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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

Erst seit etwa einem halben Menschenalter geht uns über jenes Land und sein Volk, dessen Zahl wohl vier Millionen nahe kommt, neues Licht auf durch einen Mann, der die Durchforschung aller von Südslaven bewohnten türkischen Länder sich zum Lebensberufe gemacht hat: durch den 1829 zu Pest geborenen ausgezeichneten Kunsthistoriker und Ethnographen Philipp Felix Kanitz in Wien. Sein letztes größeres Werk über Serbien erschien 1868; sein großes Werk über Bulgarien[1] hat bereits in zwei Bänden (der zweite ist soeben erschienen) den Unterschied zwischen der bisherigen Landes- und Volkskunde und der wahren Gestaltung des Landes sowie den Zuständen und dem Leben der Bevölkerung dargethan. Fast so verwahrlost, wie das weite Gebiet durch die türkische Mißregierung, tritt nun die ehemalige Kunde von demselben uns entgegen. Gewässer und Gebirgszüge zeigen sich in anderm Lauf, unzählige Namen sind berichtigt, ja, wo die frühern Geographen im innern Lande Einöden verzeichneten, fand Kanitz zahlreiche und alte Dörfer vor.


Die Bereitung des Rosenöls.
Nach einer Originalskizze von F. Kanitz.


Dennoch würde das mühevolle Werk des Autors vielleicht noch lange nur von den Fachmännern in die Hand genommen und durch deren Benutzung sein reicher Inhalt nach und nach in die Lehr-, Schul- und Volksbücher übergegangen sein, ohne für das Land selbst und für sich das allgemeine Interesse gewonnen zu haben, wem nicht ein furchtbares Schicksal den Namen „Bulgarien“ plötzlich tagtäglich durch alle Zeitungen vor Aller Augen geführt hätte. Durch den Ausbruch des serbisch-türkischen Kriegs wurde Bulgarien in die Mitte der Kämpfer gestellt, und der angestachelte Fanatismus der Osmanen, vor Allem die thierische Rohheit und Blutgier der Tscherkessen, an welche wir einst als an die Freiheitskämpfer gegen Rußland unsere Sympathie verschwendeten, ließen dem Wehschrei der hingeschlachteten christlichen Bulgaren über die Welt erschallen. Wie die Hülfe Europas für dieses wackre Volk aus den Händen der Diplomatie hervorgeht, wird die Zeit lehren; der Wunsch, den F. Kanitz aus der durch langjährigen Aufenthalt bei ihm gewonnenen Würdigung desselben ausspricht, der Wunsch, daß diesem Volke sein langersehntes, vollverdientes Recht, das heißt die Selbstverwaltung der hartgeprüften bulgarischen Rajah endlich errungen werde, wird, trotz aller Türkenliebe der Magyaren und Britten, auch noch in Erfüllung gehen.

Vor der Hand hat durch jenen Krieg nur das Werk des F. Kanitz einen Sieg der Zeit gewonnen, es ist eine der zeitgemäßesten literarischen Erscheinungen der Gegenwart und schon deshalb unsrer besonderen Beachtung empfohlen.

F. Kanitz hat ein Hauptaugenmerk auf die Beschäftigung des Volkes gerichtet, sowohl auf dem Felde wie in den Werkstätten, und spricht die Ueberzeugung aus, daß Bulgarien einst als das Industrieland der Türkei aufblühen werde. Wir können diesen Gegenstand, welcher überdies erst in dem noch anstehenden dritten Bande des Werkes volle Erledigung finden wird, nicht weiter verfolgen, wählen aber zur Probemittheilung aus dem zweiten Bande die Schilderung eines Industriezweiges, der für die Frauenwelt einen besondern Reiz hat, die Rosencultur und die damit verbundene Bereitung des Rosenöls.

F. Kanitz überschreibt das Capitel, aus welchen wir das Folgende abdrucken: „Vom Rosenthal Kazanlik über dem Travna-Balkan nach Tirnovo“ und schildert Kazanlik, den Mittelpunkt dieser Industrie, als eine Stadt von 2500 bulgarischen, 1500 türkischen, 30 jüdischen und 50 Zigeunerhäuschen und etwa 21,000 Einwohnern. Auf dem Wege dahin beginnt seine Erzählung.

„Mit uns zogen kleine Karavanen in die Stadt. Jedes ihrer zahllosen Grauthiere trug an beiden Seiten des „Semers“ (Packsattel) riesige Körbe geschnallt, deren Inhalt die Atmosphäre mit lieblichem Dufte erfüllte. Muntere Dorfschönen mit blendend weißen Hemden und kleidsamen buntwollenen Vor- und Rückschürzen bildeten das Geleite des originellen, beinahe festlichen Zuges, denn alle waren mit Rosen geschmückt, auch die Stäbe waren mit der köstlichen Blume umwunden, welche die Mythe der Griechen, ja nahezu aller Völker verherrlicht und deren Wiege ausgezeichnete Orientkenner weit an den Gestaden des Indus vermuthen.

Der Cultus der „Königin der Blumen“ wurde niemals so


  1. „Donau-Bulgarien und der Balkan. Historisch-geographisch-ethnographische Reisestudien aus den Jahren 1860 bis 1876“ Mit vielen Illustrationen im Text und Holzschnitttafeln. Leipzig,. Verlagsbuchhandlung von Hermann Fries.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_089.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)