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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

„Aber meine Mühle habe ich noch – und da will ich bleiben. Vielleicht erregt es Ihre ernstliche Mißbilligung, wenn ich Ihnen sage, daß ich von nun an mein Eigenthum selbst verwalten will; denn es sieht nach Emancipation aus, wenn ein junges Mädchen als Inhaberin einer Firma selbstständig hervortritt.“

„So falsch urtheile ich nicht; ich befürworte sogar warm diese Art von Selbstständigkeit der Frauen; ich weiß auch, daß Sie mit Ihrer Kraft und Energie sofort im richtigen Fahrwasser sein würden – aber das ist ja nicht Ihre Bestimmung, Käthe. Sie sind berufen, ein Familienglück zu begründen, nicht aber, den Kopf voll Zahlen und Berechnungen, ‚Tag für Tag‘, einsam am Geschäftspulte zu stehen. Fangen Sie lieber gar nicht an! Denn eines Tages wird man Sie wegholen und nicht danach fragen, wo Sie in den Büchern gerade mit Ihrem Soll und Haben stehen, und das könnte eine schlimme Verwirrung heben.“

Wäre nur ein einziger intensiv beleuchtender Strahl des Sternenlichtes in das Dunkel der Allee gefallen, dann hätte der Sprechende schon von diesem Augenblicke an das Mädchen nicht mehr von seiner Seite gelassen – eine so trostlose Verzweiflung malte sich in ihren Zügen –, er würde sie in seine Hut genommen und nicht gezögert haben, der eigentlichen Spur nachzugehen, die den Widerstand erklärte. So aber deckte die Finsterniß den entsetzlichen Seelenkampf, der da neben ihm, ohne Laut, ohne auch nur einen verräterischen Seufzer, durchstritten wurde, und er führte die Entmuthigung und Niedergeschlagenheit, die ihre Stimme so dumpf und eintönig machten, auf das Trennungsweh, auf die tiefe Erschütterung zurück, die der Anblick eines Sterbenden hinterläßt.

Hier und da sprang ein Kiesel mit leichtem Rasseln unter den Füßen der Weiterschreitenden auf, und das Wellengeräusch des nahen Flusses scholl stark in das augenblickliche Schweigen hinein, das auf die letzten Worte des Doctors gefolgt war. Die Linden der Allee traten zurück; der Nachthimmel breitete sich droben wieder hin, und in sein Flimmern hinein stiegen dort die zwei schlanken italienischen Pappeln, welche die Holzbrücke flankirten.

Bei diesem Anblicke drückte der Doctor unwillkürlich den Arm des jungen Mädchens an sich. „Dort, Käthe!“ flüsterte er innig. „Dort haben Sie stets die ersten Veilchen gesucht; ich habe Ihnen versprochen, daß Sie das immer dürften, und ich kann Wort halten – ich werde meine Osterferien stets hier verleben.“

Käthe preßte die geballte Rechte auf die Brust; sie glaubte ersticken zu müssen an dem heftigen Schlagen ihres Herzens, und doch fragte sie nach einer kuzen Pause anscheinend gelassen: „Die Frau Diakonus wird Sie nach L…g begleiten?“

„Ja, sie will meinem Hauswesen vorstehen, so lange ich noch allein sein werde. Sie bringt mir ein großes Opfer und wird Gott danken, wenn sie den Staub der großen Stadt wieder von den Füßen schütteln und in ihr geliebtes grünes Heim hierher zurückkehren darf. Ich weiß, das edle, brave Herz, um das ich werbe, wird sie nicht allzu lange auf die Ablösung von ihrem Posten warten lassen,“ setzte er mit weicher, bittender Stimme hinzu.

Ein Licht in der Mühle tauchte vor ihnen auf. Dort hatten sie heute den Müller Franz hinausgetragen. Der Verunglückte hinterließ eine Wittwe und drei Waisen. Das Dach, das sie noch beschützte, gehörte ihnen nicht, und das, was der fleißige Mann erarbeitet und gespart hatte, genügte nicht zu ihrem Hinterhalte. Suse war heute für einen Moment in der Villa gewesen, um nach ihrer Herrin zu sehen. Sie hatte Käthe die Verzweiflung der Hinterlassenen als herzzerreißend geschildert und dabei den Wirrwarr bejammert, in den „das herrenlose Geschäft“ mit jeder Stunde tiefer gerathe.

Das Bogenfenster der Familienstube im Erdgeschoß, das nach dem Park hinausging, war dunkel. Schwarz und ungestalt ragte der Gebäudecomplex der Mühle in die Luft; sie lag so einsam, so weltverlassen da; das Gebell der Hofhunde, die beim Geräusch der näherkommenden Schritte anschlugen, klang verloren wie in eine öde, endlose Weite hinein. Die Räderarbeit schwieg, und der Mühlenraum stand so leer, so feierlich unbelebt, als hätte, seit dem Erkalten der freudig hier schaffenden Menschenhand, ein geschäftiges Heinzelmännchen nach dem andern die Kappe über das vergrämte Gesicht gezogen und sich davon geschlichen.

