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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


No. 1.   1877.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.




Jubelgruß der „Gartenlaube“.


Die Pforte auf zum festgeschmückten Jahr!
Am Eingang bleiben wir voll Andacht stehen,
Um auf den Weg, wo unser Ausgang war,
Und die durchmess’ne Bahn zurückzusehen.

5
Ein Wandern war es durch die lange Reihe

Von vierundzwanzig Jahren, und uns hebt
Die Brust der Schauer einer stillen Weihe
Vor dem Gewaltigen, das wir erlebt.

Wir zogen aus zur Fahrt am trüben Tag,

10
Wo kampfesmüd’ und hoffnungsarm am Boden

Das deutsche Volk in seiner Ohnmacht lag,
Beneidend die Verbannten und die Todten.

Da schaarten die Genossen wir zusammen,
Erst eine kleine Zahl, und doch auf’s Neu’

15
Erglühend an des deutschen Geistes Flammen,

Der Freiheit und dem Vaterlande treu. –

Jetzt wisset Ihr, warum einst Fest auf Fest
Wir feierten dem deutschen Geist zu Ehren:
Denn „daß Gott seine Deutschen nicht verläßt” –

20
Sollt’ alle Welt die nächste Zukunft lehren.


Die rechte Zeit kam zu dem rechten Volke –
Im Boden aller Herzen lag die Saat –
Die Sehne klang – der Pfeil flog durch die Wolke –
Und die Geschichte kränzt ein Volk der That.

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Und treu zusammen, wie zur trüben Zeit,

Hat uns’re Schaar in Kampf und Sieg gehalten,
Und stolz bereit zum edlen Männerstreit
Steh’n Tausende von Jungen bei den Alten.

Und wie „Die Gartenlaube” mitgestanden

30
Und mitgesiegt in ihrer Helden Reih’n,

Zieht sie getrost in allen deutschen Landen –
Glück auf! – heut’ in ihr Jubeljahr hinein.




Aus gährender Zeit.
Erzählungen von Victor Blüthgen.
1.

Ein junges Mädchen stand in einer Mondnacht des Juni am offenen Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Es ist eine Weile her, fast dreißig Jahre. Die Häuser gegenüber, deren eines ein Hôtel zu sein schien, obschon keine der zwei- oder dreisprachigen Firmen, welche in Deutschland üblich sind, von dieser seiner Bestimmung Meldung that, lagen hell wie am Tage; der wassergefüllte Canal, welcher an Stelle des sonstigen Fahrweges die Mitte der Straße bildete, lief zur Hälfte schon im Schatten der einen Häuserreihe, während die andere mit blitzenden Wasserstreifen im Mondscheine lag, welche das Hingleiten des fließenden Wassers an der aufgemauerten Uferwand verursachte. Eine wunderliche Straße – eine Straße wie in der Märchenstadt Venedig, nur daß keine schwarze Gondel darüber glitt, weich und schattenhaft, und daß die Wasser nicht Meereskinder waren, welche neugierig durch die Wohnungen der Menschen hin plätscherten, sondern einem Bache angehörten, bis zu dessen Ufern sich zwei Theile einer Stadt einander genähert hatten. Die Trottoirs an den Seiten waren schmal; mehr als vier Menschen hätten sie bequem nebeneinander nicht passiren können.

Die Häuser zeigten die im Bergischen übliche Bauart; die meisten hatten eine glatte Front, welche mit Schiefer schuppenartig belegt war, und grüne Läden oder Jalousien, darüber unförmliche Riesendächer. Nur das Haus, in welchem das junge Mädchen sich befand, machte eine Ausnahme; es war ein wunderlich verschnörkelter Bau, dreistöckig, an die süddeutsche Art erinnernd und dem Anscheine nach sehr alt. Sein Schatten, wie er sich im Canale drunten abzirkelte, zeigte ein Gewirr von Spitzen und Ecken. Vier Stufen führten zu einer quer durchgetheilten Doppelthür, an deren unterer Hälfte ein mächtiger Ring von Eisen hing, seitwärts konnte man ein hohes Geschäftsfenster gewahren, dessen Laden geschlossen war. Stumm und geschlossen lagen alle Fensterläden der unteren Stockwerke sammt den Thüren in der stillen, mondbeschienenen Straße. Es war spät in der Nacht.

Das Erkerfenster, zu dem das Mädchen sich jetzt weiter hinauslegte, war ohne Licht, gleich allen anderen. Nur die wie mit Holzrippen durchgitterten Hôtelfenster im zweiten Stocke gegenüber lagen hell, und die Gäste, welche sich dahinter bewegten, waren deutlich erkennbar. Indeß kein Blick der mandelförmigen, dunklen Augen schweifte dorthin. Das ovale, volle, aber, wie es aussah, blasse Gesicht der Schönen neigte sich dem ruhig und kaum hörbar strömenden Wasser zu, und die Augen folgten dem blitzenden Spiele da unten, bis sie starr wurden und zu träumen begannen. Die laue Juniluft streifte um ihre Wangen und wehte leicht in den weißen Gardinen neben ihr. Das Geräusch der großen Stadt schlief bis auf einen schallenden Tritt in der Nebenstraße oder den Pfiff eines Nachtwächters in der Ferne.

Als sich die Hôtelthür gegenüber öffnete und ein Trupp später Gäste pfeifend und schwatzend auf die Straße schlenderte, zog

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_001.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)