Seite:Die Gartenlaube (1876) 330.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

werden. Aus der Stadt wurden Korbwannen voll „Theaterstaat“ herbeigeschleppt – die Darsteller sollten sich in der Villa costümiren. Friseure und Schneidermamsells rannten aus und ein, und dazwischen trabten die Gärtnergehülfen immer noch von den Treibhäusern her nach der Villa, keuchend und schweißtriefend unter der Last mächtiger Palmen, Orangen- und Gummibäume.

Bei all’ dem dumpfen Geräusche unter ihrem Zimmer war Henriette doch in einen scheinbar erquickenden Nachmittagsschlummer gesunken. Im anstoßenden Cabinete saß Nanni, die Kammerjungfer, und nähte mit flinken Händen Silberflitter auf eine Gazewolke, deren die immer noch fieberhaft arbeitenden Tapezierer drunten im Saale bedurften. Käthe öffnete leise die Thür und empfahl dem Mädchen, wachsam zu sein und das Zimmer nicht zu verlassen, bis sie zurückkehre – dann ging sie hinab, um in der Mühle verschiedene Anordnungen zu treffen.

Sie vermied es, den Hauptcorridor zu betreten – er wimmelte von ab- und zugehenden Menschen – und bog in den neben dem Saale hinlaufenden Gang ein. Er war weniger belebt, aber in der schmalen Thür, auf die er mündete und welche in’s Freie führte, stand der Commerzienrath, den Strohhut auf dem Kopfe und augenscheinlich im Begriff, nach dem Thurme zu gehen. Er gab dem Lakai Anton, der ihn speciell bediente und deshalb mit ihm die Ruine bewohnte, einige in der Stadt zu besorgende Aufträge. „Lasse Dir Zeit!“ rief er dem Forteilenden nach. „Erst nach sechs Uhr will ich mich umkleiden.“

Käthe schritt leise und langsam weiter; sie hoffte, er werde nun auch die Schwelle verlassen und in den Garten hinaustreten, allein er schob mechanisch die Hände in die Seitentaschen seines leichten Ueberziehers und ging nicht. Zu seinen Füßen liefen einige Stufen hinab; er stand ziemlich hoch und konnte von da aus ein bedeutendes Stück seines herrlichen Parkes übersehen, und das fesselte ihn offenbar an seinen Platz. Hatte er denn noch nie diesen Anblick in seiner überraschenden Schönheit so empfunden wie jetzt, wo die Spätnachmittagsbeleuchtung, in die sich bereits rosige Tinten des Abendlichtes stahlen, darüber hinfloß? … Immer wieder zeigte die Bewegung seines Kopfes, daß er die Augen rundum schweifen lasse, aber das junge Mädchen sah auch, daß sein Oberkörper unter fliegenden, gepreßten Athemzügen förmlich bebte; sie sah, wie sich seine Hände in den Taschen krampfhaft ballten, wie die Rechte plötzlich aufzuckend nach der Stirn fuhr und sich über die Augen legte. Er kämpfte jedenfalls mit dem Unwohlsein, über welches er heute Morgen geklagt und das er standhaft verbiß, um die Abendfestlichkeiten nicht zu stören.

Sie trat jetzt geflissentlich fester auf, und bei dem Geräusche fuhr er herum.

„Dein Kopfweh hat sich verschlimmert?“ fragte sie theilnehmend.

„Ja – und ich habe in diesem Augenblicke wieder einen beängstigenden Anfall von Schwindel gehabt,“ antwortete er mit unsicherer Stimme und drückte sich den Hut tiefer in die Stirn. „Kein Wunder! Hätte ich eine Ahnung gehabt von den tausend Widerwärtigkeiten, die mit dieser Polterabendfeier verknüpft sind, ich hätte ganz gewiß davon abgesehen,“ setzte er gefaßter, aber auch mit einer ihm sonst fremden Art von Poltern hinzu. „Diese bornirten Handwerkerköpfe haben in meiner Abwesenheit Alles verkehrt gemacht; sie haben mich und meine Intentionen nicht begriffen, und was sie in einer vollen Woche zusammengekleistert und ‑genagelt haben, das mußte heruntergerissen und in Zeit von zwölf Stunden neu hergestellt werden. Nun haben wir den Lärm und die beispiellose Hetzerei bis auf den letzten Moment, wo die Gardine in die Höhe gehen soll.“

Er stieg die Stufen herab, langsam und zögernd, als schwimme bereits Alles wieder vor seinen Augen.

