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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


vorüber, aber es war noch immer nichts sonderlich Auffälliges, wenn unterm Schleier der Nacht ein politisch Verdächtiger in ein Arrestlocal geschafft ward, der eine halbe Stunde zuvor noch darauf geschworen hätte, daß er die Nacht zwischen feinen Kissen und Decken weich und warm schlafen würde. Der übereifrigen Polizeiorgane, welche in solchen Verhaftungen Heldenthaten erblickten, gab es besonders in großen Städten noch manche. Was hätte sie hindern sollen? Die Willkür genoß alle Arten von Ausnahmeprivilegien, um „den Bestand des Staatswesens gegen Verschwörungen zu sichern“; es war die Zeit, wo die alte Abschreckungstheorie, welche die raffinirten Martern der mittelalterlichen Justiz erzeugt, ihre letzte Probe bestehen sollte, um dann für das Bewußtsein der modernen Civilisation in der großen Todtenkammer menschlicher Irrthümer, Geschichte genannt, beigesetzt zu werden. –

Es war gegen Mitternacht.

Donner saß in seinem Wohnzimmer bei einer Oellampe, deren grüner Blechschirm nur eine Erhellung der Tischplatte zuließ, den Lichtfleck an der Stubendecke abgerechnet, in welchem das Schattenspiel des Rauches kräuselte. Er hatte sich weder seines Uniformrockes noch seiner schweren Stiefeln entledigt; diese harte und zähe Natur wußte nichts von Bequemlichkeit und Behagen. Sein Weib schlief nebenan in der Kammer, und man hörte ihre tiefen Athemzüge; Kinder hatten sie nicht.

Vor ihm stand der Kasten, welchen er aus dem Sterbezimmer des alten Zehren entnommen und durch den Wächter hatte fortschaffen lassen. Der Deckel war offen; Donner besaß in seiner Wohnung das gesammte Handwerkszeug eines Diebes, und der Zufall hatte ihm überdies vor einiger Zeit eine Partie Schlüssel in die Hände geführt, deren einer in das Schloß des Kastens paßte.

Mit gierigen Augen blickte er über ein Packet Scripturen, welches er auf den ersten Griff herausgerissen hatte. Das Papier sah größtentheils nicht eben frisch aus. Die Schriftzüge waren vielfach vergilbt, aber Donner beschloß, sich dadurch nicht vom Lesen abhalten zu lassen, denn er kannte die Kunstgriffe, mittelst deren man unverfängliche Correspondenzen abzufassen wußte in jener gefährlichen Zeit. Er hatte erfahren, daß es nicht schwer sei, Papier von altem Aussehen zu beschaffen, vergilbte Tinte herzustellen und in Briefen mit alten Daten, welche scheinbar längst vermoderte Verhältnisse behandeln, Verschwörungen zu spinnen. Er brannte darauf, in den Scripturen dieses Kastens den Beweis für die Schuld Zehren’s zu finden, denn er fühlte heimlich, daß sein ungemessen entwickeltes Amtsbewußtsein ihn zu einer Uebereilung verleitet hatte.

Er begann aufmerksam zu lesen, und das hatte keine sonderlichen Schwierigkeiten, denn die Briefe, welche er nacheinander vor sich ausbreitete, trugen die leserlichen Züge kaufmännischer Correspondenzen. Einige in englischer Sprache abgefaßte, aus englischen oder amerikanischen Seestädten datirte Schriftstücke legte er bei Seite; er verstand sie nicht. Die Adresse richtete sich zumeist an Herrn Christian Zehren, nur in vereinzelten Fällen an eine Firma C. Frickhöffer; die Briefe letzterer Art waren sämmtlich über zehn Jahre alt, und der Commissar erinnerte sich gehört zu haben, daß der verstorbene Zehren die Fabrik vor etwa zehn Jahren erst übernommen habe und daß der frühere Inhaber, muthmaßlich jener Frickhöffer, zuvor durch einen Pistolenschuß den freiwilligen Tod gesucht.

Soweit Donner sah, waren die Briefe der Mehrzahl nach als Geschäftsbriefe zu bezeichnen. Der alte Herr Christian Zehren mußte ein tüchtiger Geschäftsmann gewesen sein, denn vielfach handelte es sich um Maßnahmen, auf kürzestem Wege über Conjuncturen Nachricht zu erhalten und günstige Gelegenheiten schleunigst zu benutzen, welche sehr außer der Sehweite des Rheinländers lagen. Andere Briefe setzten einen früheren persönlichen Aufenthalt des Verstorbenen jenseits des Oceans voraus, freundschaftliche Beziehungen pflegend und an Vergangenes erinnernd, meist nur in Andeutungen, welche dem Polizeimanne bei ihrer Dunkelheit kaum mehr Interesse abgewannen, als die Briefe der erstbezeichneten Art. Das Leben eines Heiligen hatte Christian Zehren in der Fremde nicht geführt.

