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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Du, Wilhelm, ich habe der armen Seele versprochen, daß ich bei Dir ein gutes Wort einlegen will. Sie war ganz auseinander, weil sie meint, Du würdest ihren Mann anzeigen. Du weißt ja selber, was für ein kümmerliches Ding sie ist, ewig krank – das Haus voll Kinder. Was sollte aus den Leuten werden, wenn sie vom Brode kommen! Nicht wahr, Du bist still? Er wird sich in Zukunft gewiß und wahrhaftig zusammennehmen.“

„Nein,“ sagte Wilhelm nachdrücklich, „davon kann keine Rede sein. Es ist nun schon das dritte Mal, daß sich der Müller grobe Fahrlässigkeit zu Schulden kommen läßt. Hier auf der Bahn handelt es sich nicht um einen Pappenstiel; wird etwas versehen, so kann es heilloses Unglück geben. Der Mann muß fort. Es ist mir leid um die Frau, läßt sich aber nicht ändern. Wäre der Bahnmeister nicht gerade außerhalb gewesen, dann hätte ich es gleich gesagt; der Kerl war noch dazu ganz unverschämt.“

„Wilhelm,“ bat die junge Frau im schmeichelnden Tone, „sei nicht so hart! Schau, die Müllerin hat mir gesagt, ich soll an unser Büble denken und deswegen für ihre Kinder bitten – das Nämliche sag’ ich Dir jetzt. Gieb nach, thu es mir zu lieb! Das arme Weib ist auf den Knieen vor mir herumgerutscht – ich hab’s gar nicht mit ansehen können vor Herzweh. Fort können die Leute nicht; das baufällige Häusle ist ihr Ein’ und Alles, und am Orte bekommt der Mann keine Arbeit.“

„Weil er ein Grobian und ein Säufer ist. Eine Zeitlang hatte er sich ordentlich angelassen; jetzt treibt er es wie zuvor, und das thut kein gut. Basta! Plage mich nicht – so etwas hingehen zu lassen, wäre gegen meine Pflicht und Schuldigkeit.“

„Das Wort ist Dein Morgen- und Abendsegen,“ rief Monika mit flammendem Gesicht. „So oft mir etwas recht am Herzen liegt, redest Du mir von Deiner Schuldigkeit. Daß Du brav sein mußt, versteht sich von selbst, aber Du übertreibst die Sachen. Man kann die Bravheit selber sein und deswegen doch ein gutes Herz haben.“

Wilhelm sah ernsthaft zu seiner Frau hinüber. „Meinst Du, ich hätte keins?“

Sie schüttelte abwehrend den Kopf. „Was redest Du da!“ sagte sie in weniger lebhaftem Tone. „Du bist gut – das weiß ich. Aber siehst Du, manchmal möcht’ es mir das Herz abdrücken, daß ich so gar nichts über Dich vermag und daß Du bei Allem und Jedem immer nur an Deine Schuldigkeit denkst, wie Du sie meinst. Gott soll mich behüten, daß ich, für mein Theil, jemals etwas Unrechtes thun oder verlangen möchte – aber mein Mann und mein Bube kommen für mich zuerst, und dann kommt erst alles Uebrige, was es sonst in der Welt giebt. Und so bist Du nicht.“

„Wie ich bin, kann ich Dir nicht sagen, wenn Du es nicht selber weißt,“ entgegnete Wilhelm nach einer kleinen Weile. „Gott ist mein Zeuge, daß ich Frau und Kind lieb habe, wie Einer.“

Monika sah mit flüchtigem Blicke zu ihm hinüber; dann erhob sie sich in ihrer raschen Weise und gab ihm einen Kuß. Die Freudigkeit, welche dem Kinde gegenüber ihr Gesicht durchleuchtet hatte, kehrte aber im Verlaufe des Abends nicht wieder bei ihr ein. Jetzt hätte, wer sie einst gekannt, die Veränderung, welche in ihren Zügen fühlbar wurde, bestimmter bezeichnen können – jene Art von Lachen, welche das junge Mädchen im Grunde ihrer Augen getragen, war aus dem Blicke der jungen Frau verschwunden.


Ein heller Morgen tagte. Die Glocken der Ortschaft läuteten zur Frühkirche; der Klang zitterte weithin durch die weiche, schon jetzt heiße Luft. Monika stand im dunkeln Kleide, das kleine Gebetbuch in der Hand, zum Ausgehen gerüstet, zögerte aber noch auf der Schwelle.

„Du nimmst Fritzel also gern mit?“ sagte sie zu ihrem Manne, der, obgleich gestiefelt und mit bedecktem Kopfe, noch im Zimmer verweilte. „Er könnte wohl mit mir gehen; nur langweilt sich das Kind in der Kirche, auch ist es schon ein bischen spät; ich muß rasch vorwärts, denn heut’, am Sterbetage meiner seligen Mutter, möcht’ ich die heilige Messe nicht versäumen; ich hab’ noch alle Jahre für die liebe Seele gebetet. Gelt, Du giebst gut auf ihn Acht?“

„Ohne Sorge!“ sagte Wilhelm. „So lang’ ich auf dem Posten sein muß, bleibt er in der Bude. Die übrige Zeit kann er in der Kiesgrube mit Steinchen spielen – das ist sein Hauptvergnügen. Er war ja schon oft mit.“

„Bring’ Dir auch Steinchen heim! Ein’n ganzen Sack voll schön blaue Steinchen, Mutterl!“ nickte der Kleine und klatschte fröhlich in die Hände.