„Soll ich zurückgehen und Dir ein Glas Selterswasser holen?“ fragte sie, auf der Schwelle stehenbleibend. „Oder wäre es nicht besser, den Arzt zu holen?“

„Nein – ich danke Dir, Käthe,“ versetzte er in seltsam weichem Tone, und sein feuchter Blick überflog schimmernd, wie messend das schlanke Mädchen, das seiner Besorgniß so ungekünstelt Ausdruck gab. „Uebrigens irrst Du sehr, „wenn Du meinst, Bruck sei so leicht erreichbar. Der läßt sich von seiner Praxis hetzen bis zum letzten Augenblick; ich glaube, man wird ihn übermorgen vom Krankenbette zur Trauung holen müssen.“ Ein sarkastisches Lächeln, als mache er sich innerlich über die ganze Welt lustig, flog über seine Lippen. „Das beste Mittel habe ich selber“ – sagte er gleich darauf – „meinen kühlen Thurmkeller. Ich bin eben im Begriffe, hinüberzugehen und die Weine für heute Abend herauszugeben; die frische Kellerluft wird wirken wie eine kühlende Compresse.“

Käthe knüpfte die Hutbänder unter dem Kinne fester und trat heraus auf die Thürstufen.

„Und Du gehst noch in die Mühle? Hoffentlich nicht weiter?“ meinte er, nach seiner Uhr sehend; diese einfache Frage klang so nachlässig hingeworfen, und doch kam es Käthe vor, als stocke der Athem dabei.

Die Stufen herabsteigend, sagte sie ihm, was sie nach der Mühle führe, dann ging sie mit einem freundlichen Kopfneigen über den Kiesplatz, während der Commerzienrath die Richtung nach dem Thurme einschlug. Hinter dem ersten Strauche des nächsten Boskets sah sie noch einmal unwillkürlich nach ihm hinüber; er war unverkennbar leidender, als er eingestehen mochte. Schon wieder ging er zögernd, wie mit einknickenden Knieen; er hatte den Hut in den Nacken geschoben, als stürme ihm die Fiebergluth abermals nach dem Kopfe, und seine Augen irrten ziellos über den Park hin.

Jetzt brauste es auch ihr durch das Gehirn; ein dunkles Angstgefühl überkam sie. Der kranke Mann mit dem unsicheren Gebahren allein im Thurmkeller! Wie ein Fiebergespenst jagte der grauenhafte Gedanke, der sie einst angesichts der Ruine gepackt, an ihr vorüber. „Ich bitte Dich, Moritz, sei vorsichtig mit dem Kellerlicht!“ rief sie ihm angstvoll zu.

War er zu tief im Nachgrübeln versunken gewesen, oder hatte sich bereits jene nervöse Reizbarkeit seiner bemächtigt, die vor jeder lauten Menschenstimme erschrickt: er fuhr wild empor, als habe ihn ein Schuß getroffen.

„Was willst Du damit sagen?“ rief er heiser zurück. „Wie? Siehst Du Gespenster am hellen Tage, Käthe?“ setzte er gleich darauf hinzu; er brach in ein schallendes Gelächter aus, das etwas tief Beschämendes für die jugendliche Warnerin hatte, und verschwand mit einem spöttisch grüßenden Handwinken und sehr stramm gewordener Haltung im nächsten Laubgange.

Kaum eine halbe Stunde später ging Käthe am Flusse hin. Die Geschäfte waren erledigt, und so viel Zeit blieb ihr noch, verstohlen das alte, liebe Doctorhaus wiederzusehen. Wie schlug ihr das Herz, als sie durch das bewegliche Laub der Uferbirken die in der Sonne glühenden Wetterfahnen flimmern sah! Wie erschrak sie bei jedem verrätherischen Knirschen des Sandgerölles unter ihren Füßen! Sie kam wie eine Vertriebene, die einen letzten Blick in das gelobte Land werfen will. Und nun lehnte sie an der Pappel, die den Holzbogen flankirte – an dieser Stelle hatte Sie das letzte unverwischliche Bild in ihre Seele aufgenommen; wie aus Goldgrund hatten sich die lauschenden Kinderköpfchen neben der Hausecke draußen von der strahlenden Landschaft abgehoben, und dort an dem Gartentische war der kraftvolle, strenge Mann in unbegreiflicher Gemüthserschütterung zusammengebrochen.

Jetzt war es still auf dem tiefbeschatteten Rasengrunde. Die Obstbäume, die sie in prangender Maienfrische gesehen, bogen sich unter der Last ihrer Früchte, die gelb und rothbackig das unscheinbar gewordene Laub überstrahlten und die Lüfte mit dem köstlichen Aroma der Reife erfüllten, und am Weinspalier des Hauses hing der vielgerühmte Traubenreichthum in tiefer Bläue. Nur einen einzigen schüchternen Blick nach dem Eckfenster, wo der Schreibtisch stand! Der Doctor war ja nicht daheim; er eilte von einem Krankenbette zum andern „bis zum letzten Augenblicke“. Und in dem Zimmer wohnte er auch nicht mehr. Weiße, spitzenbesetzte Gardinen hingen hinter den Scheiben; auf dem Sims, zwischen den Töpfen mit vollblühenden Alpenveilchen, lag ein schneeweißes Kätzchen, und jetzt hoben sich zwei strickende Hände, und ein Frauenkopf mit silberweißem Scheitel unter dem sauberen Mullstrich bog sich darüber her – die alte Freundin der Tante Diakonus war bereits eingezogen. Er hatte auch diese Brücke hinter sich abgebrochen; er war reisefertig, und

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_330.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)