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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


lebendige Bergstrom, welcher sie durchschneidet, schien der ganzen Umgebung seine eigene Frische mitzutheilen. An beiden Ufern desselben dehnte sich, durch eine steinerne Brücke verbunden, eine freundliche Ortschaft in der Thalerweiterung hin. Es begann schon zu dunkeln, als eine junge Frau, den gefüllten Henkelkorb am Arme, flinken Fußes die Brücke überschritt und sich der am rechten Ufer gelegenen Häuserreihe zuwandte, welche der Bahnlinie entgegenführte. Als sie eben im Begriffe war, an der letzten, einzeln gelegenen und dürftigen Behausung vorbeizuschreiten, rief ihr von drinnen eine Stimme durch das Fenster zu: „Huberin! Warte Sie nur einen Augenblick, Huberin!“

Der angstvolle Ton, womit Monika gerufen wurde, hemmte ihren eiligen Schritt. Sie wandte den Kopf verwundert, nach dem Hause zurück, unter dessen schiefer Thür ein ärmlich gekleidetes Weib erschien, das hagere Gesicht in Thränen gebadet, die Hände winkend und bittend erhoben. „Um Jesu willen, komm’ Sie herein! Ich muß mit Ihr reden – jetzt gleich, noch heut’ muß es sein. Die heilige Muttergottes selbst schickt Sie des Weges, daß ich mit Ihr allein reden kann. Sie muß uns helfen in unserem Elende.“

„Was ist denn passirt?“ fragte die junge Frau gutherzig, indem sie das niedrige, von einem dunstigen Oellämpchen schwach erhellte Zimmer betrat, wohin sie die Andere an den Rockfalten zog. Auch dort angelangt, hielt die Andere sie noch fest, als besorgte sie ihr Entrinnen. „Ist eines von den Kindern krank? Oder hat’s sonst ein Unglück gegeben?“

„O Du mein blutiger Heiland! Freilich hat es ein Unglück gegeben. Hat Ihr denn Ihr Mann nicht gesagt, was mein alter Tolpatsch wieder angestellt hat?“

„Nichts weiß ich, gar nichts,“ sagte Monika. „Ich habe meinen Mann seit Mittag nur eine Minute gesehen; er war draußen bis zur Ablösung, und als er heimkam, hab’ ich nur gefragt, ob er jetzt zu Haus bei dem Kinde bleiben könnte, weil ich nothwendig in den Ort mußte, um einzukaufen, und hab’ mich dann getummelt, fortzukommen. Uebrigens redet mein Mann überhaupt nicht viel, von Dienstsachen schon gar nicht. Was giebt es denn eigentlich?“

„Mein Alter wird fortgejagt, und dann können wir Alle am Hungertuche nagen,“ jammerte das Weib. „Wenn der Bahnwärter auch nicht viel redet, so wird Sie doch schon von ihm erfahren haben, daß der Bahnmeister Meinem nicht grün ist und daß es schon mehr als einmal Verdruß gesetzt hat. Freilich war immer Ursach’! Mein Alter ist der Bravste und Fleißigste, den es giebt, hat er aber einen Tropfen über den Durst getrunken, dann macht er Dummheiten. Seit ihm so scharf auf den Dienst gepaßt wird, ist er ganz ordentlich gewesen, nun denke Sie aber, was heut’ passiren muß! In der Früh’ ist der Wochenlohn ausgezahlt worden – da geht er hin und versäuft ein paar Batzen. Und Nachmittags läßt er im Dusel sein Geräth am Geleise liegen, und wie ihn der Bahnwärter deswegen hernimmt, wird er grob. Dafür soll er aus der Rotte fort, und geschieht das, dann sind wir geschlagene Leute. Wovon sollen wir leben mit den fünf Würmern, wenn der Müller die Arbeit auf der Bahn einbüßt? Erbarmt Sie sich nicht, Huberin, dann geh’ ich in’s Wasser, wo es am tiefsten ist.“

„Ja, was kann ich da helfen?“ sagte Monika mitleidig. „Sie dauert mich bis in die Seele hinein, aber ich seh’ nicht, was da zu machen wär’.“

„Fürbitten kann Sie. Ein gutes Wort kann Sie für uns einlegen, daß der Bahnwärter meinen Alten nicht anzeigt. Meiner hat sich hoch und theuer verschworen, daß kein unrechter Tropfen mehr in seine Kehle soll. Laßt uns nicht im Stiche, Frau! Die Mutter Gottes wird’s vergelten.“

Monika schüttelte betrübt den Kopf. „Das kann nichts nützen, Müllerin; mein Mann ist gut, in solchen Sachen nimmt er aber keine Einreden an.“

„Müssen wir elend umkommen, weil mein Alter eine Unglücksstunde gehabt hat? Frau, Frau, denke Sie an Ihren kleinen Buben und erbarme sich meiner armen Würmer! Sie hat ja allzeit ein gutes Herz für uns gehabt, ist mir noch neulich in dem harten Kindbette beigesprungen. Auf Sie hab’ ich meine letzte Hoffnung gesetzt, nächst den lieben Heiligen. Sie fiel schluchzend auf die Kniee und drückte ihr Gesicht in Monika’s Gewand.

