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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Mädchen sich freundlich erbot, den Vater benachrichtigen zu lassen, und zu diesem Zwecke nochmals hinausging.

Sie hatte soeben eine der beiden Mägde fortgesandt und war im Begriff, in das Zimmer zurückzukehren als zu ihrer größten Verwunderung der Assessor in dem matt erleuchteten Hausflur erschien und sich eilfertig erkundigte, ob bereits nach dem Herrn Administrator geschickt sei. Gretchen bejahte.

Der Assessor trat dicht an sie heran und sagte im Flüsterton: „Fräulein Margaretha – das sind sie.“

„Wer?“ fragte sie überrascht.

„Die beiden Verdächtigen. Ich habe sie. Sie sind in der Falle.“

„Aber Herr Assessor, das sind doch nun und nimmermehr Polen,“ warf das junge Mädchen ein.

„Es sind die beiden Individuen, die vorhin in der Extrapost an mir vorüberfuhren,“ versetzte er hartnäckig. „Dieselben, die sich später in so verdachterregender Weise benommen haben. Jedenfalls werde ich meine Maßregeln treffen; ich werde inquiriren, nöthigenfalls verhaften.“

„Aber muß denn das gerade in unserem Hause sein?“ fragte das junge Mädchen in sehr ungnädigem Tone.

„Die Pflicht meines Amtes!“ sagte der Assessor mit Würde. „Vor allen Dingen gilt es, den Eingang zu sichern und etwaige Fluchtversuche zu hindern. Ich werde die Hausthür abschließen.“ Er drehte wirklich den Schlüssel um und zog ihn ab.

„Aber was fällt Ihnen denn ein?“ protestirte Gretchen. „Papa kann ja nicht in’s Haus, wenn er zurückkommt.“

„Wir stellen die Magd an die Thür und geben ihr den Schlüssel,“ flüsterte der kleine Herr, der in einen fieberhaften Amtseifer gerathen war. „Sie öffnet, sobald Herr Frank kommt, und ruft dann gleich die Knechte herbei, um die Thür zu besetzen. Wer weiß, ob die Delinquenten sich gutwillig fügen!“

Gretchen war und blieb mißtrauisch. „Aber woher wissen Sie denn, daß es überhaupt Delinquenten sind? Wenn Sie sich nun irren?“

„Fräulein Margaretha, Sie haben keinen Polizeiblick,“ erklärte der Assessor mit Ueberlegenheit. „Ich verstehe mich auf Gesichter, und ich sage Ihnen, es sind die echtesten, ausgeprägtesten Verschwörerphysiognomien, die mir je vorgekommen sind. Mich täuscht man nicht, und wenn man auch ein noch so reines Deutsch spricht. Ich werde vorläufig nur inquiriren, bis Herr Frank erscheint. Es ist freilich gefährlich, solche Menschen ahnen zu lassen, daß sie entdeckt sind, zumal wenn man allein mit ihnen ist, sehr gefährlich, aber die Pflicht gebietet es.“

„Ich gehe mit Ihnen,“ versicherte Gretchen beherzt.

„Ich danke Ihnen,“ sagte der Assessor in einem so feierlichen Tone, als habe sich das junge Mädchen mindestens entschlossen, mit ihm zum Schaffot zu gehen, „und nun lassen Sie uns handeln!“

Er rief die Magd herbei, gab ihr die betreffenden Weisungen und kehrte dann in das Zimmer zurück. Gretchen folgte ihm; sie war von Natur ziemlich tapfer und sah daher der Entwickelung der Sache mit ebenso viel Neugier wie Besorgniß entgegen. Die beiden Fremden hatten offenbar keine Ahnung von dem drohenden Ungewitter, das sich über ihren Häuptern zusammenzog, schienen sich vielmehr in vollkommener Sicherheit zu wähnen. Der Jüngere, eine auffallend hohe Gestalt, der seinen Gefährten fast um Kopfeslänge überragte, ging mit verschränkten Armen auf und nieder, während der Aeltere, eine schmächtige Figur mit blassen, aber angenehmen Zügen, den angebotenen Platz eingenommen hatte und ganz harmlos im Lehnstuhle saß.

Der Assessor warf sich in die Brust. Die Ueberzeugung von der Wichtigkeit des Momentes und das Bewußtsein, vor den Augen seiner zukünftigen Braut zu operiren, hatten etwas Erhebendes für ihn. Er sah aus wie das personificirte Weltgericht, als er vor die beiden „Individuen“ hintrat.

„Ich habe mich den Herren noch nicht vorgestellt,“ begann er, vorläufig noch den Ton der Höflichkeit festhaltend. „Regierungsassessor Hubert aus L.“

Die Beiden waren jedenfalls keine Neulinge mehr in der Verschwörung, denn sie erbleichten nicht einmal bei Nennung dieser amtlichen Eigenschaft. Der ältere Herr erhob sich, machte eine stumme, aber sehr artige Verbeugung und nahm dann wieder seinen Platz ein. Der jüngere dagegen neigte nur leicht das Haupt und sagte nachlässig: „Sehr angenehm.“

„Dürfte ich nun auch meinerseits um die Namen der Herren bitten?“ fuhr Hubert fort.

