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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Wenn es sehr dunkel um uns ist, tasten wir ja aus unaussprechlicher Bangigkeit umher nach irgend einem Halt in all der Noth und Wirrniß. So hat sich das arme Weib an mich geklammert, denn selbst ihr Kinderglaube an einen Gott des Erbarmens ist erschüttert. Gerade ihr wahrhaftiges, feuriges Naturell, das die unmittelbarsten Begriffe stark erfaßt, ist für ein complicirtes Geschick nicht erschaffen, nur mühsam ringt sie sich zu einem weiteren Blicke, zum Erkennen durch – doch jetzt schon fühle ich, es wird nicht ausbleiben. Indem es aber mein tägliches Sinnen geworden, ihr den scharfen Stachel aus dem Herzen zu ziehen, das zarte Pflänzchen Liebe in ihr zu pflegen, dessen Blüthe jetzt zertreten, dessen Wurzel aber hoffentlich unbeschädigt ist – da, Freund, kam das Erkennen über mich selbst. Da kam das Vergleichen, was sie nach ihrem Bewußtsein zu vergeben hätte, was ich? Mutterliebe dort, Selbstliebe hier – oder wie nenne ich es sonst, das mich hieß die Hand, welche sich nach mir ausstreckte, nicht zu berühren? ‚Unrecht hast Du gethan, an ihm, an Dir,‘ so ruft es in mir laut und lauter – mit heißen Thränen sehnte ich tausendmal die versöhnende Stunde zurück, wo die einzige Dissonanz meines Lebens sich in Harmonie hätte lösen können, wenn ich nicht feige, wenn ich nicht selbstisch gewesen wäre. Jetzt sie herbeizwingen, wäre in der That mit weiblichem Zartgefühl kaum vereinbar gewesen; so empfand ich sie denn als unwiederbringlich verloren. – Nun wissen Sie, was dieser Brief mir giebt. Ruhe, Friede mit mir selbst für alle Zeit, denn, was er auch bringen mag, es gilt Versöhnung.“

„Es gilt wohl mehr, Valentine,“ sagte Bernardin ernst. „Die alte Schuld ist verbüßt; Sie Beide sind frei, und – ich glaube, dieser Mann ist Ihrer werth. Seit Jahren erwartete ich solchen Ausgang. Nun ist er gekommen.“ Er faßte ihre Hand mit starkem Drucke, ließ sie sogleich wieder los und erhob sich. „Auf Wiedersehen!“ sagte er mit der tiefen, ruhigen Stimme, die ihm eigen war. Während er sich von ihr entfernte, ging er langsamer und stand, ehe er den Pfad zum Kirchhofe hinauf einschlug, einen Moment am Strande, das schwermüthige Auge den Bergen zugewendet. Kein Mensch wird so alt, daß er nicht noch durch das Herz leiden könnte.


Valentine war allein. Alle ihre Pulse fieberten. Noch hielt sie den Brief unerbrochen in der Hand. Ihr Blick wurzelte auf der Adresse. Wie viel Tage und Jahre waren vergangen, seit sie diese Schriftzüge zuletzt erblickt! Nachdem der Bruch ihrer Verlobung vollzogen war, hatten sie Beide einander alle Briefe zurückgegeben, die sie in glücklicheren Tagen getauscht. Von allzu heißem Weh getrieben, übergab Valentine damals den Flammen jedes Blättchen, jedes welke Reis, das ihr aus der geliebten Hand gekommen. Da fand sie einst, als sie gelegentlich eigene Aufzeichnungen durchblätterte, zwischen den Heften ein Gedicht, welches Hartung für sie aufgeschrieben. Es war nicht von ihm selbst. Er brachte es ihr nur, weil es ihm sehr gefiel. Jetzt, in diesem Augenblicke, wo Valentinens ganze Seele zagend und sehnsüchtig durch die Hülle drang, welche sie noch von Wohl oder Wehe schied, stand seltsamer Weise jedes Wort jener kurzen Strophen plötzlich vor ihrem Geiste, ihren Augen:

