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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Sitzenden alle zugleich eine höfliche, tiefe Verbeugung; gleich darauf erwidern die an Steuerbord Löffelnden ebenso devot und gemessen das unbeabsichtigte Compliment; fortwährendes Neigen und Beugen und größte Stille, denn Reden hält unnöthig auf.

Grot Jochen auf der Nachtwache.

Aber die „Clara“ ist ein schabernak’sches Ding; „zaust Dich der Sturm so, so willst Du Deine Hähnchen auch etwas rupfen,“ denkt sie und nimmt eine anrollende gewaltige Woge zum willkommenen Vorwande, um sich mit unvorhergesehenem Rucke tief auf die Seite zu werfen. Lautes Geschrei und Gelächter im Roofe; so tiefes Ueberholen war nicht vorgesehen; polternd stürzen die Backskisten durcheinander. Der schießt mit dem Kopfe voraus und dem Gegenüber in die Magengrube. Jener rutscht mit dem Gesäße von der Kiste auf das Deck, streckt die Beine in die Höhe und schießt beim Zurückrollen des Schiffes hintenüber Kobold. „Holl fast, hock fast!“ lacht Alles durcheinander; hier hat Einer sich selbst Gesicht und Bart in dicken Erbsen gebadet, dort Einer seinen Nachbarn mit Breiumschlag versehen; die verschüttete Mahlzeit bedeckt den Boden. Hin ist hin, und eine zweite Ration giebt’s nicht. Da hilft nichts, als den Leibgurt zwei Löcher fester zu schnallen und ein Stück Hartbrod als Ersatz zu knabbern. Die „Clara“ schüttelt sich in hellem Uebermuthe über den gelungenen Streich, daß ihr die Schaumlocken um den schlanken Bug fliegen; sie ist eben ein neckisches Ding, und Frauenzimmern ist nie über den Weg zu trauen. – Endlich, am sechsten Tage klärte sich das Wetter auf; die Sonne zeigte sich als blasse Scheibe hinter den Wolken; der Wind wurde nördlich, und wir konnten Curs auf den Canal zu legen.

Mannschaft beim Abendbrod (Thee).

Aber wo befanden wir uns? Das Unwetter hatte uns fast sechs Tage lang in der Nordsee hin- und hergetrieben; der bedeckte Himmel hatte eine astronomische Beobachtung zur sicheren Bestimmung des Schiffsortes unmöglich gemacht, und nach unserer Schätzung mußten wir ziemlich nahe der englischen Küste sein; da galt es aufzupassen.

Der Capitain kam sofort mit seinem Sextanten an Deck, als ihm gemeldet wurde, die Sonne scheine herauskommen zu wollen, und richtig, da war sie. Allerdings ließ sie nur eine Minute lang ihre ersehnten Strahlen auf die regenschweren Segel, auf das nasse Deck fallen, aber die kurze Zeit hatte ihm genügt, um mit geübter Hand mehrmals ihre Höhe über dem Horizont zu messen, und für die Messung den Stand des Chronometers zu notiren. Aus so gemessener Sonnenhöhe wird durch astronomische Berechnung die genaue Zeit des Ortes, an dem sich das Schiff befindet, bestimmt; der am Bord befindliche Chronometer zeigt dagegen stets die in demselben Augenblick für Greenwich geltende Zeit. Durch Vergleichung dieser Zeiten, der für den Ort des Schiffes mit der in demselben Augenblick für die Stadt Greenwich geltenden, erhält man den Unterschied beider, und dieser Zeitunterschied, aus dem Zeitmaß in Bogenmaß übertragen (24 Stunden sind gleich 360°), ergiebt die geographische Länge des Schiffsortes, da die Länge in der Nautik von Greenwich aus gerechnet wird. Die Bestimmung der geographischen Breite des Schiffsortes ergiebt sich bedeutend einfacher durch Messen der Höhe der Sonne im Mittag und Berücksichtigung ihrer gleichzeitigen Declination. Beide Größen, geographische Länge und Breite, in die Seekarte exact eingetragen, ergeben nun genau und sicher den Standpunkt des Schiffes, und von diesem Punkt aus wird nach dem Compaß der zu nehmende Curs bestimmt und von dem am Ruder stehenden Mann genau gesteuert. So ungefähr erklärte mir der Capitain damals sein geheimnißvolles und später täglich wiederholtes Thun, als er nach geschehener Berechnung an Deck kam und dem Matrosen am Ruder den Curs zurief; ich verstand seine Erklärung damals nicht, und kam mir auch später das in der Rechnung mystisch waltende natürliche sinus und cosinus verzweifelt unnatürlich vor.

Die „Clara“ schien jetzt nachholen zu wollen, was wir versäumt; wie ein Renner warf sie sich mit scharfem Kiel in die schäumenden Wellen, die machtlos hinter uns her rollten. Bald waren wir im Canal; vorbei zogen die steilen Kreidefelsen von South Foreland, vorbei die immergrüne Insel Wight, vorbei der wogenumschäumte Leuchtthurm von Eddystone. Schon am dreizehnten Tage unserer Cursreise hatten wir die spanische See im Rücken.

„Dat is dat irste Mal, dat ick hier drög’ dörchkamen doh,“ meinte Grot Jochen, „de span’sche See is sünst grad as baben dat Skagerrack.“

„Dat Skagerrack un Kattegat
de maken den Schäper de Hosen nat,“

summte er vor sich hin, und übernahm den Ausguck auf dem Vordeck, denn wir sollten während der beginnenden Abendwache die spanische Küste, Cap Finisterre, in Sicht bekommen. Das Wetter war herrlich; die lauen Aprilnächte, die unvergleichliche Pracht des Sternenhimmels zeigten die südlichere Breite. Ich schob mir ein Bündel Tauwerk als Kopfkissen zurecht und legte mich hin, meinen Gedanken nachhängend. Aus dem Roof drangen fröhliche Stimmen und Gesang; die Mannschaft saß beim Abendbrod und genoß in dem vom Schein der Lampe gemüthlich erhellten Raum ihren Thee; schwermüthig zogen von dort die Klänge heimathlicher Lieder über das Wasser; allmählich verstummte der Gesang und bald wurde es still. Der Wind war eingeschlafen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 153. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_153.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)