„Um Gotteswillen, seid still!“ sagte die junge Frau, tief athmend; „ich will’s probiren; vielleicht glückt es doch. Steh’ Sie nur vom Boden auf! Ich versprech’, daß ich meinem Manne aus allen Kräften zureden will. Und jetzt laßt mich heim! Es wird finstere Nacht. Morgen früh geh’ ich in die Kirche, dann sag’ ich Ihr, was ich ausgerichtet hab’.“

„Gott vergelt’s!“ sagte das Weib getröstet, und ihr kummervolles Auge hing fest an der Gestalt der jungen Frau, während sie ihr hinausleuchtete. Als sich Monika unter der Thür mit einem letzten Nicken zurückwandte, fiel der Lampenschein hell auf ihr Gesicht; es war länglicher geworden, seit uns die glückliche Braut aus den Augen verschwand; dem Ausdrucke der Züge hatte sich eine Veränderung aufgeprägt, die übrigens schwer zu bezeichnen wäre, denn heute wie damals blühte die schönste Jugendlichkeit daraus hervor. Vielleicht war es nur ihre Mütterlichkeit, welche den schalkhaften Blick zum sinnenden verwandelt hatte.

Sie eilte raschen Schrittes den Weg entlang, der Bahnlinie entgegen, deren im Abenddunkel verschwindende Spur durch das in einiger Entfernung von der Ortschaft gelegene Wohnhaus des Bahnwärters um so deutlicher bezeichnet wurde, als dasselbe von innen hell beleuchtet war.

Schon im Begriffe, die eben erreichte Hausthür aufzuklinken wandte sich Monika mit rascher Biegung seitwärts nach dem erhellten Fenster zur Linken des Eingangs und drückte ihr Gesicht gegen die Scheiben. Wer zugleich mit ihr hineingeschaut hätte, würde es begreiflich gefunden haben, daß sie den Platz minutenlang nicht verließ; das Innere des kleinen Wohngemaches, welches sie überschaute, bot das freundlichste Bild.

Die schlichten Möbel, welche den hellgetünchten Wänden entlang standen, das auf ein paar Regalen geordnete Hausgeräth blitzten von Sauberkeit. Neben dem weißgescheuerten Tische, der die Lampe trug, saß der Hausvater, welcher ein etwa dreijähriges Kind auf seinen Knieen reiten ließ. Wilhelm Huber’s Gesicht war ebenso lachend wie das des kleinen Buben, der in hellem Jauchzen bald die beiden Aermchen in die Luft warf, bald die kleinen Hände in den dichten Vollbart des Vaters wühlte. Während Wilhelm’s Knie auf und nieder segelte, pfiff er die Melodie eines Marsches; sein linker Arm hielt das rundliche Kind umfaßt, dessen Seidenhärchen den stets in Bewegung erhaltenen Kopf umflatterten. Beide waren so erfüllt von ihrem Spiele, daß sie kein Auge voneinander wandten, bis der Finger der Lauscherin lebhaft gegen die Scheiben trommelte. Das Blondköpfchen fuhr herum wie ein Blitz, und die strahlenden Augen trafen ihr eigenes Spiegelbild.

„Mutterle! Mutterle!“ Der Jubellaut war noch kaum verklungen, als der lebhafte Kleine schon vom Schooße des Vaters niedergeklettert war, um dem Fenster und von dort der Thür zuzulaufen, auf deren Schwelle die junge Frau im nächsten Augenblicke kauerte und dem Lieblinge beide Arme entgegenstreckte. Das Kind war der Mutter wie aus den Augen geschnitten. Sie fing es auf, hob es in die Höhe, tänzelte mit ihm durch das Zimmer, Wange an Wange geschmiegt, und ließ es dann wieder auf den Boden gleiten, um zu ihrem Armkorbe zu laufen und sich dem zappelnden, jauchzenden Buben leuchtenden Auges zuzuwenden, in der einen Hand einen Johannisbeerzweig voll rother Früchte und grüner Blätter, in der andern ein mürbes Brödchen, zwischen den Lippen ein schrillendes Pfeifchen – ganz und gar, bis in jedes Haar ihrer Augenwimpern die alte Monika! Der Kleine reckte beide Arme nach den mitgebrachten Schätzen, begegnete aber nur lachendem Kopfschütteln. „Erst aufsagen! Kannst Du’s noch, Fritzel?“

Ein verdutzter Ausdruck huschte über das glückselige Kindergesicht; die dunkeln Wimpern flatterten einen Moment auf und nieder, dann theilte sich das kirschrothe Mündchen so weit, daß der ganze Vorrath kleiner Milchzähne zum Vorscheine kam. Fritzel ballte seine dicken Fäustchen, stellte sich stramm auf die Beine und ließ sich vernehmen:

„I bin a kleiner Pumpernickel;
I bin a kleiner Bär,
Und wie mi Gott erschaffen hat,
So trampl’ i halt daher.“

„Er kann’s wirklich noch. O Du Herzensschatz! Jetzt kriegst Du auch Alles, was ich Dir mitgebracht hab’.“ Sie hob das

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 700. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_700.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)