Monika lief noch einmal zurück, das Kind zu herzen, gab ihrem Manne einen Kuß und eilte dann raschen Schrittes querfeldein, der Ortschaft entgegen. Wenige Augenblicke nachher verließen auch Vater und Kind das Haus. Während Beide den Schienenweg entlang gingen, beugte sich Wilhelm’s stattliche Gestalt alle Augenblicke zu dem plaudernden Söhnchen nieder und ließ ihn nicht von der Hand, obgleich Fritzel, dessen lebhafter Blick jedes Blümchen am nahen Rain erfaßte, oft genug loszustreben versuchte. Das unbewußte Behagen, welches uns Alle, am vollsten aber das Kind, an einem schönen Tage im Freien überkommt, sprach sich in jeder Bewegung des Kleinen aus, dem überhaupt jene besondere Süßigkeit des Lächelns, jenes reizende Geberdenspiel eigen war, das man Engelsmanieren nennen dürfte.

Noch war die neu erbaute Bahn dem Verkehre erst theilweise übergeben, und die linienhafte Regelmäßigkeit, welche fertiggestellten Bahnen eigen ist, erfuhr vorerst manche Beeinträchtigung. So befand sich hier in nächster Nähe der kleinen, zur Aufnahme der gebräuchlichen Werkzeuge und zum Unterkommen des Wärters errichteten Bude jenes tiefer liegende Kiesfeld, auf dessen Steinchen Fritzel sich schon zu Hause gefreut hatte; ein kurzes Geleisstück verband diese Grube mit den Bahnschienen, um sie während der Zwischenzeit, die keinen fahrplanmäßigen Zug brachte, den Arbeitszügen zugänglich zu machen. Zu diesem Behufe war neben der Wärterbude, hier in das durchgehende Geleise, provisorisch eine Weiche eingelegt, deren Bedienung Wilhelm Huber oblag. Er hatte dieselbe bereits für den zunächst zu erwartenden Personenzug richtig gestellt, ehe er die freie Zwischenzeit nach Eintreffen des letzten Arbeitszuges benutzt hatte, Fritzel daheim abzuholen. Nun war sein erster Gang, sich zu überzeugen, ob sich dort noch Alles in Ordnung befand; dann gab er dem Bitten und Schmeicheln des Kindes nach, sogleich mit ihm hinab in die Kiesgrube zu gehen, welche von Menschen und Wagen leer war, und gönnte es sich, dem fröhlichen Spiel Fritzel’s zuzuschauen, der mit Wonne im sonnendurchglühten Sande herumwühlte, sich aus Steinen und Holzspähnchen Häuser baute und aus seiner freudigen Kinderphantasie eine Welt erschuf.

Der in der Richtung thalauswärts erwartete Zug wurde signalisirt.

„Komm, Fritzel!“ sagte der Vater; „ich muß jetzt hinauf. Du gehst mit und guckst zum Fester hinaus.“

„Laß mich doch da, Vaterle!“ schmeichelte Fritzel und schlug die strahlenden Blauaugen bittend auf, ohne sein Spiel zu verlassen. „Das Gepfiff ist so arg, und die Wagen fahren so geschwind; ich bleib’ lieber da, als daß ich zum Fester hinausgucke. Gelt, Vaterl, Du läßt mich?“

Wilhelm warf einen raschen Blick um sich. Das Kiesfeld war um diese Zeit verlassen, der Spielplatz für das Kind so sicher, als wäre er im Gärtchen des eigenen Hauses gewesen. Von seinem Posten aus konnte der Vater den Kleinen sehen, ihm zurufen. Er nickte freundlich Gewährung, strich mit der Hand liebkosend über die blonden Löckchen und begab sich auf seinen Posten.

Noch war der nahende Zug von der unterhalb gelegenen Haltestelle aus nicht signalisirt, als ein von der entgegengesetzten Seite des Schienenweges vernehmbares Rollen den Wärter jäh herumfahren ließ. Bei dem ersten Blicke dorthin wurde Wilhelm weiß, wie ein Todtengesicht. In der Richtung von der thalaufwärts in ziemlicher Entfernung befindlichen Station sauste ein einzelner, schwerbeladener Arbeitswagen auf dem Geleise bergab. In vollem Schusse begriffen, mußte er unaufhaltsam die kurze, nahe Station durchjagen und jenseits derselben mit dem unterwegs befindlichen Zuge zusammenprallen.

Eine Secunde lang ging es über Wilhelm’s Auge hin, wie eine Wolke. Er sah nichts mehr, weder das heranrollende Verhängniß, noch sein spielendes Kind. In der nächsten Secunde zuckte es durch sein Gehirn, scharf und jäh. Ohne Besinnen

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