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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


„So, lieber Freund,“ sage ich nach dieser kurzen Demonstration, „da haben Sie nun einen Häckel-Kowalewski’schen Urahnen der Wirbelthiere und somit auch des Menschen flüchtig kennen gelernt, welcher zugleich das nicht geringe Verdienst besitzt, der Dohrn’schen Ansicht vom allgemeinen Sündenfalle der Thierwelt sich anzupassen. Können Sie mir glauben, daß diese hartnäckige Bestie, wie alle ihre Verwandten, die Seescheiden im Allgemeinen, in ihrer Jugend die schönsten Ansätze zu höherer Vollendung in ihrem Schwanze trägt, dieselben aber mit diesem Schwanze später von sich wirft und in ihrer Verstocktheit sich philiströs festsetzt, um nur dem Ernährungs- und Fortpflanzungsgeschäfte sich hinzugeben, statt frei umherzuschweifen und, wenn auch unbewußt, als Anhänger der Hartmann’schen Philosophie Höheres anzustreben und weiterer Vervollkommnung sich anzupassen durch harten Kampf um das Dasein? Wie feige muß die Seele sein, welche diesen ungestalten, sackförmigen Körper bewohnt! Und doch muß diese Seele, als den Urahnen angehörig, ihr Theil Unsterblichkeit besitzen – denn wie hätte sonst die Seescheide auf ihre Nachkommen, die Menschen, diese Ur-Eigenschaft der menschlichen Seele vererben können?

Als Larve, kaum dem Ei entkrochen, hat das Thier, nach Kowalewski und Kupfer, eine Wirbelsaite, aus der sich Wirbel, Schädel, Gliedmaßen und wer weiß was Alles noch entwickeln könnten; als Larve hat es ein Nervensystem, aus dem Rückenmark und Gehirn sich entfalten könnten; als Larve hat es nur wenige Kiemenspalten, welche es zu Fischkiemen ausbilden könnte – und alle diese unendlichen Vorzüge vor anderen Würmern, die es erhalten hat, man weiß nicht wie, wirft es von sich, verhunzt sie in ärmlicher und zugleich grausamer Weise und zieht es vor, ein beschränktes Leben zu führen, gebannt an den Boden, auf welchem es sich festsetzte, verdammt zu ewiger, untergeordneter Stellung. Kein Ehrgeiz kann diesen weiten Kiemensack schwellen, kein Trieb nach Höherem dies ewig wechselnde Herz bestimmen, nur einem einzigen Ziele stufenweiser Vervollkommnung entgegenzuschlagen.

Vor der silurischen Urzeit freilich waren die uns zwar unbekannten, aber aus monistischer Weltanschauung zu construirenden Sprößlinge der Vorgänger unserer Seescheiden offenbar von edlem Wetteifer ergriffen; sie schwammen herum, bildeten ihre Wirbelsaite aus, entwickelten ihr Nervensystem, und die Nachkommen dieser strebenden Larven gelangten endlich nach hundert vielgestaltigen Entwickelungsphasen als Menschen in den Besitz einer unsterblichen Seele und zeichneten sich, wenn nicht durch Anderes, so doch, nach Quatrefages, durch Religiosität vor allen übrigen Thieren aus – aber schon seit der silurischen Epoche der Erdgeschichte haben die directen Nachkommen dieses strebenden Heldengeschlechtes die leuchtende Spur ihrer Ahnen verlassen, um, in niederträchtiger Beschaulichkeit festgebannt, nichts Anderes zu thun, als zu sitzen, zu leben und sich selbst ähnliche Kinder zu zeugen. O des schmachvollen Unterganges, der verhängnißvollen Rückbildung von Höherem zu Niederem! Nichts scheint ihnen wünschbar, diesen Epigonen – sie wollen keine Augen, um das Licht nicht sehen zu müssen; keine Glieder, um nicht schwimmen zu müssen – ja nicht einmal die einfache Quergliederung, die vielleicht doch, wider ihren Willen, zur Verwirbelung und zur Menschwerdung führen könnte, liegt in ihrem unbewußten Ziele. Sie sind und werden ewig bleiben, was sie sind.“

Ich würde noch lange in solchen Schmerzensschreien über verfehlte Bestimmung fortgefahren haben, wenn nicht mein Freund einige Querfragen gethan hätte. „Was sind denn die gelblichen, haselnußgroßen Klumpen,“ fragt er, „die da unten im Schleime und den Falten des Kiemensackes geborgen liegen? Es will mich fast dünken, als hätte ich eine Bewegung an ihnen bemerkt.“

