetten Zierlichkeit der Bewegungen, mir immer den Eindruck eines flockigen schneeweißen Lammes gemacht, dem die Mama, um denselben zu vervollständigen, das lichtblaue Bändchen um den milchweißen Hals nie fehlen ließ.

„Ja, das ist Blanche und Ihr Vergleich ist in jeder Weise zutreffend. – Sie ist immer ein Lamm, sogar ein Opferlamm gewesen,“ sagte er mit schmerzlicher Ironie. „Meine anderen Töchter sind nach Wahl verheirathet, – reiche Mädchen haben ja immer passende Bewerber. Für meine arme Kleine kamen die anderthalb Millionen zu spät. Aber bei Gott, Doctor, trauen Sie mir nicht zu, dessen mich die Welt anschuldigt! Ich habe mein Kind nicht in diese Heirath hineingeredet, eine Verbindung, wie sie unpassender nicht gedacht werden kann. Erst später erfuhr ich, daß sie sich mir geopfert und daß ihre Mutter es gewesen, die sie zu dieser Handlung kindlicher Liebe veranlaßt.“

Er brütete ein paar Augenblicke düster vor sich hin. „Ich weiß nichts,“ bemerkte ich etwas verlegen, da er von Verhältnissen sprach, die sich meiner Beurtheilung entzogen.

„Ja so, lieber Freund, Sie können nicht wissen – meine jüngste Tochter ist an den damaligen General Fink von Falkenstein, jetzigen Festungscommandanten verheirathet.“

Unwillkürlich fuhr ich überrascht auf. „Blanche kann höchstens zwanzig Jahre alt sein,“ sagte ich, um meine Verwunderung durch etwas zu entschuldigen.

„Und der General war beinahe sechszig. O sans gêne, Herr Professor – ich habe mir tausend Mal selbst gesagt, was irgend Jemand tadelnd dagegen anführen kann. Damals begrüßte ich die Bewerbung des übrigens höchst achtungswerthen Herrn als eine Erlösung aus zwiefachen Conflicten. Ich möchte in Ihren Augen dasselbe Maß von Achtung wie ehedem genießen, und ich weiß, Sie glauben mir, wenn ich Ihnen versichere: nie hätte ich um den Preis der Selbsterhaltung mein liebes Kind dem ungeliebten Greise hingegeben. Mein leichtsinniges Töchterchen aber hatte sich in ein zärtliches Verhältniß mit einem ganz fernen Verwandten, einem Secondelieutenant von Zukits, eingelassen. Daß die Leutchen warten mußten, bis er es zum Hauptmann gebracht, daß er mittellos war, hätte ihn in meinen Augen – wie Sie mich ja kennen, Professor, (obschon ich meinen Kindern eine sorgenlosere Existenz gönnte, als ich sie selber gehabt) – nicht herabgesetzt, aber daß er gewissenlos, verschwenderisch, ohne Grundsätze war, hatte ich mehrfach erfahren, und das stempelte ihn bei mir zu einem unmöglichen Bewerber für meine holde kleine Blanche. Einen Spieler, einen Schuldenmacher, einen Wüstling mochte ich nicht im Zusammenhang mit meinem reinen Kinde wissen, und ich verbot aus diesen Gründen allein jeden Verkehr.

Der Mensch war bildschön und von geistiger Veranlagung, einer jener notorischen Don Juans, denen kein Frauenherz, am allerwenigsten das eines unerfahrenen jungen Mädchens, lange widersteht.

Brauche ich Ihnen meine Freude zu schildern, als eines schönen Tages meine kleine Blanche, bleich, aufgelöst in Thränen, sich mir an die Brust wirft und zitternd hervorstammelt: daß sie dem General von Falkenstein eben ihr Jawort gegeben?!

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