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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


„Es sind aber noch zwei Stunden Wegs nach Wilicza,“ bemerkte Wanda. „Die können Sie doch nicht zu Fuß und im langsamen Schritte zurücklegen.“

„Es wird mir doch nichts Anderes übrig bleiben,“ versetzte Nordeck ruhig. „Mindestens muß ich mein Pferd bis zum nächsten Dorfe führen, wo ich es abholen lassen kann.“

„Aber dann wird es dunkel, ehe Sie das Schloß erreichen.“

„Das thut nichts; ich kenne den Weg.“

Die junge Gräfin warf einen Blick auf den Weg nach Wilicza, der sich schon nach einer kurzen Strecke im Walde verlor; sie wußte, daß diese Waldumgebung ihm blieb bis in die unmittelbare Nähe des Schlosses.

„Wäre es nicht besser, Sie bedienten sich meines Schlittens?“ sagte sie leise, ohne aufzublicken. „Mein Kutscher kann Ihr Pferd ja inzwischen nach dem Dorfe bringen.“

Waldemar sah sie betroffen an; das Anerbieten schien ihn auf’s Höchste zu überraschen.

„Ich danke. Sie fahren doch jedenfalls nach Rakowicz?“

„Der Umweg über Rakowicz ist nicht groß,“ fiel Wanda hastig ein, „und von dort aus können Sie das Gefährt allein benutzen.“ Die Worte klangen seltsam gepreßt, beinahe angstvoll. Waldemar ließ langsam den Zügel niedergleiten. Es vergingen einige Secunden, ehe er antwortete:

„Ich thue doch wohl besser, direct nach Wilicza zu gehen.“

„Ich bitte Sie aber, das nicht zu thun, sondern mit mir zu fahren.“

Diesmal sprach die Angst so unverkennbar aus Wanda’s Stimme, daß die Weigerung nicht erneuert wurde. Nordeck übergab dem Kutscher, der auf den Wink seiner Herrin abgestiegen war, das Pferd mit der Weisung, es möglichst schonend nach dem bezeichneten Dorfe zu führen, wo es abgeholt werden würde. Er selbst bestieg den Schlitten, aber er schwang sich auf den hinten befindlichen Kutschersitz und ergriff die Zügel. Der Platz neben der jungen Gräfin blieb leer.

Die Fahrt ging in tiefem Schweigen vor sich. Das Anerbieten war so einfach und selbstverständlich; die entschiedene Ablehnung wäre seltsam, ja beleidigend gewesen zwischen zwei so nahen Verwandten, aber die Unbefangenheit hatten die Beiden längst verlernt, und dies unerwartete Wiedersehen raubte ihnen den letzten Rest davon. Waldemar wendete seine Aufmerksamkeit ausschließlich den Zügeln zu, und Wanda hüllte sich fester in ihren Pelz, ohne auch nur einmal den Kopf umzuwenden.

Man stand bereits im Anfange des März, aber der Winter schien diesmal gar nicht weichen zu wollen. Kurz vor dem Scheiden ließ er noch einmal all seine Schrecken los über die arme Erde, die schon dem ersten Frühlingshauche entgegen harrte. Ein tagelang andauerndes Schneegestöber hüllte sie auf’s Neue in das weiße Leichengewand, das sie mühsam abgestreift hatte. Wieder starrte die Landschaft in Schnee und Eis, und Sturm und Kälte stritten miteinander um die Oberhand.

Der Sturm und das Schneetreiben hatten sich zwar seit heute Morgen gelegt, aber trotzdem war es ein so trüber kalter Winternachmittag, als stehe man noch im December. Die Pferde griffen kräftig aus, und der Schlitten schien auf der glatten Bahn zu fliegen, aber der eisige Hauch dieses winterlichen Märztages lag auch auf den beiden Insassen, die in ihrem Schweigen beharrten. Sie waren seit jener Stunde am Waldsee zum ersten Male wieder allein, und so düster und melancholisch jener Herbstabend auch gewesen war, mit seinem fallenden Laube und seinen wogenden Nebelgestalten, damals regte sich doch wenigstens noch das Leben der Natur, wenn auch nur im Sterben, jetzt war auch das zu Ende. Es lag eine Todtenstille auf den weiten Feldern, die sich so weiß und endlos ausdehnten. Nichts als Schnee ringsum, so weit das Auge reichte! Die Ferne verhüllte sich in trüben Nebel, und den Himmel deckte finsteres Schneegewölk, das schwer und träge dahinzog; sonst war Alles starr und todt in dieser winterlichen Oede und Einsamkeit.

