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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Rütteln an der väterlichen Religion verwenden sah. Harte Kämpfe müssen zu jener Zeit sein Inneres bestürmt haben. Hier ein traulich-inniger Verwandtenkreis, dort ein wissenschaftlicher Freundescirkel, hier frische Jugendeindrücke, dort blasse, abstrakte Anschauungen; es kämpfte Gemüth gegen Verstand, Herz gegen Kopf, und vielleicht auch die Liebe gegen Brauch und Herkommen. Aber auch aus ihm sprach’s entschieden: „Ich kann nicht anders.“ Ein Apostel kalter, speculativer Vernunft sollte er werden, und je tiefer und kühner sich seine Gedanken entfalteten, um so schärfer und schroffer sonderten sich seine neugewonnenen von den hergebrachten Anschauungen.

Solch einen Weg aber konnte er nicht betreten, ohne schwere Prüfungen, harte Angriffe seiner Angehörigen und Glaubensgenossen wider sich heraufzubeschwören. Wohin er auch kam, zu seinen Lehrern, zu den Verwandten und Freunden seines elterlichen Hauses, überall dröhnte ihm jetzt bereits das verhängnißvolle Wort „Abtrünniger!“ „Ketzer!“ „Verräther!“ entgegen. In seinem Herzen fühlte er alle jene Fäden reißen, die ihn bisher mit einer Umgebung verbunden hatten, welche ihn nicht verstand und nicht verstehen mochte. Seinem durch und durch offenen und consequenten Charakter blieb eben jede Verstellung fremd. In Spinoza’s Leben und Schriften blieben Klarheit und Wahrheit die leitenden Gesetze. Als wahr stellte er nur das hin; was dem Denken als völlig, als mathematisch bewiesen und ohne Widerspruch sich ergab. Dies aber erklärte er als unumstößlich und über allem Irrthum erhaben, ohne sich irgendwie an Rücksichten, an alte Gewohnheiten und ererbte Gefühle zu stoßen. Was er that, das that er offen und frei, und was er nicht anerkannte, das bekannte er auch niemals mit den Lippen.

Darin war er ganz anderen Schlages als sein ketzerischer Vorgänger Uriel Acosta; dieser wollte persönlich ungebunden, frei von allen Satzungen sich bewegen und doch als vollberechtigtes Mitglied mitten in der Gemeinschaft der Religionsgenossen verbleiben. Unsre Gegenwart denkt darüber ganz ebenso und fragt: warum sollte man dies nicht dürfen? Damals aber war eine solche Toleranz noch nicht an der Tagesordnung; damals mußte jeder Einzelne in Reih und Glied einer Kirchengemeinschaft stehen und alle üblichen Pflichten derselben erfüllen. Selbst das freie Holland duldete eine solche von aller Confession losgebundene Freiheit nicht. Ein öffentliches Aergerniß in dieser Hinsicht zog unfehlbar den Kirchenbann mit den schädlichsten Folgen auch für das bürgerliche Leben nach sich. Auch die neu constituirte jüdische Gemeinde Amsterdams gelüstete es nach diesem Nimbus eines straffen Kirchenregiments. Oder wollten vielleicht diese so gastfreundlich aufgenommenen Flüchtlinge der christlichen Welt nur zeigen, daß auch sie in ihrer Mitte nicht gleichgültig duldeten, was von aller Welt als „Gottlosigkeit“ bezeichnet wurde? Uriel Acosta war verzweifelt, als er in Folge des über ihn verhängten Anathems von Allen gemieden ward, und er wurde noch mehr gereizt und verbittert nachher, als er mit dem Unglauben im Herzen, um seine bürgerlichen Verhältnisse zu bessern, zum Scheine widerrufen und Buße geheuchelt hatte. Unter Groll, Verbissenheit, Zerrissenheit und stetem Aufruhr seines Innern härmte er sich ab und nahm sich schließlich das Leben.

Und gewiß, es gehört ein starker, heldenhafter und ruhiger Geist dazu, alle früheren Beziehungen eines herzlichen Familienlebens freiwillig zu durchschneiden und in einsamer Denkerarbeit der Welt den Rücken zu kehren. Ein so gearteter Geist war Spinoza. So wie er einmal mit den religiösen Anschauungen seiner Zeit gebrochen hatte, konnte er auch nichts mehr gegen seine Ueberzeugung bekennen oder äußerlich thun. Zum Scheine und aus Nützlichkeitsgründen schwanken und widerrufen, wie Acosta, oder gar mit der alten Religionspartei liebäugeln und doch in Wort und Schrift die Fundamente derselben erschüttern, wie sein Meister Cartesius, das widerstrebte Spinoza’s geradem Wesen. So verzweifelte er denn auch nicht kleinmüthig, als das erwartete Ungewitter sich endlich über seinem Haupte zusammenzog. Furchtlos trat er hin vor das religiöse Tribunal, welches ihn zu Vertheidigung oder Widerruf vor sich forderte; unerschrocken legte er seine Ansichten dar. Zu diesem Zwecke verfaßte er eine besondere Vertheidigungsschrift, welche wahrscheinlich in sein später so berühmt gewordenes und vielgeschmähtes Werk, den „Theologisch-politischen Tractat“, verflochten ist, worin in der Hauptsache dargethan wird, daß die Freiheit zu philosophiren, unbeschadet des Glaubens und auch des Friedens im Staate, nicht blos gestattet werden könne, sondern daß ihre Entziehung sogar das Gemeinwohl schädige. Dies zu beweisen, unterwarf er die Bibel, speciell die Prophetie, die Wunder, die Gesetze und Lehren einer gründlichen Untersuchung. Als gewissenhafter Mensch wollte er in seinem durch theologischen Hader ohnehin schon genugsam aufgeregten Vaterlande auch vor der Außenwelt – denn Spinoza hatte sich bereits einen ausgebreiteten Ruf erworben – sein Denken und Thun rechtfertigen und besonders seine oft gethane Aeußerung verfechten: „In einem freien Staate müsse einem Jeden erlaubt sein, zu denken, was er wolle, und zu sagen, was er denke.“