„Im Traume hab’ ich oft geschaut
Dein Bild im himmlischen Gewand.
Jetzt, da ich Dich auf Erden fand,
Bist Du mir innig schon vertraut.
Verschwunden ist mir alle Zeit –
Ich habe Dich von Anbeginn
Und weiß, daß ich Dein eigen bin
In alle künft’ge Ewigkeit.“

„In alle künft’ge Ewigkeit!“ Valentinens Gesicht wurde rosig wie eine Abendwolke. Sie löste das Siegel. Das Blatt, welches in ihrer Hand bebte, enthielt nur wenige Zeilen:

„Tiefste Ueberzeugung sagt mir, daß Sie nicht vergessen haben, Valentine. Ob Sie vergeben können, ob ich Sie wiedersehen darf, weiß ich nicht. Mag Ihr Wille mich nun auch künftig von Ihnen fern halten, oder nicht, Eines muß ich Ihnen sagen, ehe wir uns wieder begegnen: Jene Tage, die uns verbanden, sind und bleiben der Inhalt meines Lebens.

Georg Hartung.“

Valentine senkte ihre Stirn auf das Blatt nieder. Sie weinte, wie es dem Menschen selten beschieden ist zu weinen. Sie weinte aus Glück.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Der Exkriegssecretär General Belknap vor dem Gerichtshof zu Washington. Der Zweck dieser Zeilen ist nicht, auf den Inhalt der Anklage Belknap’s nochmals einzugehen. Die Natur des Verbrechens des Kriegsministers ist den Lesern aus dem in Nr. 21 und 23 erschienenen Artikel über das amerikanische Beamtenthum hinlänglich bekannt. Es ist vielmehr nur der Ausgang des Processes, die Freisprechung des der gemeinsten Bestechlichkeit vollständig überwiesenen Exministers durch seine Parteigenossen, wofür wir diesmal einen kleinen Raum in der „Gartenlaube“ beanspruchen möchten.

Bei einer Anklage, in welcher Beamte der Republik vor den Schranken des Senates, des höchsten Gerichtshofes, als Beschuldigte erscheinen, übernimmt das Repräsentantenhaus die Rolle des öffentlichen Anklägers. Nachdem dasselbe die gegen einen Beamten erhobenen Beschuldigungen geprüft und hinreichend erwiesen befunden hat, ernennt es ein Comité, welches als Ankläger vor dem Senate erscheint und denselben auffordert, den Verklagten vor seine Schranken zu fordern. Dieser erste Schritt war in dem vorliegenden Falle gethan worden; der Senat hatte die Anklage zugelassen. Jetzt erhoben die Vertheidiger Belknap’s zunächst Einwand gegen die Competenz des Senates, den Exminister zu richten, weil das Gesetz eine Anklage nur in dem Falle gestatte, wenn der Angeklagte ein Beamter der Republik sei, Belknap habe aber sein Amt niedergelegt und seine Abdankung sei vom Präsidenten angenommen worden, ehe er eines Verbrechens angeklagt wurde; folglich sei er kein Beamter mehr, könne also nicht vor den Senat, sondern nur vor die gewöhnlichen Gerichte gefordert werden. Dieses von seinem Hauptvertheidiger, Exsenator Carpenter, auf’s Geschickteste ausgebeutete Beweismittel fand indeß eine gründliche Widerlegung durch die ausgezeichneten Rechtsgelehrten des Senats, welche nachwiesen, daß ein Beamter auch nach seiner Abdankung für alle während seiner Amtszeit begangenen Verbrechen vor die Schranken des Senats gebracht und gerichtet werden könne. Der Senat entschied denn auch die Competenzfrage mit einer bedeutenden Majorität zu Gunsten der Anklage und forderte den Exminister auf, vor seinen Schranken zu erscheinen.