Das Gesicht des Commissars begann sich zu verfinstern. Er schüttete den gesammten Inhalt des Kastens auf den Tisch. Ein paar veraltete Contracte und Quittungen ausgenommen, wollte sich auch hier nichts finden, was sich inhaltlich von den Bestandtheilen der ersten Partie unterschieden hätte. Der fieberhaft Suchende wühlte sich ungeduldig in dem kurzen, spärlichen Haar und drehte die Enden seines Schnauzbartes. Aber lesen mußte er. Die Kukuksuhr, welche über dem Tische an der Wand hing, rückte mit gleichmäßiger Sicherheit die Zeiger vorwärts, und der Commissar fuhr auf, wenn nach dumpfem Knarren der Ruf des Vogels sich hören ließ. Draußen krähten in der Ferne die Hähne, und bellende Hunde antworteten einander durch die lichte Sommernacht, aber er wußte nichts davon.

Er las noch immer, als die Morgendämmerung das Mondlicht ablöste und die Kühle des erwachenden Tages ihn frösteln machte. Eine Zeit lang beachtete er diese Empfindung nicht; dann stand er auf und suchte seinen Mantel, den er sich umlegte. Er spürte, wie seine Augen übernächtig brannten, goß aus einer Caraffe Wasser in ein Glas und benetzte die Augen damit. Dann setzte er sich wieder.

Unter den nächsten Briefen fanden sich einige, welche sich durch die nämlichen, merkwürdig verschnörkelten Schriftzüge auszeichneten. Sie stammten aus der Mitte der dreißiger Jahre, und waren an die Adresse C. Frickhöffer gerichtet. Es waren dies die ersten, welche Donner's Aufmerksamkeit erregten, obschon sie nichts von Dem enthielten, was er eigentlich suchte.

Der Unterzeichner nannte sich Hendricks. Er kündigte im ältesten der Briefe an, daß er bereit sei, Herrn C. Frickhöffer von einer gefährlichen Geschäftsconcurrenz zu befreien, wenn dieser auf gewisse Bedingungen eingehen würde, über welche er sich mündliche Rücksprache vorbehalte. Zwischen diesem und dem nächsten Schreiben mußten die Verhandlungen stattgefunden haben und zu einem Abschlusse gediehen sein, denn der nämliche Hendricks erklärte des Genaueren, wie weit er mit den Vorbereitungen gediehen sei, um die Wattenfabrik H. und H. zu Falle zu bringen. Diese Buchstaben fanden sich auch in den folgenden Briefen wiederholt vor. Der Plan war im Grunde ein teuflischer: der mit Hendricks Unterzeichnete mußte in vertrauter Verbindung mit der bedrohten Firma stehen und die Mittel zur Verfügung haben, ihr jeden Credit zu rauben, ihre pecuniären Verhältnisse zu zerrütten und ihren Verrieb zu unverhältnißmäßigen Opfern anzuspannen. Es hieß an einer Stelle, daß die neuen Maschinen richtig angeschafft seien und daß der Erfinder, dem gegebenen Rathe entsprechend, die horrende Summe beansprucht und erhalten habe. Daneben fanden sich genaue Zahlenangaben über eingezogene Gelder vor, welche bei Seite geschafft und bei einem Londoner Banquier deponirt worden seien, sowie Namen von Kunden der Firma H. und H., welche ihre Geschäftsverbindung mit derselben zu Gunsten der Erzeugnisse des Adressaten aufgelöst hätten. Zuweilen wurden Klagen beschwichtigt, Zahlungsraten gefordert.

Das wichtigste unter diesen Schriftstücken war ein kurzes, eilig geschriebenes Billet. Es lautete: „Ich besitze noch ein paar Wechsel, die H. in blanco unterschrieben hat, mit einem Accept der Firma S. und Compagnie von meiner Hand versehen. Todte können nicht reden, und H. ist, sobald Sie wollen, der Schuldige. Die Blättchen liegen für Sie bereit; zahlen Sie den Rest gegen Tausch, dann haben Sie die Sache in der Hand, und ich verschwinde in einem Urwalde, um über den Leichtsinn nachzudenken, der mich genöthigt hat ein Schurke zu werden.“ Die Frage zu entscheiden, wer jener H. war, dafür existirte ein einziger, aber genügender Anhalt. Der vorletzte Brief sprach mit einem gewissen Triumphe von einem Todesfalle, und an einer Stelle war der Name des Todten, wahrscheinlich durch Unachtsamkeit, ausgeschrieben. Dieser Name lautete: Hornemann.

Es war eine schreckliche Sprache, welche diese vergilbten Blätter redeten. Sie erzählten im Lapidarstyle die Geschichte eines Wildes, das von einer Parforcejagd zu Tode gehetzt wird. Es klang wie die Zurufe von Jägern, welche das Wild in Sicht haben und verloren wissen, wie wildes Hussah! und Peitschenknallen und Kläffen der Meute, und zum Schlusse scholl das Hallali! und blinkte das Messer. Aber wer diese Blätter las, der hörte noch etwas Andres, nämlich die Angst der Creatur, das Lechzen und Stöhnen, den fliegenden Athem und das verzweifelte Hasten, um zu entrinnen, den Sturz und das Röcheln des Todes; von alledem stand nichts geschrieben, aber zwischen den Zeilen hervor quollen die furchtbaren Bilder und Töne.

Der Commissar empfand nichts von den allgemein menschlichen Gefühlen des Mitleids und der Entrüstung; ein Criminalfall

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_111.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)