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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Eine wiedergeborene Stadt.
Von Schmidt-Weißenfels.


Kaum zehn Jahre sind es her, daß ich zum ersten Male nach Constanz kam. Eines schönen Sommermorgens stieg ich mit noch vielleicht einem halben Dutzend Menschen aus dem Eisenbahnwaggon, der mich von Schaffhausen an die berühmte Stadt am Bodensee gebracht, und drei Minuten darnach waren die anderen sechs Lebendigen verschwunden, ein Packknecht fuhr mit einem Rollwagen davon, und rings um mich herrschte Stille und Oede. Wie wenn die Locomotive nur noch bis hierher Lebenskraft gehabt, stieß sie ihre letzten Athemzüge aus und stand nun wie todt an dem erstarrten Schlangenleib der wenigen Waggons. Kein Mensch war sichtbar und ein unheimliches Gefühl beschlich mich. Verlassen und verwaist kam ich mir vor. Der Bahnhof war ein armseliger, schuppenartiger Bau, aus dem Jeder wieder entflohen, wer bei der Ankunft des Zuges dort etwas zu thun gehabt. Die Eisenbahn hatte eben hier ihr Ende und es schien dies das Ende alles menschlichen Verkehrs zu sein. Dicht dabei lag in der Bucht ein Dampfschiff, mit welchem ich die Fahrt über den See machen wollte, aber noch rührte sich nichts auf seinen Planken. Ueber die herrliche blaue Fläche des schwäbischen Meeres schweifte der Blick, ohne eine Spur von Leben wahrzunehmen. Dort über St. Gallen der majestätische Sentis mit einem leuchtenden Schneemantel um Schultern und Brust; tief hinten die prächtige, zackige Felswand der Bregenzer Berge – ein entzückendes Panorama, dessen Anblick ich eine Weile in vollständiger Einsamkeit wie ein an diese Stelle verwunschener Sterblicher genoß.

Endlich raffte ich mich auf, um während der Zeit bis zur Abfahrt des Dampfers durch die Stadt zu schlendern und ihre Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen. Da umfing es mich gleich nach wenigen Schritten wie mittelalterliche Geisterwelt. Alte, große, hohe Häuser; lange Mauern, die ein Kloster umschlossen, ein wunderlicher architektonischer Zierrath hier, ein massiger Thurm dort, Bogengänge und gothische Portale, mächtige Giebel und Erker, alte Kirchen und weite, hallenartige Hausfluren: das war das echte Steinbild einer Stadt aus dem fünfzehnten Jahrhundert, aber eben nur ein Steinbild. Menschenleer waren die Straßen, und was hinter diesen Mauern, in diesen großen, stattlichen Häusern lebte, mochte unter der brütenden Mittagssonne Siesta halten. Kaum hin und wieder am Fenster eines Erdgeschosses ein neugieriges Gesicht, das den das Pflaster zum Echo seiner Schritte aufrufenden Fremden musterte. Eine große, eine weitläufige, geräumige Stadt, doch wie ausgestorben, wie ein riesiges Kloster, still, innerlich heruntergekommen, ohne industrielle Thätigkeit, ein bischen Kramwerk hier und da in einzelnen geschlossenen Läden, auffällig zuweilen in der Hauptstraße ein paar Schaufenster mit ausgelegten Waaren, die auch mehr an Vergangenheit als Gegenwart mahnten.

Wohl ungestört ließ es sich auf dieser einsamen Wanderung träumen von der mittelalterlichen Zeit, in welcher Constanz oder Costnitz eine der vornehmsten unter den süddeutschen Städten war, eine alte kaiserliche Pfalz vordem, wo Karl der Große residirt, Karl der Dicke gestorben, wo Arnulf und der erste Konrad, die Ottonen und Friedrich Rothbart einst ihren Hof zu manchen Malen gehalten. Und bald hier und bald dort rief eine Inschrift an einem der Gebäude mir die denkwürdigen Vorgänge während des großen Concils von 1414–1418 in’s Gedächtniß, jenes ersten europäischen Congresses, mit welchem die Geschichte von Constanz ihren Höhepunkt erreichte und von wo an diese Stadt fortan wie aus dem Leben gestrichen war, wie verdammt zum jahrhundertlangen Siechthum, äußerlich erstarrt und doch nicht begnadet, eine Ruine zu werden, aus welcher neues Leben sprießt.

In jenem Hause der Paulsstraße hat Johann Huß gewohnt, als er, kaiserlichem Wort vertrauend, nach Constanz zum Concil gekommen war, um seine Lehre zu rechtfertigen; in jenem ehemaligen Dominikanerkloster saß er gefangen durch den Fanatismus seiner Prager theologischen Feinde; eine Messingplatte im Dom zeigt die Stelle an, wo ihm, dem vom Kaiser Verrathenen, das Todesurtheil der Cardinäle verlesen wurde; draußen im Baumgarten ist der Ort, wo er auf dem Scheiterhaufen und ein Jahr nach ihm sein edler Mitstreiter Hieronymus von Prag seinen Märtyrertod fand.