Die Zeugenvernehmung begann. Dem Hauptzeugen Marsh war Straflosigkeit zugesichert worden, wenn er aus Canada zurückkehren und sich dem Gerichte zur Verfügung stellen würde. Er kam und legte den Sachverhalt auf’s Umfassendste dar, wie ihn die Leser aus jenem früheren Artikel schon kennen. Durch sämmtliche Zeugenverhöre wurde eigentlich gar Nichts zu Tage gefördert, was das Publicum nicht schon vor Beginn des Processes, theils durch die Selbstbekenntnisse Belknap’s, gewußt hätte. Die Vertheidigung hatte auch nie die geringste Hoffnung oder Absicht gehabt, ihren Clienten durch Widerlegung oder Beschönigung seiner Verbrechen zu retten; sie wußte wohl, daß dies verlorene Arbeit sein würde. Sie suchte ihr einziges Heil in dem Versuche, durch alle möglichen Winkelzüge in Bezug auf Formfragen und durch eine freche Sophistik den Parteigenossen wenigstens vom Zuchthause zu retten.

Nachdem der Versuch, den Proceß durch die Competenzfrage zu erdrücken, mißlungen war, deutete Carpenter in seinen Reden den Weg an, der jetzt eingeschlagen werden müsse, indem er den Satz aufstellte: kein Senator, der gegen die Competenz des Senates gestimmt habe, könne für die Verurtheilung Belknap’s stimmen, weil ihm die Berechtigung dazu nach seiner eigenen Ansicht fehle. Da nun mehr als ein Drittel aller Senatoren gegen die Competenz gestimmt hatten, zu einer Verurtheilung aber zwei Drittel aller Stimmen erforderlich sind, so ergab dies, wenn seine Sophistik durchschlug, für den Senat die Unmöglichkeit, den Angeklagten zu verurtheilen; er mußte dann freigesprochen werden.

Der schlaue Vertheidiger hatte zwei Punkte, die seine ganze Beweisführung über den Haufen warfen, geschickt genug zu verdecken gesucht. Erstens: Die Competenzfrage war durch den Senat, der dabei in seiner Eigenschaft als Richter gehandelt hatte, schon endgültig entschieden; die Minorität hatte sich diesem Entscheide gefügt und durch ihre Theilnahme an den nun folgenden Proceßverhandlungen es deutlich und klar ausgesprochen, daß sie sich als Mitglieder des Gerichtshofes ansähen und als solche das durch die Majorität festgestellte Recht, den Angeklagten zu richten, beanspruchten. Seit dem Beginn der Zeugenvernehmung saß der Senat in seiner zweiten Eigenschaft zu Gericht, hatte mit der von ihm als Richter entschiedenen Competenzfrage gar nichts mehr zu thun, sondern einzig und allein die Thatsachen des Falles zu beurtheilen und seinen Wahrspruch in Bezug auf diese Thatsachen abzugeben. Zweitens schienen Carpenter und die Belknap günstigen Senatoren den Umstand ganz vergessen zu haben, daß, wenn die Herren den Senat nicht für competent hielten, als Gerichtshof zu fungiren, und eben deshalb glaubten, unter keinen Umständen ein „Schuldig“ aussprechen zu dürfen, sie sich doch ebenso wenig für berechtigt halten konnten, einen Wahrspruch auf „Nichtschuldig“ zu geben. Das Eine fiel mit dem Andern, und es blieb ihnen nichts übrig, als sich der Abstimmung gänzlich zu enthalten. Die Sophistik Carpenter’s war so kläglich grob, daß Jedermann sie leicht genug durchschauen konnte; im Allgemeinen zweifelte man darum auch daran, daß die Freunde des Exministers sich eine solche Blöße geben würden, an den ihnen vom Vertheidiger hingehaltenen plumpen Köder anzubeißen.

Der Tag der Abstimmung kam heran. Die Bestrafung eines der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_747.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)