„Wozu das?“ fragte der junge Fremde gleichgültig.

„Ich wünsche sie zu kennen.“

„Ich bedaure – wir wünschen nicht, sie zu nennen.“

Der Assessor nickte mit dem Kopfe, als wollte er sagen: Das habe ich mir gedacht. „Ich bin bei dem Polizeidepartement in L. angestellt,“ betonte er.

„Eine sehr schätzenswerthe Stellung,“ meinte der Fremde, dabei aber glitt sein Blick mit beleidigender Gleichgültigkeit über den Beamten hin und blieb auf dem jungen Mädchen haften, das sich in die Nähe des Fensters zurückgezogen hatte.

Hubert war einen Moment lang verblüfft. Das mußten hartgesottene Verschwörer sein, auch die Erwähnung des Polizei-Departements vermochte es nicht, ihnen ein Zeichen des Schreckens zu entlocken, und doch mußte sie ihnen nothwendig eine Ahnung ihres Schicksals geben. Aber man hatte Mittel, diese Verstocktheit zu brechen; das Verhör wurde fortgesetzt.

„Sie fuhren vor etwa zwei Stunden in einer Extra-Postchaise an mir vorüber?“

Diesmal antwortete der jüngere Fremde gar nicht; die Sache schien ihn zu langweilen, der ältere aber erwiderte höflich: „Gewiß, wir haben Sie gleichfalls in Ihrem Wagen bemerkt.“

„Sie verließen aber die Chaise auf der letzten Station und gingen zu Fuße weiter. Sie wollten ausgesprochenermaßen nach Wilicza –; Sie vermieden die Landstraße und schlugen einen Seitenweg quer über die Felder ein.“ Der Assessor war wieder ganz Weltgericht, als er diese Anklagen, eine nach der anderen, in wahrhaft vernichtender Weise herausschleuderte, und sie blieben diesmal nicht ganz wirkungslos. Der ältere der Verschwörer begann unruhig zu werden, der jüngere dagegen, den der „Polizeiblick“ des Beamten sofort als den Gefährlichsten herausgefunden hatte, trat rasch an den Stuhl seines Begleiters und legte den Arm wie schützend auf die Lehne.

„Wir haben überdies noch unsere Paletots angezogen, als es anfing kühl zu werden, und im Posthause ein Paar Handschuhe vergessen,“ entgegnete er mit unverhehlter Ironie. „Wollen Sie nicht diese beiden Thatsachen Ihren interessanten Notizen über unser Thun und Treiben hinzufügen?“

„Mein Herr, man spricht nicht in solchem Tone mit einem Vertreter der Regierung,“ rief Hubert gereizt.

Der Fremde zuckte statt aller Antwort die Achseln und wandte sich nach dem Fenster.

„Mein Fräulein, Sie ziehen sich so vollständig zurück. Wollen Sie uns nicht durch Ihre Gegenwart von der unerquicklichen Unterhaltung dieses Herrn befreien?“

Der Assessor ergrimmte in gerechtem Zorne; diese Keckheit ging ihm denn doch zu weit, und da der Administrator jeden Augenblick eintreten mußte, so ließ er die bisherige Vorsicht fahren und versetzte in hohem Tone:

„Ich fürchte, es steht Ihnen noch manches Unerquickliche bevor. Zuvörderst werden Sie mir Ihre Namen nennen, Ihre Papiere ausliefern – ich fordere das; ich bestehe darauf. Mit einem Worte: Sie sind verdächtig.“

Das schlug endlich ein. Der blasse Herr fuhr mit allen Zeichen des Schreckens empor. „Um Gotteswillen!“

„Aha, regt sich das Schuldbewußtsein endlich?“ triumphirte Hubert. „Sie haben gleichfalls gezuckt,“ wandte er sich an den Anderen, gebieterisch an ihm in die Höhe blickend. „Leugnen Sie nicht! Ich habe ein Zucken in Ihrem Antlitze gesehen.“

Es war allerdings ein ganz eigenthümliches Zucken gewesen, das bei dem Worte „verdächtig“ um den Mund des jungen Mannes flog, und es wiederholte sich jetzt in noch stärkerer Weise, als er sich zu seinem Begleiter herabbeugte.

„Aber weshalb machen Sie der Sache nicht ein Ende?“ fragte dieser leise und bittend.

„Weil sie mir Spaß macht,“ war die ebenso leise Antwort.

„Hier wird nicht geflüstert!“ fuhr der Assessor dazwischen. „Keine neue Verschwörung in meiner Gegenwart, das bitte ich mir aus. Noch einmal: die Namen – wird man mir nun antworten?“

„Ja so!“ sagte der junge Fremde, sich wieder emporrichtend. „Wir sind also in Ihren Augen Verschwörer?“

„Und Hochverräther,“ ergänzte Hubert mit Nachdruck.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 579. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_579.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)