Hier wieder war es, wo der elende Papst Johann der Dreiundzwanzigste seine Wohnung genommen, als er auf einige Monate zum Concil sich eingefunden hatte, ein ehemaliger Seeräuber, der mit sechszehnhundert Leibwächtern und seinen Maitressen gekommen war, um das „Wohl der Kirche“ mit dem Kaiser und siebenhundert Prälaten der vier großen Nationen zu berathen. „Sic capiuntur vulpes,“ sagte er, als er vom Gebirge herab nach Constanz hinunterblickte, „so werden die Füchse gefangen.“ Und der Fuchs entwischte deshalb bald darauf in heimlicher Flucht dem Concil. Am Eckhause dort beim See mahnt eine Inschrift daran, daß in seinem Raume nach der Absetzung des blutschänderischen Papstes Johann und seiner beiden Nebenbuhler, Gregor’s des Zwölften und Benedict’s des Dreizehnten, der neue Oberhirt der Christenheit, Martin der Fünfte, gewählt wurde.

In jenem Gebäude wieder war es, wo Kaiser Sigismund, der schöne blondlockige Luxemburger, der fünf Kronen auf seinem Haupt vereinigte und doch nur ein kläglicher König war, seine Residenz zur Zeit des Concils gehabt, wo er seinen geliebten Reichsvicar Friedrich den Sechsten, Burggrafen von Nürnberg, 1415 feierlich mit der Mark Brandenburg und 1417 mit der erblichen Kurwürde belehnte und damit in den Boden der heruntergekommenen und fortan mehr und mehr abwirthschaftenden deutschen Reichsherrlichkeit den Stamm pflanzte, dessen Blätterkrone nach Jahrhunderten von der Spree sich über die deutschen Lande bis an deren Grenzen nach dem Bodensee ausbreiten sollte. Und dort das alte, graue, hochgiebelige Haus am See, einem großen Speicher ähnelnd, es birgt den Saal, in welchem das große, denkwürdige Concil seine Sitzungen hielt, wo es sich als höher denn der Papst erklärte und nicht ihm, sondern sich den Charakter der Unfehlbarkeit beilegte, wo es so kräftigen Ansatz zur Reformation der Kirche nahm, um freilich alle Erwartungen davon schließlich zu täuschen.

Haus um Haus dieses alten Constanz könnte von jenen Tagen erzählen; wohl in jedem hat Einer oder der Andere von der ungeheuren Zahl der Fremden gewohnt, die während des Concils hier zusammenströmte und von der der Canonicus Ulrich Reichenthal in seinem „Diarium“ getreulich berichtet, „wie die Herren Geistlich und Weltlich eingeritten seyn und mit wieviel Personen“. Da waren außer dem Papst, der floh und abgesetzt wurde, und dem, der hier neu gewählt wurde, Patriarchen und Cardinäle, an zweihundert Erzbischöfe und Bischöfe und an sechshundert sonstige geistliche Würdenträger mit einem Gefolge von zehntausend sechshundert Personen; dazu fünftausend Priester und päpstliche Secretäre, Universitätsdeputirte, Doctoren der Theologie, der Rechte, der Medicin, tausend Magister der freien Künste, insgesammt wieder mit einem Gefolge von achttausend Menschen. Zu so viel Geistlichen nicht minder zahlreich Weltliches an Kaiser und Herzögen, Grafen, Fürsten und Rittern, deren Gefolge auf zwanzigtausend Personen berechnet wurde. Aus allen Ländern Europas waren die Fremden gekommen, auch aus Asien und Afrika, eine bunte, glänzende Menge, von welcher der große Zug in Halévy’s Oper „Die Jüdin“, mit all’ seinem theatralischen Pompe, doch nur eine schwache Vorstellung geben kann. Am Ufer des Bodensees wimmelte es von Morgens bis tief in die Nacht von müßigem, schaulustigem Volke, für welches zahllose Gaukler und Schauspieler, Zigeuner und Kunstreiter ihre Vorstellungen gaben. In langen Budenreihen hielten herzugewanderte Kaufleute hier und auf den Plätzen dieses Theiles der Stadt ihre Waaren wie auf einer großen, jahrelang währenden Messe feil; eine ganze Bretterstadt war dort, wo heute der aufblühende schweizer Ort Kreuzlingen dicht vor Constanz’ Thoren sich ausdehnt, errichtet, wo Handwerker und Juden, Bettelvolk und Dirnen ihr Wesen trieben und die Roßknechte über Tausende von Pferden wachten, welche in improvisirten Ställen mit ihren Hufen stampften.

In der ganzen Christenheit gab es damals keine Stadt, wo es so lebhaft, so lustig, so lüderlich, so schlemmerisch zuging, wie in der deutschen Reichsstadt Constanz während des Concils.

Hunderttausend Fremde, hoch und niedrig, reich und arm, hatten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 448. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_448.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)