Der Doctor zog das junge Mädchen näher an sich, ehe er die Mauerpforte öffnete. „Mir ist, als führte ich Sie in die Verbannung,“ sagte er zögernd und gepreßt. „Sie sollten mir den Schmerz nicht machen, Sie gerade heute in diesen dunklen schweren Stunden allein zu wissen. Kommen Sie mit mir! Die Tante wäre überglücklich, Sie aufnehmen und mütterlich verpflegen zu dürfen.“

„Nein, nein!“ stieß sie hastig heraus. „Glauben Sie ja nicht, daß ich mich nutzlosem Jammer leidenschaftlich hingebe, wenn ich allein bin – ich habe nicht einmal Zeit dazu, und ich will auch nicht. Ich muß dort“ – sie zeigte nach dem Bogenfenster, wo jetzt hinter dem Kattunvorhange ein matter Lampenschein aufdämmerte – „sofort als Trösterin eintreten – die vier armen Menschen sind auf meine Kraft, meinen Beistand angewiesen.“

„Liebe, liebe Käthe!“ sagte er und zog mit beiden Händen ihre Rechte gegen seine Brust. „So gehen Sie denn in Gottes Namen! Ich würde es für eine schwere Sünde halten, Sie zu beirren, die Sie so tapfer den harten, aber unfehlbaren Weg zur Ueberwindung unfruchtbaren Schmerzes wählen. Seien Sie aber in der ersten Zeit nicht ebenso streng gegen sich als Reconvalescentin! Tragen Sie die schützende Binde noch einige Tage auf der verheilenden Wunde, dann fort damit! Und nun: zu Ostern, wenn die letzten Winternebel fliehen, wenn Schnee und Eis thauen, darin gehen auch die Menschenherzen auf; zu Ostern, da komme ich wieder. Bis dahin gedenken Sie eines Fernen, eines sehnsüchtig Harrenden, und lassen Sie Verleumdung und Mißtrauen nicht zwischen uns treten!“

„Nie!“ Dieses eine Wort brach fast wie ein Aufschrei aus ihrer Brust. Sie entzog ihm die Hand, die er an seine Lippen preßte; dann rasselte die Mauerthür hinter ihr zu. Sie that keinen Schritt vorwärts, an die kalte, feuchte Mauer gedrückt, und das Gesicht in den Händen vergraben, horchte sie athemlos auf seine verhallenden Tritte. Was war Henriette’s Sterben gewesen gegen die Qualen ihres wildschlagenden Herzens, das weiterleben mußte! Sie lauschte, bis die weiche Nachtluft lautlos an ihr vorüberstrich; dann ging sie starren, thränenlosen Auges in das Haus, um ihre Mission als Trösterin und Versorgerin zu beginnen.

Drei Tage später, sofort nach Henriettens Beerdigung verließen Doctor, Bruck und die Tante Diakonus die Residenz. Ihn hatte Käthe nicht wieder gesehen, aber die Tante war wiederholt stundenlang bei ihr gewesen. An demselben Tage reiste auch Flora in Begleitung der Präsidentin ab. Die alte Dame begab sich in ein stärkendes Bad, und Flora ging nach Zürich, wo sie, wie man sich in der Residenz erzählte, behufs medizinischer Studien eine Zeitlang leben wollte.




29.

Mehr als ein Jahr war vergangen seit jenem Märztage, wo Käthe Mangold, die Enkelin und einzige Erbin des reichen Schloßmüllers, auf dem Fahrwege von der Stadt her geschritten war, um sich im Hause ihres Vormundes in ihrer neuen Eigenschaft als „Goldfisch“ vorzustellen.

Wer jetzt, von der mit eleganten Villen besetzten Chaussee abbiegend, diesen Weg betrat, der sah rechts, und zwar ebenfalls an der Chausseelinie hin, eine Reihe hübscher kleiner Häuser liegen; sie gehörte den Arbeitern der Spinnerei und stand im ehemaligen Mühlengarten, auf dem Grund und Boden, den Käthe ihrem Vormund für die Leute abgetrotzt hatte. Und die Bewohner der Residenz gingen so gern da vorüber. Früher hatte sich hier die alte, dicke, das Mühlengrundstück begrenzende Mauer aufgethürmt – in ihrem tiefen Schatten war der Fußsteig selten trocken geworden; er war als grundlos verrufen gewesen. Nun dehnte sich hier plötzlich eine anmuthige, mit Kugelakazien bepflanzte Promenade hin. Die kleinen Häuser sahen so nett und holländisch sauber aus mit ihrem fleckenlosen Oelanstriche, der luftigen Veranda neben der Hausthür und dem schmalen Vorgarten, der schon im Herbst mit allerlei Reisern schönblühender Gebüsche besetzt worden war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 410. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_410.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)