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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Ein Besuch bei George Sand.
Von Gottlieb Ritter.
(Schluß.)


„Mit den dramatischen Charaden begannen wir unsere langen Winterabende zu tödten,“ fuhr George Sand in ihrer Erzählung fort. „Dann kamen die Pantomimen, die Chopin bei uns einführte. Er improvisirte am Piano, während unsere jungen Leute auf der Bühne seine Inspirationen in Mimik umsetzten und komische Ballete dazu tanzten. Jetzt agiren unsere Marionetten, die mein Sohn zeichnet, malt und spielen läßt, während ich und meine Tochter für die Costüms sorgen.“

Maurice Sand ist ein talentvoller Maler, der sich auch als Schriftsteller einen guten Namen gemacht hat. Er schrieb mehrere Romane, einige naturwissenschaftliche Werke und ein sehr dankenswerthes Buch über die Commedia dell’ arte, das er selbst reizend illustrirte. Sein Atelier befindet sich im Schlosse neben demjenigen seines Schwagers Clesinger, der ein geschätzter Bildhauer ist.

„Mein Maurice,“ sagte mir George Sand, „gleicht ganz seiner Mutter. Er hat ein heftiges und empfindliches Herz, das immer in Flammen stehen muß, wenn es nicht zu Grunde gehen soll. Er theilt auch meine Theaterliebhaberei. In Paris besaß ich noch vor Kurzem ein Absteigequartier, wo ich oft wochenlang blieb. Jeden Abend besuchten wir irgend eine Schaustellung, doch zog ich immer die naivsten Stücke, die Pantomimen, die Feerien dem gediegensten Drama vor. Nicht selten besuchte ich die Folies-Bergère.“

Ich machte ein erstauntes Gesicht bei Nennung dieser zweideutigen Singspielhalle; sie bemerkte es, aber fuhr unbekümmert fort:

„In einer Loge wohl versteckt und hinter einem Vorhange, der mich den Blicken der Zuschauer ganz entzog, unterhielt ich mich köstlich an jenen Tänzen und Spielen, wo volksthümliche Komik herrscht und Maulschellen und Fußtritte für den Knalleffect sorgen. Gott hat mir eben die Wohlthat kindlicher Freude gelassen: ich bewundere, lache, wundere mich und lebe das Leben Anderer mit, wie die Kinder es zu thun pflegen. Das Wort Langeweile existirt nicht für mich.“

Uebrigens mangelte der berühmten Frau, trotz dieser ausgesprochenen Vorliebe, jedes intensivere Talent für das Theater, obschon sie eine große Anzahl von Stücken geschrieben und mit zwei oder drei davon nachhaltige Erfolge errungen hat. Ihr Talent war für die Novelle so viel, für das Drama so wenig wie möglich geeignet. Getreu ihrem Vorbilde Rousseau, diesem Apostel des Gefühls, glänzte sie durch ihr beschreibendes Kunstvermögen, aber das Theater verlangt Handlung und Charakter und weiß mit der bloßen Inscenesetzung von Gefühlen blutwenig auszurichten. Dazu kommt noch, daß die Mehrzahl ihrer Schauspiele dramatisirte oder besser gesagt: dialogisirte Romane oder Novellen sind und ihren Ursprung nur zu sehr verrathen.

„Weil ich mein Lebtag herzlich wenig von der Dramenmache begriffen habe,“ gestand sie mir, „so verband ich mich bei der Theatralisirung meiner Schriften nicht ungern mit einem Mitarbeiter. Paul Maurice z. B. hat einige Stücke mit mir unterzeichnet. Weniger bekannt dürfte sein, daß Alexander Dumas Fils mir bei meinem erfolgreichsten Stück, dem ‚Marquis de Villemar‘, geholfen hat. Ohne seine Mitarbeiterschaft wäre mir der Wurf wohl schwerlich gelungen. Energie im Führen der Handlung und Schlagfertigkeit im Dialag, die sich in diesem Stücke finden, sind nicht meine Tugenden.“

Welche übergewaltige Anziehungskraft muß das Theater auf den modernen Schriftsteller ausüben, wenn sogar ein solches Talent, das sich über seine Grenzen keiner Täuschung hingiebt und auf anderem Gebiete die größten literarischen Erfolge der Neuzeit errungen hat, sich doch immer und immer wieder der verlockenden Bretterwelt zuwendet! George Sand machte mir das Geständniß, daß sie zur Zeit außer an angefangenen Romanen an zwei großen Dramen arbeite. Dies Alles ist unvollendet geblieben, weil ihr der Tod die Feder aus der Hand nahm.

Als wir unter solchen Gesprächen durch den Park gingen und den Küchengarten streiften, zeigte sie mir einem kleinen mit Tannen bewachsenen Hügel, deren Aeste bis über die Gartenmauer hinausreichen und ein Familiengrab beschatten. Es ist der Gemeindekirchhof, und die Eltern und zwei Enkelinnen der Dichterin ruhen dort.