Der Weg verließ jetzt das freie Feld und bog in die Waldung ein, die bisher seitwärts geblieben war. Auf dem tieferen windgeschützten Waldwege lag der Schnee so hoch, daß die Pferde nur im Schritte zu gehen vermochten. Der Führer ließ die Zügel sinken, die er bisher straff gehalten hatte, und aus den schwindelnd schnellen Fahrt wurde ein leises Dahingleiten. Die dunklen Tannen zu beiden Seiten beugten sich schwer unter der Schneelast, die sie trugen. Einer der tief herniederhängenden Zweige streifte Waldemar’s Haupt, und eine ganze Wolke von weißen Flocken ergoß sich über ihn und seine Begleiterin. Diese wendete sich jetzt zum ersten Male halb nach ihm um und sagte, auf die Bäume deutend:

„Durch solchen dichten Forst führt der Weg nach Wilicza ununterbrochen.“

Waldemar lächelte flüchtig. „Das ist mir nicht neu. Ich mache den Weg ja oft genug.“

„Aber nicht zu Fuße und bei einbrechender Dämmerung! Wissen Sie es nicht oder wollen Sie es nicht wissen, daß das eine Gefahr für Sie ist?“

Das Lächeln verschwand aus Nordeck’s Zügen und machte dem gewohnten Ernste Platz. „Wenn ich noch daran zweifelte, so würde die Kugel mich belehrt haben, die neulich, als ich von der Grenzförsterei zurück kam, an meinem Kopfe so dicht vorüberflog, daß sie mir fast das Haar streifte. Der Schütze ließ sich nicht blicken; er schämte sich vermutlich seiner – Ungeschicklichkeit.“

„Nun, wenn Sie bereits die Erfahrung gemacht haben, so ist Ihr stetes Alleinreiten geradezu eine Herausforderung,“ rief Wanda, die es nicht vermochte, ihren Schrecken bei dem Berichte vollständig zu verbergen.

„Ich reite niemals unbewaffnet,“ versetzte Waldemar gelassen, „und gegen einen Schuß aus dem Hinterhalte schützt mich keine Begleitung. Den augenblicklichen Verhältnissen in Wilicza gegenüber ist die Macht der Persönlichkeit überhaupt das Einzige, was noch wirkt. Wenn ich Furcht zeige und mich mit Vorsichtsmaßregeln umgebe, ist es zu Ende mit meiner Autorität. Wenn ich fortfahre, den Angriffen allein die Spitze zu bieten, wird man davon ablassen.“

„Und wenn jene Kugel nun getroffen hätte?“ fragte Wanda mit leise bebender Stimme. „Sie sehen doch, wie nahe Ihnen die Gefahr war.“

Der junge Mann beugte sich halb über ihren Sitz.

„Wollten Sie mich einer ähnlichen Gefahr entziehen, als Sie vorhin auf meine Begleitung bestanden?“

„Ja,“ war die kaum hörbare Antwort.

Er schien eine Erwiderung auf den Lippen zu haben, aber wie von einer Erinnerung durchzuckt, richtete er sich plötzlich wieder auf und griff fester in die Zügel, während er mit aufquellender Bitterkeit sagte:

„Das werden Sie schwerlich vor Ihrer Partei verantworten können, Gräfin Morynska.“

Sie wandte sich jetzt vollständig nach ihm um, und ihr Auge begegnete dem seinigen.

„Nein, denn Sie haben ihr offene Feindschaft angesagt. Es lag in Ihrer Hand, uns den Frieden zu bieten. Sie erklärten uns den Krieg.“

„Ich that, was ich mußte. Sie vergessen, daß mein Vater ein Deutscher war.“

„Und Ihre Mutter ist eine Polin.“

„Sie brauchen mich nicht mit diesem Tone des Vorwurfs daran zu erinnern,“ sagte Waldemar. „Der unselige Zwiespalt hat mir allzu viel gekostet, als daß ich ihn auch nur auf eine Minute vergessen könnte. Er verschuldete schon die Trennung zwischen meinen Eltern; mir hat er die Kindheit vergiftet, die Jugend verbittert und die Mutter geraubt. Sie hätte mich vielleicht geliebt wie ihren Leo, wenn ich ein Baratowski gewesen wäre wie er. Daß ich der Sohn meines Vaters war, habe ich bei ihr am schwersten büßen müssen. Wenn wir uns jetzt auch politisch gegenüberstehen, so ist das nur die Consequenz der Vergangenheit.“

„Die Sie mit eiserner Stirn durchführen,“ rief Wanda auflodernd. „Jeder Andere würde eine Aussöhnung, einen Ausgleich gesucht haben; der würde zwischen Mutter und Sohn ja doch möglich gewesen sein.“

„Zwischen Mutter und Sohn vielleicht, aber nicht zwischen der Fürstin Baratowska und mir. Sie stellte mich vor die Wahl, entweder Wilicza und mich selber willenlos ihren Interessen dienstbar zu machen, oder ihr den Krieg zu erklären. Ich habe das Letztere vorgezogen, und sie sorgt dafür, daß auch nicht einen Tag Waffenstillstand ist. Wenn es nicht noch immer den Streit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_718.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)