Nachdem aber endlich über den „unverbesserlichen Abtrünnigen“ der Bann in aller Form ausgesprochen war, sollte er noch alle Bitterkeiten eines Geächteten und Ausgestoßenen durchkosten, bis es ihm vergönnt war, von aller Welt zurückgezogen, nur der stillen Weltbetrachtung zu leben. Weder eine Verkennung seines unbestechlichen Charakters, als ihm eine bedeutende Pension angeboten wurde, falls er seine spitze, gegen die Glaubenssatzungen gerichtete Feder mäßigte, noch der glücklicher Weise fehlgegangene Dolchstoß eines tollen Fanatikers, noch eine Anklage beim Magistrate gegen den „Gotteslästerer“, die zu seiner Verweisung aus der Stadt führte – keinerlei Drang und Verfolgung konnte ihn wankelmüthig machen. Dergleichen Ausbrüche menschlicher Leidenschaften, Haß, Zorn, wie alle widrigen Affekte ertrug er ohne Gereiztheit, ohne Abscheu und Bedauern; in seiner erhabenen Anschauungsweise betrachtete er dieselben nicht einmal als Fehler der menschlichen Natur, sondern als Eigenschaften, welche zu ihr so gehören, wie Hitze, Kälte, Sturm und Donner zur Natur der Luft, Bewegungen, die unangenehm, aber doch nothwendig sind und bestimmte Ursachen haben. Erhabene Anschauung – würdig eines Weisen, ähnlich dem bekannten Ausrufe des Sokrates: „Nach Ungewitter Regenschauer!“

Ob er auch ebenso ruhig die verschmähte Liebe hingenommen? Oder ob seine Liebe zu Van Ende’s gelehrter Tochter überhaupt, wie schon angedeutet, geschichtlich nicht stichhaltig ist? Es wird wenigstens erzählt: ein angesehener Jüngling, Namens Kerkering, aus einem Lübeck’schen Patriziergeschlechte, habe durch einen Perlenschmuck von bedeutendem Werthe das Herz dieser von Spinoza lediglich ihres lebhaften Geistes wegen heißgeliebten Clara Maria mit Erfolg für sich eingenommen. Auch sie hatte wohl längere Zeit eine tiefe Neigung für den hochbegabten Philosophen empfunden, der auch äußerlich wohlgestaltet war und mit seiner bräunlichen portugiesischen Gesichtsfarbe, mit seinen feinen Zügen, dem gekräuselten glänzend schwarzen Haar und dem lebhaften Blitzen seiner kleinen schwarzen Augen einen sehr angenehmen Eindruck machte. Aber bei der ernsten Wahl eines Lebensgefährten gab das Mädchen Kerkering den Vorzug; denn dieser war sehr reich und Spinoza nur sehr geistreich, aber arm; ernährte er sich doch durch das Schleifen optischer Gläser. Mag er, geleitet durch seine eifrigen mathematisch-physikalischen Studien oder durch die bedeutenden Entdeckungen jener Zeit mittelst des Fernrohres, oder aus sonstiger Vorliebe gerade für dieses Handwerk sich bestimmt haben, so war es doch überhaupt sein fester Vorsatz, nur von der Arbeit der eigenen Hände zu leben. Alle Unterstützungsanerbietungen seitens mehrerer sehr begüterter Freunde wies er standhaft zurück. Bei seiner überaus mäßigen Lebensweise in dem ländlichen Aufenthalte bei Amsterdam und später in Rhynburg bedurfte es der Ausübung jenes Handwerks nur während weniger Stunden des Tages. Er sehnte sich nur nach Unabhängigkeit und stiller Abgeschlossenheit. Seine Wirthsleute staunten über solche genügsame, mit so Wenigem zufriedene Natur, besonders da sie tagtäglich sehr hohe Herren bei ihm ein- und ausgehen sahen. Er pflegte zu bemerken: „Die Natur ist mit Wenigem zufrieden, und wenn sie es nicht ist, bin ich es dennoch.“ Als er bei einem Bankerotte zweihundert Gulden verloren, sagte er gleichgültig: „Um diesen Preis erwerbe ich mir Gleichmuth.“ Einst besuchte ihn der Staatsrath und Großpensionarius Jan de Witt, der bekannte Märtyrer der Freiheit, das Opfer des blindwüthenden Pöbels. Spinoza studirte mit Diesem Mathematik. De Witt traf den Freund in einem ärmlichen Hausrocke; erstaunt darüber, bot er ihm sogleich hülfbereit Unterstützung an. Lächelnd lehnte jedoch Spinoza dies mit den Worten ab: „Es wäre unvernünftig, ein kostbares Gewand um ein so geringes Ding zu legen.“

Trotz seines ungesunden Körpers blieb er beharrlich in ununterbrochener Thätigkeit; Lebensfreuden im gewöhnlichen Sinne

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