„Dort drüben werde auch ich einmal schlafen,“ sagte sie mir. „Vielleicht bald; vielleicht läßt mich der Himmel noch ein wenig den Meinigen, denen ich nützlich sein kann. Auch möchte ich vorher noch so Vieles vollenden. Nicht daß ich so thöricht wäre, mich vor dem Tode zu fürchten, aber ich bin trotz meines hohen Alters frisch und rüstig genug, um noch ein Weilchen bei meiner Familie, meinen Dorfgenossen, meinen Blumen und meinen Vögeln zu bleiben.“

Arme George Sand!

Ja, die arbeitsame Frau, die erst im Tode ausruhen sollte, und doch Zeit und Stimmung fand, mit Blumen und Vögeln wie ein Kind zu spielen, schied ungern von dieser Welt, wo sie so viel Liebes zurückließ. Schon die Vögel! Durch ihre Mutter Enkelin eines Vogelhändlers, bestand ein geheimer Zauber zwischen ihr und der gefiederten Welt. Wie Goethe’s Lili oder die Heldin in ihrem „Teverino“, besaß sie die magische Kraft, die kleinen Sänger anzulocken und zu sich zu rufen; dann kamen sie von allen Seiten herbei und setzten sich vertraulich auf ihren Kopf, ihre Schultern oder ihre ausgestreckte Hand. Sie selbst hat es in der „Geschichte meines Lebens“ erzählt; man lese dort nur über Jonquille und Agathe, ihre angebeteten Hänflinge! –

Der Abend vereinigte die bleibenden und vorübergehenden Bewohner des Schlosses von Nohant, wie gewöhnlich, beim Diner. Eine Viertelstunde genügte der Poetin zur Toilette, welche einfach und dunkel, aber immer sorgfältig war. Dann begab sich die Gesellschaft in den Salon, der so echt bürgerlich aussieht. Einige Portraits großer Zeitgenossen zieren die Wände. Stühle, Tischchen und Fauleuils überall; ein Flügel und ein Pianino, worüber eine Pendüle aus der Rococo-Zeit; gegenüber das Kamin mit riesenhaftem Schirm davor und Lampen und Vasen auf dem Bord. Das sah Alles so gemüthlich, so heimlich aus. Nun gruppirte sich die Gesellschaft um den großen Tisch; George Sand und ihre Tochter und Schwiegertochter strickten, stickten und nähten, und während die Unterhaltung sich bald mit größerer, bald mit geringerer Lebhaftigkeit über alle möglichen Gegenstände verbreitete, nahmen die Damen des Hauses lebhaften Antheil an dem Salongeplauder. Sogar George Sand ergriff mehrmals das Wort, obwohl sie mehr zum Sprechen aufmunterte, als selber sprach. Ihre Einwürfe waren meist kurz, fast epigrammatisch klar und scharf und trafen immer den Kern der Sache; oft schlug sie auch eine helle Lache auf, wenn die Herren zu eifrig, zu heftig wurden. Ja, als – natürlich wegen der leidigen Politik – ihr Sohn und ein junger Pariser Journalist in Hitze geriethen und die Stimmen in aufregender Weise erhoben, da setzte sie sich unvermerkt an das Clavier und brachte mit dem kräftig angeschlagenen Tannhäuser-Marsch die streitenden Parteien zum Schweigen. O, süßer Zauber der Musik!

Wer die Stellen über die Tonkunst in der unter Chopin’s Einfluß geschriebenen „Consuelo“ kennt, weiß wohl, welch’ tiefes Verständniß George Sand in musikalischen Dingen besaß. So wenig Sympathie sie als echte Französin in ihren letzten sechs Lebensjahren für Deutschland und alles Deutsche empfand – wie sie denn auch in ihrem hyperpatriotischen Tagebuch aus der Kriegszeit von 1870/71 das Ihrige zur Verbreitung der Pendulenfabel beigetragen hat – so war sie doch immer so geschmackvoll, das neutrale Gebiet der Kunst von nationalen Voreingenommenheiten rein zu halten. Neben Chopin, mit dem sie einst innige Herzensbande verknüpft, waren es namentlich die Meister der deutschen Musik, für welche sie leidenschaftlich schwärmte. Am liebsten phantasirte sie über Mozart, Beethoven, Schumann, Mendelssohn, gönnte aber auch den Zukunftsmusikern das Wort.

„Ich liebe die unmittelbare Musik,“ sagt sie, „jene, die plötzlich wie ein uferloser Strom mit unbezwinglicher Naturgewalt aus der Seele quillt, die ganz Gefühl, Phantasie, Conception ist, die wilde Musik, wenn ich sie so nennen darf, weil sie keine Convention kennt und doch Harmonie und Wohllaut

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 536. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_536.jpg&oldid=- (Version vom 5.2.2020)