Drei solcher Klümpchen werden hervorgezogen, mit einem Pinsel vom Schleime befreit und in ein Glasschälchen mit frischem Wasser gelegt. Nach einiger Zeit strecken sie links und rechts einige Beine hervor; zwei große Scheeren, die hart an den Vorderrand des Leibes angepreßt waren, entfernen sich nach vornen; zwischen ihnen werden Fühlhörner und zwei kleine, auf beweglichen Stielen sitzende, dunkelgrün glänzende Augen sichtbar – es sind kleine Krabben, Pinnotheres Ascidiarum, die gemächlich hin und her spazieren und offenbar ein neues Versteck suchen. Die tragen den deutschen Namen „Taschenkrebse“ mit vollem Rechte, denn sie sitzen in dem weiten Kiemensacke wie in einer Tasche und scheinen sich darin ganz wohl zu befinden. Sie sind dick und kugelrund – augenscheinlich wohlgenährt. Ob sie die Seescheide von innen ausfressen? Dieser Gedanke muß Jedem kommen, der die gefräßige Natur der Krabben kennt, dieser Aasgeier des Meeresbeckens, die sich um jede Leiche sammeln, sie abnagen bis auf die Knochen und auch das Kleinzeug nicht verschmähen, das ihnen keinen Widerstand zu leisten vermag. Aber wenn diese Vermuthung richtig wäre, so müßte doch die Seescheide innere Verletzungen zeigen, und davon ist auch nicht die Spur vorhanden. Sogar das feine Netzgewebe des Kiemensackes, das bei dem geringsten Zupfen mit der Pincette zerreißt, ist von den scharfen Fußkrallen und den Scheeren nicht im Mindesten beschädigt worden. So bleibt uns denn nichts Anderes übrig, als anzunehmen, daß die Krabben mit ihrem Wohnthiere fein säuberlich umgehen und daß sie zu der in der Thierwelt noch weiter als im ehemaligen Königreiche Neapel verbreiteten Gesellschaft der Camorra gehören, die sich an irgend einem gangbaren Orte festsetzt, wo reichliche Nahrung passirt, und von demjenigen, was die Seescheide mit dem Athemwasser einpumpt, ihren Theil vorweg einnimmt, bevor es in den schlitzförmigen Mund gelangt. Giebt es ja doch Verwandte unserer Krabbe, welche in Muscheln leben, die sogenannten Muschelwächter (Pinnotheres), die besonders gern in der großen Schinkenmuschel (Pinna) hausen und von denen schon die Alten erzählen, daß sie ihren Gastwirth durch sanftes Kneipen benachrichtigten, wenn eine Gefahr nahe, damit dieser geschwind die geöffneten Schalen schließe. Das lassen wir dahin gestellt, glauben aber immerhin, daß es sich um ein freundschaftliches Verhältniß handele, und dies um so mehr, als die Anwesenheit der Krabben in der Seescheide deshalb auffallend ist, weil sie zu groß scheinen, um durch die Oeffnung in den Kiemensack eindringen zu können.

Die Seescheide schließt aber die Oeffnung mit großer Gewalt, sobald ein fremder Körper sie nur berührt, wie viel mehr, wenn ein Feind sich bemüht, einzudringen. Wären die Krabben als Junge hereingekommen, als sie noch in fremdartiger Gestalt in dem Wasser umher schwammen – vielleicht von dem Strudel erfaßt und fortgerissen? Aber schon manche Beobachter vor uns haben Krabben in Seescheiden gefunden und, wie wir, niemals anders als in erwachsenem Zustande. Ja, ich habe erst ganz neuerdings beobachtet, daß die jungen Krabben wirklich aus den Seescheiden auswandern. Mein Freund Lacaze, der sich eifrig mit dem Studium der Seescheiden abgiebt, hielt einige Individuen schon seit mehreren Tagen in einem Aquarium. Kein anderes Thier war darin vorhanden. Plötzlich wimmelte das Wasser des Aquariums von jenen seltsamen Larven der Krabben, welche die Naturforscher unter dem Namen Zoëa kennen, und die, mit einem langen Stirnstachel, zwei Seitenstacheln, furchtbar großen Augen und sperrigen Schwimmfüßen ausgerüstet, zu den barockesten Gestalten des Thierreiches gehören. Die Jungen konnten nur von einer im Inneren der Seescheiden lebenden Krabbe abstammen. So bleibt denn nichts übrig, als die Annahme, daß diese letzteren von der Seescheide gastlich aufgenommen werden, von den Brosamen leben, die dem Tische ihres Hausherrn zugeführt werden, und sogar in ihrem Verstecke der Freuden des ehelichen Lebens nicht verlustig gehen.

Diese Annahme wird noch bestärkt durch das Auffinden anderer, freilich weit kleinerer Gäste, welche den Kiemensack bewohnen. Es sind ebenfalls Krebsthierchen, aber aus der Proletarierfamilie der Krebsflöhe (Copepoden), während die Krabben zu den höchsten Adelsgeschlechtern des Krebsstammes gehören – freilich sind diese Muschelwächter herabgekommene Krautjunker, denen nichts übrig geblieben ist, als Herrendienst und schlecht maskirte Hörigkeit, Wegelagerung und Wegschnappen der Nahrung ihres Dienstherrn.

Die kleinen Proletarier erscheinen dem bloßen Auge wie feine Sandkörnchen von schmutziger Farbe – erst wenn man sie genauer betrachtet, sieht man, daß diese Körnchen sich bewegen und langsam umher krabbeln. Wir finden in unseren blutigen Seescheiden von Roscoff zwei sehr verschiedene Arten, von welchen ich nur die eine in das Auge fassen will.

Kann man ein sonderbareres Wesen sehen, als das ausgewachsene Weibchen, welches unsere Figur 1 im Profil darstellt? Ein cylindrischer, etwas gebogener Leib, unter welchem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 811. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_811.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)